Seit 2007 organisiert die „Braunschweiger Initiative für eine andere Politik“ jährlich die „Braunschweiger Gramsci-Tage“. Sie bieten einen Mix aus Fachvorträgen, Workshops und kulturellen Beiträgen.
Nach den Grußworten der Veranstalter las Brigitte Jesiek zunächst Texte von Eduardo Galeano, geschrieben, „um der Geschichte ihr Leben zurück zu geben“. Den Auftakt zur inhaltlichen Diskussion machte anschließend Wolfgang Fritz Haug, der zur Frage der (fehlenden) Hegemonie in der großen Krise sprach. Eingefordert wurde vor allem eine scharfe Begriffsarbeit und Abgrenzung hegemonietheoretischer Überlegungen vom Alltagsverständnis direkter Vorherrschaft. So sei stets zu unterscheiden zwischen verschiedenen, ggf. widersprüchlichen Ebenen von Hegemonie. Zudem sollten (militär-)dominante Handlungen nicht mit Hegemonie verwechselt werden. Letztere würden eher das Gegenteil ausdrücken: nämlich schwindende Hegemoniefähigkeit, insbesondere der sich politisch zunehmend selbst blockierenden USA, die nicht mehr fähig seien, ihr „hegemoniales Opfer“ zu erbringen. Der durchgängig hohe Abstraktionsgrad des Vortrages mag – neben der freilich berechtigten analytischen Nüchternheit – mitursächlich dafür gewesen sein, dass wenig Raum für das Denken (entstehender) gegenhegemonialer Möglichkeiten blieb.
Im Anschluss referierte Klaus Dörre über die Landnahme des Sozialen. Dabei sollen Landnahmen kapitalistische Expansionen bezeichnen, die ein entweder vorhandenes oder geschaffenes Außen des Kapitalismus in Beschlag nehmen. So stelle sich aktuell der Zusammenhang zwischen finanzmarktgetriebener Akkumulation einerseits und zunehmender Prekarisierung andererseits als Landnahme bzw. Preisgabe ehemals den Kapitalismus begrenzender sozialer Rechte dar. Dieser stets auch politisch vorangetriebene Prozess gehe einher mit verschärfter Ausbeutung, welche als sekundäre (Über-)Ausbeutung Phänomene erfasse, die nicht auf Mehrwertaneignung beruhen, sondern symbolische, politische und ökologische Dimensionen berühren würden. Die sich verschärfenden gesellschaftlichen Widersprüche in der Gestalt einer umfassenden ökonomisch-ökologischen Krise, die sich zunehmend auch in nicht-normierten Konflikten äußern würden, könnten dabei sowohl Chancen als auch Gefahren für progressive Entwicklungen bergen. Zum Ausklang des Abends gab es Lieder, live vorgetragen von Roland Scull.
Der Samstagmorgen begann mit einem Vortrag Bernd Röttgers zur historischen Perspektive auf die großen Krisen des Kapitalismus und einer Replik auf das Landnahmetheorem. Nach der Überproduktionskrise 1929 und ihrer Bearbeitung durch den Fordismus sowie der Profitabilitätskrise 1974/75 und einer entsprechenden Reaktion in Form des Neoliberalismus, rechtfertige die aktuelle (Finanz-)Krise erneut die Charakterisierung als „große Krise“ im Sinne der Regulationstheorie, da die eingeschlagenen Wege zur Wiederherstellung günstiger Akkumulationsbedingungen bereits die alten Regulationsformen verlassen hätten. Neben vielen Übereinstimmungen bzgl. des Landnahmetheorems bemängelte er vor allem eine fehlende Originalität und zu große Beliebigkeit des Konzeptes. Während sein erster Kritikpunkt mindestens die erbrachte Syntheseleistung und vielfältigen empirischen Anwendungsbeispiele nicht angemessen zu berücksichtigen scheint, kann die genauere Bestimmung der einzelnen Grenzen der – im Prinzip unendlichen – Landnahmezyklen und die weitere Spezifizierung der Innen-Außen-Dialektik als Herausforderung für das Konzept begriffen werden.
Als letzter Referent spürte David Salomon der Frage nach, wie hegemonial die neoliberale Ideologie eigentlich (noch) sei. Einen kritischen und neutralen Ideologiebegriff differenzierend, schlug er vor, mit Ideologien solche Denkformen zu bezeichnen, die (de-)stabilisierende Funktionen in (hegemonialen) Formationen ausüben. Heute befände sich der Neoliberalismus als ideologisches System in einer tiefen Akzeptanzkrise, was jedoch nicht zu einer direkten Ablösung desselben führen würde, da sich erstens geronnene Handlungsimperative des Neoliberalismus in die sozialen Strukturen eingeschrieben hätten und dort Handlungskorridore nachhaltig verengen würden; zweitens könne die kollektive Unzufriedenheit noch in keinem politischen Projekt kanalisiert werden. Wahrscheinlicher wäre hingegen eine Krisenbearbeitung durch die (Re-)Vitalisierung und Radikalisierung von Ungleichheitsideologien oder eine Verschleppung der vorhandenen Widersprüche.
Den Abschluss der Tagung bildeten drei parallele Workshops. Stefan Schmalz vertiefte das Landnahmetheorem. Sabine Kebir fragte nach dem Zusammenhang von Hegemonie und Kultur. Im Seminar von Orhan Set wurden mittels textbasierter Gruppenarbeit und Diskussionen im Plenum die wichtigsten Grundbegriffe Gramscis erschlossen.
Die Diskussionen der Tagung machten vor allem eines deutlich: Wie nötig und wie scheinbar verunmöglicht zugleich ein gegenhegemoniales Projekt heute ist. Daran konnten – vorerst – auch die sich abzeichnenden Ideen für eine progressive Krisenbearbeitung nichts ändern (kurzfristig: linkskeynesianischer Green New Deal; mittelfristig: massive Umverteilungen von oben nach unten, (teilweise) Demokratisierung und Sozialisierung der Produktion; langfristig: Konversion zu einer Postwachstums- bzw. nachhaltigen Wachstumsgesellschaft). Denn diese mochten zwar in weiten Teile des erfreulich heterogen zusammengesetzten Publikums konsensfähig sein, es fehlt bis dato aber ein entsprechender „historischer Block“. Auch ist die passive Zustimmung zu überkommenden Strukturen sowie deren faktisch-restaurative Macht (noch) zu groß. Bisher konnte die Linke von der großen Krise des Neoliberalismus und der allgemeinen ideologischen Verunsicherung nicht nennenswert profitieren. Mit anderen Worten und wie Röttger es mit Gramsci herausstellte: „[W]er herrscht, kann die Krise nicht lösen, hat aber die Macht [zu verhindern], dass andere sie lösen, das heißt hat nur die Macht, die Krise selbst zu verlängern" (Gramsci, Gefängnishefte, 14, §58, 1682).
Steffen Liebig