Christine Resch/Heinz Steinert, Kapitalismus: Porträt einer Produktionsweise, 2. Auflage, Verlag Westfälisches Dampfboot, Münster 2011, 311 S., 24,90 €
Von den in den letzten Jahren erschienenen Büchern, die den lapidaren Titel „Kapitalismus“ tragen, unterscheidet sich die Arbeit von Christine Resch und Heinz Steinert durch den Zusatz, es handele sich um ein Porträt. Die anderen Schriften waren dem aus dem 19. Jahrhundert stammenden Anspruch der Anatomie verpflichtet, die die Struktur – gleichsam Skelett, Sehnen, Muskeln und Nerven – einer Gesellschaft offen legt. Das Porträt dagegen nimmt die Oberfläche – in der Regel nur das Gesicht – ernst als Ausdruck dessen, was dahinter liegen mag.
Christine Resch und Heinz Steinert – der kurz vor Erscheinen der zweiten Auflage verstorben ist – verbergen sich als Porträtisten insofern nicht, als sie wohl auch eigene biografische und lebensweltliche Erfahrungen zum Ausgangspunkt nehmen. Wenn sie z.B. erwähnen, wie im neuesten Kapitalismus die Kenntnisse und Fähigkeiten eines Reparaturhandwerkers, der bei einer Installation die Koordinaten einer Installation per Handy abrufen muss, tendenziell entwertet sind, schreiben sie offenbar aus der Perspektive von Kunden, die dessen Dienste in Anspruch nahmen. Heinz Steinert, der in Wien Philosophie, Psychologie und Literaturwissenschaften studiert hat und dort in der Psychoanalytischen Gesellschaft ausgebildet wurde, bringt nicht nur Beispiele aus seinem so herangebildeten wissenschaftlichen Fundus, sondern auch aus der Bau- und Kulturgeschichte dieser Stadt um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert.
Die Achse des Buches bildet das Verhältnis von Fordismus und Neoliberalismus. Deren Abfolge ist ein Generations-Erlebnis. Resch/Steinert weiten dies allerdings auf die Gesamtgeschichte des Kapitalismus aus. Die klassischen Elemente und Begriffe seiner marxistischen Analyse: Übergang aus dem Feudalismus, Klassen, der Terminus Produktionsweise, sind allesamt vorhanden und werden im Licht der Konstellation Fordismus/Neoliberalismus sichtbar gemacht: Die bisherige Geschichte dieser Produktionsweise läuft auf sie hin. Der Verzicht auf Anatomie führt allerdings denn auch einmal dazu, dass eine strukturelle Eigenschaft als nur aktuelles Ereignis verstanden wird: „Neoliberalismus lässt sich durch eine erneute Erweiterung des Kapitalverhältnisses charakterisieren. Neoliberalismus heißt Kommodifi-zierung von gesellschaftlichen Bereichen, die bisher nicht oder nicht in diesem Ausmaß dem Kapitalverhältnis unterworfen, also nach Prinzipien der Warenförmigkeit organisiert waren. Eine solche Strategie der Kommodifizierung hat gesellschaftliche und politische Voraussetzungen, die sich veranschaulichen lassen, wenn wir uns mit der ‚Krise’ des Fordismus beschäftigen.“ (274) Verwandlung von bisherigem Nicht-Kapital in Kapital ist aber ein Merkmal des Kapitalismus seit seiner Entstehung. Die von Resch/Steinert beobachtete Kommodifizierung ist insofern die Zurücknahme einer vorher – im „Fordismus“ – erfolgten Dekommodifizierung. Würde hierfür der Begriff Re-Kommodifizierung verwandt, wäre tatsächlich ein Spezifikum des so genannten Neoliberalismus getroffen und benannt, was der Namensbestandteil „Neo“ denn bedeuten soll.
In Exkursen mit der Überschrift „Glaubensfragen“ und „Theoriefragen“ – offenbar aus dem akademischen Unterricht entstanden – werden aktuelle Vorurteile dekonstruiert und Basis-Materialien bereitgestellt. Ein kulturalistisches Herangehen überwiegt besonders deutlich im Kapitel „Kapitalismus als Lebensweise“. Explizit suchen Resch/Steinert den Bezug zur Frankfurter Kritischen Theorie. Mit ihr teilen sie die Distanz zum Korporatismus im „Fordismus“ und auch zum Anteil der Arbeiterbewegung daran. Gegenüber dem sowjetischen und DDR-Sozialismus sehen sie dabei keinen relevanten Unterschied. Den Ausdruck „real existierend“ halten sie für ein „spöttisches Epitheton“ (21). Er geht aber auf Erich Honecker zurück, der in diesem Punkt gewiss nicht zum Spaßen aufgelegt war.
Das Porträt wird immer wieder mit aktueller Polemik kombiniert, sodass eine unruhige Darstellungsweise auf unterschiedlichen Ebenen der Relevanz entsteht. Die Umlagefinanzierung der Rente wird so kommentiert: „Die ‚demografische Katastrophe’ ist somit ein Produkt dieser Politik.“ (254) Zutreffend wird der Beginn der Krise des „Fordismus“ auf das Jahr 1973 datiert (274), dort aber ausschließlich mit der Ölkrise verbunden. Dem Begriff der „Wissensgesellschaft“ konfrontieren Resch/ Steinert den des „Beraterkapitalismus“ als zutreffender (283ff.). In Anknüpfung an Hartmut Titzes „Idee einer zyklischen ‚Überproduktion von Akademikern’“ und den daraus entwickelten Vorschlag, „historische Entwicklungen als Folge der Erfindung von neuen Berufen und Betätigungsfeldern zu verstehen“, (285) stellen Resch/Steinert die These auf, nach den Beschäftigung suchenden Theologen (erste Hälfte des 19. Jahrhunderts), Chemikern (zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts) und Medizinern (vorletzte Jahrhundertwende), für die jeweils „neue Betätigungsfelder entstanden sind“, lasse sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts „dieses Phänomen für Psychologen nachzeichnen“ (286). Im „Fordismus“ seien Techniker und Ingenieure ins Management aufgestiegen, im Neoliberalismus Betriebswirte. Diese Beobachtung regt die Überlegung an, wann deren Überproduktion entweder schon angefangen habe oder beginnen werde und wer ihnen nachfolgen wird.
Georg Fülberth