Jürgen Leibiger, Bankrotteure bitten zur Kasse – Mythen und Realitäten der Staatsverschuldung. PapyRossa, Köln 2011, 274 S., 16,90 €
Jürgen Leibiger ist es gelungen, ein gut lesbares und auch für interessierte Laien verständliches Wirtschaftsbuch vorzulegen, welches zudem mehr bietet, als es der Untertitel „Mythen und Realitäten der Staatsverschuldung“ ankündigt. Es handelt sich auch um eine auf Kernpunkte kondensierte Geschichte der Wirtschaftspolitik der Bundesrepublik Deutschland und eine prägnante Darstellung der Wirtschaftskrise seit 2007/2008.
Nach einer kleinen Einführung in die historische Bedeutung von Staatsverschuldung im Kapitalismus stellt der Autor die Entwicklung der wirtschaftspolitischen Grundorientierungen der Bundesrepublik dar, ausgehend von der Währungsreform des Jahres 1948, wobei er nebenbei mit dem BRD-Gründungsmythos aufräumt, es sei dabei gerecht zugegangen. Die folgenden Kapitel sind im Wesentlichen eine Darstellung der großen wirtschaftspolitischen Grundentscheidungen bis zur Krise 2008, wobei er in leicht nachvollziehbarer Form deutlich macht, dass es sich bei der Staatsverschuldung keineswegs um einen „intergenerativen Lastenausgleich“ (43) handelt: Ob staatliche Vorhaben über Steuern oder über Kredite finanziert werden, hänge vor allem mit dem politischem Willen bzw. mit politischen Prioritäten zusammen. Dabei wird an mehreren Stellen deutlich, dass Leibiger die Kreditfinanzierung von öffentlichen Investitionen – abgesehen von Perioden konjunktureller Krisen – eher für eine schlechte Idee hält: „Hohe Schuldenquoten implizieren eine hohe Abhängigkeit von den Finanzmärkten und einen hohen Schuldendienst zugunsten der Banken und vermögender Schichten.“ (175)
Der Frage des Für und Wider von Staatsverschuldung ist der zweite, kleinere Teil des Buches gewidmet. Indem er die verschiedenen Formen der Staatsverschuldung analysiert, räumt er insbesondere mit dem Mythos des ‚über die Verhältnisse Lebens’ auf: Dies gelte nur für die Fälle, in denen ein Gemeinwesen nach außen verschuldet ist. „Das hier charakterisierte Gemeinwesen kann schwerlich über seine Verhältnisse leben, wenn der Staat nur nach innen, seinen Bürgern gegenüber verschuldet ist.“ (172) Dies dürfte im Übrigen ebenso für die private Verschuldung von Unternehmen gelten – womit sich das Buch aber nicht befasst. Staatsschuldenkrisen, meint der Autor, träten vorwiegend dann zutage, wenn es sich um Verschuldung gegenüber dem Ausland handelt. Ob die aktuelle Staatsschuldenkrise und ihr Verlauf vorwiegend mit objektiven Schuldenkennziffern – sei es der inneren, sei es der äußeren Verschuldung – zu erklären ist, wozu Leibiger letzten Endes neigt, dürfte aber durchaus diskussionswürdig sein. In einer aufschlussreichen Tabelle (192) vergleicht er eine Reihe von Schuldenkennziffern von Staaten, wobei interessante Widersprüche deutlich werden: Am schlechtesten (nach Irland, Griechenland und Portugal) steht scheinbar Japan da, es hat demnach ein höheres Insolvenzrisiko als die USA, muss aber die niedrigsten Zinsen (leider fehlen Angaben für die inflationsbereinigten Realzinsen) von allen Ländern zahlen. Ob dies, wie der Autor meint, wirklich nur auf die niedrige Auslandsverschuldung zurückzuführen ist, darf bezweifelt werden: Österreich und Finnland haben z.B. eine rekordverdächtig hohe Auslandsverschuldung, gelten aber trotzdem als solide finanziert. Am irritierendsten aber ist der Vergleich zwischen Italien, Spanien und Frankreich: Frankreich schneidet bei fast allen Kennziffern deutlich schlechter ab als die beiden südlichen Sorgenkinder, gilt aber nach wie vor als Hort der Stabilität und spielt sich zusammen mit Deutschland als Zuchtmeister der EU auf. Italien hat relativ eine deutlich geringere Auslandsverschuldung als Frankreich (und sogar Deutschland) und ist – Überraschung, Überraschung – das einzige Land, welches praktisch kein Primärdefizit aufweist. Gleichwohl muss Italien auf den Finanzmärkten deutlich höhere Risikoprämien entrichten als Frankreich, obwohl das aus den Kennziffern kondensierte „Insolvenzrisiko“ Italiens niedriger ist als jenes Frankreichs – von Japan und den USA ganz zu schweigen. Es liegt auf dem gleichen Niveau wie die Triple A-Länder Finnland und Österreich. Unter den aktuellen Pleitekandidaten stünde Irland gemessen an den Schuldenkenziffern viel schlechter da als Griechenland – tatsächlich aber gilt Irland im Vergleich zu Griechenland und Portugal als weniger gefährdet. Leibigers Behauptung: „Immerhin aber geben die Werte für das relative Insolvenzrisiko einen deutlichen und realistischen Fingerzeig über die Verschuldungskrise der jeweiligen Länder“ (193) wird durch die Realität nicht gedeckt. Es liegt die Vermutung nahe, dass die Finanzmärkte – und das sind wenige große ‚systemrelevante’ Investoren – und deren politische Einschätzungen eine viel größere Rolle spielen als vermeintlich ‚objektive’ Verschuldungskennziffern. Das heißt natürlich nicht, und hier ist Leibiger wieder zu folgen, dass Höhe und Struktur der Staatsverschuldung irrelevant wären. Er kritisiert die Neigung vieler Linker, Staatsverschuldung auf die leichte Schulter zu nehmen: „Eine wachsende Schuldenquote darf auch im Interesse der arbeitenden Bevölkerung nicht bagatellisiert werden.“ (259) Trotzdem lehnt er die Schuldenbremse und andere Regelungen zur Begrenzung der öffentlichen Verschuldung vehement ab, vor allem weil diese den Spielraum von Ländern und Gemeinden einengt. Diese haben faktisch keine Möglichkeit, sich über die Einnahmeseite zu entlasten – sie sind, anders als der Bund, gezwungen, auf Schuldenregeln durch einseitige Ausgabenkürzungen zu reagieren.
Seine insgesamt skeptische Haltung gegenüber Staatsschulden und sein Plädoyer für die Staatsfinanzierung über Steuern (vor allem auf große Einkommen und Vermögen) begründet der Autor vor allem mit der Rolle öffentlicher Schulden bei der Akkumulation von Finanzvermögen. Die Staatsverschuldung wäre demnach auch ein Moment, welches die derzeit zu beobachtende Hypertrophie der Finanzmärkte mit angetrieben hat.
Damit eröffnet der Autor eine interessante Debatte auch innerhalb der Linken, welche Staatsschulden gegenüber meistens deutlich weniger skeptisch ist. Zwar deutet er an: „Zusammenfassend lässt sich sagen, dass in der Diskussion über das Für und Wider eines Defizit Spending eine Reihe von Aspekten häufig ungenügend berücksichtigt wird. Dazu gehören die Unterscheidung von innerer und äußerer Verschuldung, die soziale Stellung der Gläubiger und ihre spezifischen Interessen, die Differenziertheit der Steuern (…) und der differenzierte Charakter von konsumtiven und investiven Staatsausgaben.“ (263) Dem ist unbedingt zuzustimmen. Aber gerade deshalb müsste stärker über die konkreten Formen der öffentlichen Kreditaufnahme und nicht nur über deren Höhe diskutiert werden. Denn es gibt mehr Möglichkeiten als nur die vom Autor behandelte Alternative zwischen der Verschuldung über die Finanzmärkte einerseits und der Verschuldung bei der Notenbank andererseits. Es existieren auch andere Formen öffentlicher Kreditaufnahme, bei denen sich der Staat unmittelbar bei den Bürgern verschuldet, ohne Umweg über die Finanzindustrie. Leider ist das etwas in Vergessenheit geraten: Schon Ende der 1970er und Anfang der 1980er Jahre hatte die Arbeitsgruppe ‚Alternative Wirtschaftspolitik’, auch als ‚Memorandumsgruppe’ bekannt, intensiv über zinsgünstige Alternativen zur Staatsverschuldung über die Kapitalmärkte diskutiert (insbesondere im Memorandum 1978, 1980, 1982 und 1983). Leibigers Buch sollte also dazu anregen, die Frage der Staatsverschuldung innerhalb der Linken wieder differenzierter zu behandeln. Der von den Neoliberalen erfolgreich zum Sozialabbau genutzten Verteufelung von öffentlichen Schulden kann nicht bloß der Hinweis auf deren prinzipielle Harmlosigkeit entgegen gesetzt werden.
Zum Schluss ein technischer Hinweis: Sollte sich – was zu wünschen wäre – die Gelegenheit zu einer zweiten Auflage ergeben, so sollten die zahlreichen Grafiken nochmals kritisch durchgesehen werden: Nicht alle erschließen sich dem Leser problemlos, zumindest Abbildungen 11 und 25 sind unklar bzw. fehlerhaft, auf Seite 13 ist wohl ein Komma verrutscht (17 statt 1,7).
Jörg Goldberg