Andrej Holm/Dirk Gebhardt, Initiativen für ein Recht auf Stadt: Theorie und Praxis städtischer Aneignungen, VSA, Hamburg 2011, 286 S., 19,80 €
Bernd Belina u a. (Hrsg.),Urbane Differenzen. Disparitäten innerhalb und zwischen Städten, Westfälisches Dampfboot, Münster 2011, 251 S., 25,90 €
5.000 Menschen, die in Berlin gegen Wohnungsmangel und Mietenexplosion demonstrieren und die Gentrifizierung ihrer „Kieze“ damit erfolgreich zum Thema machen – das lässt aufhorchen. Und dieser Protest ist kein Einzelfall. Vielerorts haben sich „Recht auf Stadt“-Netzwerke gegründet. Die Kämpfe um die Stadt stoßen auf zunehmendes Interesse, die Medien berichten und die Parteien reagieren mit – mehr oder weniger tauglichen – Vorschlägen zur Verbesserung der Wohnsituation.
Dies alles findet vor dem Hintergrund einer zunehmenden Polarisierung in den Städten und der nicht mehr zu leugnenden Existenz abgehängter Stadtteile statt. In dieser Situation legen zwei linke Verlage Sammelbände vor, die das Thema aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchten.
Andrej Holm und Dirk Gebhardt versammeln in „Initiativen für ein Recht auf Stadt“ Beiträge, die auf eine Fachsitzung beim 51. Geographentag 2009 in Wien zurückgehen. Im Mittelpunkt des Buches stehen die gegenwärtigen Forderungen und Kämpfe marginalisierter städtischer Gruppen, die in unterschiedlichen Graden als soziale Bewegung organisiert sind.
Bernd Belina und andere legen mit „Urbane Differenzen“ den mittlerweile neunten Band der Reihe „Raumproduktionen: Theorie und gesellschaftliche Praxis“ vor. Ihr Thema sind nicht die Kämpfe selbst, sondern die umkämpften Themen: Sie analysieren Zustandekommen und Folgen von Disparitäten innerhalb und zwischen Städten und Stadtregionen und diskutieren den wissenschaftlichen und politischen Umgang damit.
In ihrer Einführung erläutern die beiden Herausgeber Holm und Gebhardt kurz das Stichwort „Recht auf Stadt“, auf das sich weltweit neue städtische Protestbewegungen beziehen. Ihre berechtigte Frage lautet, „welchen Mehrwert [...] ein Konzept aus den 1960er Jahren für die aktuellen Auseinandersetzungen in den Städten“ (Initiativen, 7) haben kann. Ist es doch verwunderlich, dass sich heute so viele auf die mehr als 40 Jahre alte Forderung des französischen Philosophen und Kommunisten Henri Lefèbvre beziehen, der dieses Recht in seinem Text „Le droit à la ville“ von 1968 erstmals beschrieb. Um diese Frage zu beantworten, begeben sich Autoren/innen des Buches auf eine interessante Spurensuche zu den Anfängen der Debatten und Bewegungen auf das Recht auf Stadt.
Mit der Verwendung des alten Slogans verbindet sich die Hoffnung auf soziale Mobilisierungen und neue Bündnisse, und – man staunt – es scheint zu funktionieren. Das mag auch daran liegen, dass der Begriff offen für verschiedene Perspektiven ist und Lefebvre keine geschlossene Theorie vorgelegt hat, sondern vielmehr eine „Einladung zu einer spezifischen Perspektive auf Stadt und städtische Entwicklung“ (Initiativen, 13) – so Holm und Gebhardt. Dieser Einladung folgen sowohl Gruppen, die eine grundsätzlich andere Stadt erkämpfen wollen, als auch solche, die reformpolitische Forderungen erheben. Und die Beiträge dieses Sammelbandes zeigen, dass ein zentraler Erfolgsfaktor eben dieser plurale Charakter der jeweiligen Bündnisse ist, in denen sich ganz verschiedene Teile der von der neoliberalen Stadt Betroffenen zusammenfinden.
Margit Mayer stellt in ihrem informativen Beitrag das Auftauchen des „Recht auf Stadt“-Mottos in den Kontext der historischen Entwicklung städtischer Bewegungen und arbeitet relevante Unterschiede in der Praxis und in den Zielen der Bewegungen heraus. Ihre nüchterne wie realistische Bilanz sieht zwar einzelne Erfolge zugleich aber das „Risiko der Kooptation bzw. partiellen Integration von Bewegungsorganisationen in ein neoliberales Urbanitätsmodell“. (Initiativen, 69) Daher wirft sie die allzu berechtigte Frage auf, „ob hiesige Bewegungen sich für das Recht auf Stadt nicht stärker auf die Kämpfe der vom Modell der neoliberalen Stadt Ausgegrenzten beziehen müssten: die der zunehmend Enteigneten an den Rändern dieses Modells im globalen Norden, sowie die städtischen Kämpfe im globalen Süden.“ (Initiativen, 54f.)
Die weiteren durchweg lesenswerten Beiträge beleuchten europäische und außereuropäische Beispiele für Kämpfe und stellen ganz verschiedenartige Bewegungen und Themen vor: geographisch reicht der Bogen von Hamburg über Istanbul bis Buenos Aires; thematisch von den Landbesetzungen des Movimento dos Trabalhadores Sem Teto (MTST) in Brasilien über die Kämpfe der New Working Class Organizing (NWCO)-Organisationen in den USA bis hin zu den Protesten der Sexarbeiter/innen in Madrid und dem alltäglichen Ringen der Straßenhändler/innen in Dhaka um die Aneignung des öffentlichen Straßenraums.
Die Autoren/innen des zweiten hier vorgestellten Sammelbandes hinterfragen auf ganz unterschiedlichen Themenfeldern die „Herstellung und den Umgang mit sozialräumlichen Unterschieden in der Stadt“. (Differenzen, 9) Die zehn Beiträge leuchten die Disparitäten innerhalb (Teile I und II) und zwischen den Städten (Teil III) aus. Ob Arbeitsmärkte, Grünflächen oder das Strafrecht, es ist durchweg erhellend, welche Erkenntnisse die Autoren/innen gewinnen.
So stellt beispielsweise Klaus Brake in seinem Beitrag über „wissensintensive Ökonomie und neuartige Inwertsetzung städtischer Strukturen“ plausibel dar, dass die „ungewohnte neuerliche Attraktivität von Städten“ (Differenzen, 69) keine kurze Episode sei, sondern ein Prozess mit voraussichtlich dauerhafter Wirkung. Basis dieser Entwicklung sei eine „aktiv artikulierte neuartige Stadtaffinität bestimmter flächennutzender Aktivitäten einer wissensintensiven Ökonomie und interdependenter Reproduktion.“ (Differenzen, 90) Für die Städte gebe es – so Brake – „keine Alternative dazu, sich aktiv und eigennützig mit den Entwicklungspotenzialen einer wissensintensiven Ökonomie und interdependenten Reproduktion auseinander zu setzen.“ (Differenzen, 82)
Er weist aber auch auf die Risiken dieser Entwicklung hin und warnt davor, die kreative wissensintensive Ökonomie „als Idylle“ (Differenzen, 86) misszuverstehen. Diese neuartige Inwertsetzung städtischer Ressourcen vollziehe sich in verschiedener Hinsicht „selektiv“ (Differenzen, 86). Die Stichworte sind Polarisierung, Selektivität, Gentrifizierung und Segregation. „Wer den uns angedienten ‚Urbaniten’ also verstanden wissen sollte als eine Reinkarnation des harmlosen ‚Flaneurs’, sollte sich nicht wundern, wenn er sich praktisch als Egoist der Stadtaneignung entpuppt.“ (Differenzen, 88) – so seine Mahnung.
Andrej Holm setzt sich an den Beispielen London, Berlin und Amsterdam mit den unterschiedlichen Formen einer Wohnungsprivatisierungspolitik und ihren Folgen auseinander und stellt fest, dass sich die Versorgungsmöglichkeiten ökonomisch benachteiligter Haushalte durch die Zuweisung öffentlicher Wohnungen in allen drei westeuropäischen Großstädten infolge der Privatisierungen deutlich reduziert hat.
Carsten Keller zeigt in einer informativen Gegenüberstellung benachteiligter Stadtgebiete in den USA und in Frankreich auf, dass man es in beiden Fällen – bei aller Unterschiedlichkeit solcher Stadtgebiete in beiden Ländern – typischerweise „mit sozialen und ethnischen Ausgrenzungen zu tun hat, die sich im Raum überlagern.“ (Differenzen, 239) Das Verhältnis des Staates gegenüber den Minderheiten stelle einen „Schlüssel zu den ethnischen und ethnisierten Unruhen“ dar (Differenzen, 241), die „Konstellation rivalisierender ethnischer Gruppen eines Wohngebietes“ (Differenzen, 243) einen möglichen zweiten Ausgangspunkt für die Eskalation von Konflikten.
Durch ihre unterschiedlichen Fragestellungen ergänzen sich beide Veröffentlichungen und bieten damit zusammen einen guten aktuellen Überblick über die Vielfalt der Bewegungen und die Breite der Themen einer Stadtpolitik von links, einer Stadtpolitik, die „den Menschen das Recht auf die Mitwirkung bei allen Entscheidungen, die die Produktion von urbanem Raum betreffen“ (Initiativen, 266), verschaffen will – wie Adrian Mengay und Maike Pricelius dies in ihrem Beitrag über die Kämpfe in Brasilien zusammenfassen.
Hans Günter Bell