Susan Buck-Morss, Hegel und Haiti. Für eine neue Universalgeschichte, Suhrkamp, Berlin 2011, 221 S., 16,00 €
Die Linken halten ihn für subversiv, die Rechten für einen Anwalt der Staatsräson und die Postmodernen möchten den Geschichtsphilosophen Hegel ob seiner vermeintlichen Gemeingefährlichkeit am liebsten zum toten Hund erklären – man sieht: Das Hegelsche Erbe wurde in den zurückliegenden 180 Jahren arg strapaziert. Als Königsdisziplin akademischer Philosophie füllt Hegelliteratur ganze Bibliotheken und natürlich sind selbst über die Wasserzeichen seiner Manuskriptblätter schon gelehrte Abhandlungen erschienen. Auf die Idee, den schwäbelnden Philosophen mit Haiti in Verbindung zu bringen, ist allerdings sehr lange Zeit niemand gekommen. Die New Yorker Philosophin Susan Buck-Morss kann sich über so viel Ignoranz nur wundern, stellt aber mit ihrem endlich auf deutsch erschienenen Essay „Hegel und Haiti“ eindrucksvoll unter Beweis, dass es wirklich allerhöchste Zeit wurde, sich Hegel als Teil jener Weltöffentlichkeit vorzustellen, die von der Revolution in Saint-Domingue auf die eine oder andere Art tief geprägt wurde.
Erstaunlich, das wird nach der Lektüre der deutschen Übersetzung von „Hegel, Haiti, and Universal History“ klar, ist weniger die Tatsache, dass Hegel als aufmerksamer Zeitgenosse von der bis dato ersten erfolgreichen Sklavenrevolution der Geschichte gewusst hat und auch beeinflusst wurde. Erklärungsbedürftig ist vielmehr die lange Geschichte der Verleugnung, die es fertig gebracht hat, Haiti und seine Revolution derart aus der Historiographie zu expedieren, dass Kulturkämpfer wie Samuel Huntington irgendwann ernsthaft behaupten konnten, Haiti sei für die Geschichte der Zivilisation im Grunde „nebensächlich“. Im absoluten Gegensatz dazu hält die Walter-Benjamin-Forscherin Buck-Morss die haitianische Revolution für eine entscheidende „Bruchstelle“ in der Geschichte menschlicher Freiheit. Folgerichtig beschäftigt sie sich im zweiten Essay des Buches („Universalgeschichte“) nicht nur mit den Reaktionen auf ihren ersten Essay aus dem Jahre 2000, sondern auch mit der Bedeutung, die es heutzutage hat, sich im Anschluss an Hegel und C.L.R. James, Marcus Rediker, Peter Linebaugh und anderen die Geschichte der haitianischen Revolution zu vergegenwärtigen. Entstanden ist auf diese Weise ein Buch, das packender als ein Detektivroman, aufklärerischer als jedes Textbook und politisch fast so ermutigend wie die Kraft der Negation ist.
Zum detektivischen Spürsinn der Autorin: Unstreitig ist es Hegels Bestreben als Geschichtsphilosoph gewesen, seine Zeit in Gedanken zu erfassen. Zu seiner Zeit gehörte aber nicht nur die Französische Revolution (mit der Hegel in seiner Tübinger Studentenzeit bekanntlich offen sympathisiert hat), sondern eben auch der 1791 ausgebrochene Aufstand auf den Zuckerplantagen von Saint-Domingue, eine Kolonie, die als damals profitabelste der Welt eine Hauptquelle französischen Wohlstands war. Hegel hat – beispielsweise über das von ihm aufmerksam studierte Intellektuellenzirkular „Minerva“ – von der haitianischen Revolution und ihrem Sieg im Jahre 1804 nicht bloß gewusst. Ihm war auch klar, was für einen unerhörten Skandal diese Selbstbefreiungsgeschichte für das Europa der weißen Herren bedeutet hat. Hat die haitianische Revolution den Verfasser der ‚Phänomenologie des Geistes‘ 1805/1806 eventuell sogar zur Dialektik von „Herr und Knecht“ angeregt? Hegelspezialisten halten den Indizienbeweis von Buck-Morss für reichlich waghalsig, gegenüber den herkömmlichen Erklärungen (Hegel habe sich in der Ideengeschichte oder „abstrakt“ bei seiner Phantasie bedient), genießt er aber immerhin den Vorzug größerer Plausibilität. Warum sollte ausgerechnet „Hegel der blindeste unter all den blinden europäischen Philosophen der Freiheit“ und damit jener Ignorant gewesen sein, zu dem ihn die Heerscharen von Hegelkennern mit ihrer Vernachlässigung des Themas unwissentlich, aber de facto stempeln?
Hegel könnte, diese Möglichkeit räumt auch Buck-Morss nach genauer Prüfung vieler späterer Hegel-Äußerungen (etwa über das südsaharische Afrika, das er in seiner Gesamtheit für ein „Kinderland“ hielt) ein, durchaus ein biologistischer Rassist gewesen sein. Klar sei aber darüber hinaus, „dass Hegel trotz aller Versuche in den zwanziger Jahren, sich mehr Wissen über Afrika anzueignen, im Endeffekt immer dümmer wurde“. Der Moment, in dem er die konkrete Haiti-Erfahrung in sein Denken übersetzte, sei aber trotzdem ein außerordentlich hellsichtiger gewesen – gerade weil er sich vom vorherrschenden Denken löste. Als kritische Theoretikerin schlägt Buck-Morss deshalb vor, genau jene Momente, in denen das Bewusstsein eines Individuums die Grenzen der bestehenden Machtkonstellation überwindet (wie eben Hegel in Bezug auf Haiti), fortan als Realisierung des absoluten Geistes anzusehen. Welche Folgen hätte das für jenen akademischen Betrieb, der Themen wie „Hegel und Haiti“ für gewöhnlich ausschließt? Er würde sehr wahrscheinlich als Maschine erkennbar, die die Vergangenheit nur deshalb fixiert, um die Gegenwart zu fesseln. Das aber wäre eine Chance für all jene undisziplinierten Geschichten, die es auf der ganzen Welt zu erzählen und zu entfesseln gibt.
Malte Meyer