Christian Y. Schmidt, Im Jahr des Tigerochsen. Zwei chinesische Jahre, Verbrecher Verlag, Berlin 2011, 187 S., 13,- €
Drei Bücher in vier Jahren über China – ein Autor findet sein Thema! Zuerst seine Reportage „Allein unter 1,3 Milliarden. Eine chinesische Reise von Shanghai bis Kathmandu“ (2008). Eine Chinareise ganz eigener Art nach Muster von Wallfahrten; mein langer Weg – nicht Marsch – (immerhin fast 6000 km) zu mir selbst. Christian Y. Schmidt lebt, nach seiner Zeit als Redakteur des SatireMagazins „Titanic“ inzwischen mit einer Chinesin verheiratet, zu diesem Zeitpunkt seit drei Jahren in China, beherrscht die Anfangsgründe beim Sprechen und das Oberschülerniveau beim Lesen und erkundet trotz dieses Defizits das Riesenreich allein, ohne seine Frau, die ihm in Peking die Kultur vermittelt hat. Ständig jongliert er zwischen Selbst- und Fremdbeschreibung, zwischen Stereotypen und Vorurteilen (die Chinesinnen, die Europäer), die er unterläuft, wohlwissend, dass er noch nicht allzu kritisch, eher zu rosig gegenüber China ist; was nach gut sechs Jahren anders sein wird, wie er im letzten Buch, das hier rezensiert wird, einräumt (18). Für Liebhaber Chinas ist das erste Buch, das inzwischen ins Chinesische übersetzt ist (192), ein Muss! Wie bei den großen klassischen Reportagen „China geheim“ von Egon Erwin Kisch (1932) und, als faszinierender Kontrast dazu, „Funkelnder Ferner Osten“ von Richard Katz (1. Teil, gleichfalls 1932) liegt die Stärke seines Reiseberichts in einer ungewöhnlichen Beobachtungsgabe, die an den sozialen Verwerfungen und am individuellen Leidensgeschehen der eigenen Gesellschaft sich bewährt hat und die mit der Gefahr von Romantisierung reflektiert umzugehen vermag.
Will man sich grob eine Struktur des Buches vorstellen, dann bietet sich folgende Ordnung an:
1) Interessantes für den internationalen China-Diskurs. Beim Nobelpreisträger Lin Xiabao informiert er z.B. über den Inhalt der Menschenrechtsforderungen des Dissidenten: Privatisierung der (nebenbei: äußerst profitablen) Staatsbetriebe, Freigabe des Finanzsektors für internationale Spekulanten, Wegfall von staatlicher Steuerung bei der Entwicklung von bäuerlichem Eigentum, was Millionen von Arbeitslosen bewirken würde (127). Hier wäre ein Vergleich zur indischen Demokratie angeraten gewesen, allein unter dem Aspekt von Lebenserwartung, Kindersterblichkeit und Hunger, mit für die chinesische Diktatur überzeugenden Positivposten. Ist letzterer in China besiegt, bleibt er in Indien ständiger Begleiter des Modernisierungsprozesses. Nicht zuletzt: Inzwischen gehört bei internationalen Hungerkatastrophen die Volksrepublik zu den größten Spenderländern (78).
2) Die Liberalisierung, die in China weiter ist, als man im Westen meint (20), wird von Schmidt anhand einer Fülle von Phänomenen belegt, die der Soziologe unter „Individualisierung“ rubriziert. Wobei damit keineswegs die Auflösung von Klassen, Schichten, Milieus gemeint ist, sondern die Herstellung von Individualitätsformen, von kollektiven Identitätsmustern, an denen sich der Einzelne wählend orientiert. In China sehen wir die Anfänge einer „Multioptionsgesellschaft“ (P. Gross), die über sich selbst staunt, was jetzt alles möglich ist. Schmidt ist unerschöpflich bei seiner ironisch-begeisterten Katalogisierung dieser Individualitätsformen. Konsumexzesse – wie werde und bleibe ich Multi-Millionär –, das Entstehen eines religiösen Marktes und diversifizierter Sinnnachfrage (30), die dauernde Verdopplung der Realität in geschönten Bildern (34), etwa die Hochglanz-Hochzeitsphotos vor Europa nachempfundenen und nachgebauten Stadtvierteln (Klein-Edinburgh, Klein-Venedig), die zwar nicht wirklich bewohnt sind, um ihren Verkaufswert nicht zu mindern, in denen aber Wanderarbeiten zwischenwohnen dürfen (135). Eine wunderschöne neue Kitschwelt in Parks und Spaßbädern vermittelt Freiheitsgefühle, wie sehr Schmidt als alter Marxist sich eher gruselt, weil er die Konsumwelt in ehrwürdiger Marcuse-Tradition eher widerwärtig findet. Doch zu einer Multioptionsgesellschaft gehört auch der Wunsch und dessen Erfüllung von Gemeinschaftssehnsucht: Volkstanz, das überfüllte Schwimmbad, Gruppensport, das Gemeinschaftssaufen. Wenn aber schon die Formen von Individualisierung aus dem Westen kopiert werden, warum nicht gleich richtig und sinisiert? So ist jeder ein VIP (137)! Und Chinesisches bleibt genügend im Alltag sichtbar: „Im Zug erklärte mein gegenüber [...] seiner etwa achtzigjährigen Tante drei Stunden lang schreiend, wie er mit dem Verkauf von zwei Parkplätzen 300.000 Yuan verdient hatte, und weshalb alle sonstigen Menschen blöde Fotzen seien, die allesamt keine Ahnung hätten und mal besser die Fotze ihrer Mutter ficken täten. Die alte Dame lachte alle fünf Minuten begeistert auf. Im selben Rhythmus stand der Fotzenprediger auf und rotzte in den Papierkorb. Und plötzlich dachte ich wieder daran, was für ein Glück ich habe, in China zu leben. Woanders halte ich es ja gar nicht mehr aus.“ (46/47)
3) Eine ständiges Problem für Schmidt ist, dass er nicht direkt die chinesische Wirklichkeit dem deutschen Leser mitteilen kann, sondern immer den Resonanzboden anderer China-Berichterstattung mitreflektie-ren muss. Am zwar krassen, aber doch typischen Beispiels eines in der Presse skandalisierten Vorgangs, Chinas Polizei unterdrücke gewaltsam die friedliche Minderheit der Uiguren, mit Hunderten von Toten und Twitterfotos, die das angeblich beweisen sollten. Alles erlogen! Han-Chinesen wurden von Uiguren ermordet, daraufhin bewegte sich die Polizei strikt in einem rechtsstaatlichen Rahmen, deeskalierend (157-167). Die Berichterstattung geht nach dem Langzeithype, den „Seine Heiligkeit“ (Tibets Theokrat) rituell hervorruft, dass Minderheiten unterdrückt werden, wobei das Gegenteil der Fall ist (22). Ein Zwang zum Deutschlernen, wie ihm die in Deutschland nachziehenden türkischen Ehefrauen unterworfen sind, wäre in China indiskutabel: gerade die je eigene Kultur und Sprache wird gefördert, Schulen und Massenmedien haben gefälligst türkisch oder kurdisch zu pflegen, nicht es auszutreiben – wenn mir die Übertragung erlaubt sei. Schmidt weist auf ein wichtiges Buch hin, welches die China-Berichterstattung in sechs Printmedien über längere Zeit untersucht hat, mit deprimierenden Ergebnis, nicht allein deshalb, weil es kaum Unterschiede gibt am Maße der Nicht-Information. Grundmechanismus ist inzwischen der Einsatz von Chinakorrespondenten, die kaum mit Land und Kultur vertraut sind. Was und wie aus China zu berichten ist, weiß die deutsche Chefredaktion vorher, und ihr China-Korrespondent hat dementsprechend Fakten und Wertungen zu übermitteln. Dazu trägt bei, dass, wenn der Journalist die Sprache einigermaßen beherrscht und Kommunikationsnetzwerke geknüpft hat, er in ein anderes Land versetzt wird, damit er keine Eigenständigkeit erwerbe, wie sie bei den Chinaspezialisten in den 1950er bis 70er Jahren hervorstach. Es ist schade, dass nicht die Die Welt untersucht wurde, weil sich diese mit Jonny Erling einen solchen aussterbenden klassischen Korrespondenten-Typus gönnt.1
Abschließend möchte ich auf eine mir aus einem Brasilienaufenthaltvertraute Habitus-Figur aufmerksam machen: eine ständige Verhaltensverunsicherung. Denn wer in Deutschland wie in China lauthals nach der Bedienung brüllt, wie es den Chinesinnen normal ist, wird hier schlicht nicht bedient (71). Gut beobachtet hat Schmidt die Veränderung beim Thema „Küssen in der Öffentlichkeit“ (32), hat doch die unterstellte Verklemmtheit „der“ Asiaten seit Jahrzehnten für mokante Überlegenheitsgesten verführt. Nun scheint die Enttabuisierung Fuß (besser: Kuß) zu fassen (14), was Autor wie Rezensenten irritiert: Denn die frisch-frei-fröhliche Begeisterung über freie Sexualität ist eher Ideologie statt Realität, was von keinem Geringeren als Foucault massiv kritisiert wurde. Und für China speziell kommt noch etwas anderes dazu: Was wenn man vordem mal Marxist, gar: „braver Maoist“ (43) war und nicht alles abgeschworen hat? Dann rettet man sich zum einen in kopfschüttelnder Schilderung, was Wendehälse so alles aus sich machen (lassen) (90) und zum anderen zur Distanzgewinnung, was der Maoismus selbst aus sich in der VR China gemacht bzw. „welche Wandlungen das Bild des von mir in frühester Jugend hochverehrten Mao Tse Tungs im heutigen China durchgemacht hat. Unter anderem wird Mao als daoistischer Gott angebetet oder als Schutzpatron der Autofahrer. Jetzt hat sich dieses Mao-Bild für mich noch einmal erweitert. Als ich neulich in der Riesenstadt Chongqing [30 Mio. Einwohner; M.L.] weilte, sah ich im Museumsshop des dortigen Drei-Schluchten-Museums eine Schneekugel. Nur war darin kein Schneemann, Fernsehturm oder Knusperhäuschen eingeschlossen, sondern eine goldene Plastik-Mao-Büste, der aus der Brust zwei goldene Drachenköpfe wuchsen. Statt Schnee regnete es goldenen Glitter sowie kleine goldene Plastikkugeln und goldene Münzen, auf denen unchinesische Köpfe und ein amerikanischer Adler abgebildet waren. Darauf stand ‚In God We Trust‘. Auf Mao regnete es also Dollarmünzen.“ (38/39)
Manfred Lauermann
1 Heinrich-Böll-Stiftung (Hrsg.): Die China-Berichterstattung in den deutschen Medien. Berlin 2010. Untersucht werden vorzüglich die Diskurse: Tibet; Menschenrechte; Chinesisch-afrikanische Beziehungen; Umwelt- und Klimapolitik; Chinas Rolle in der globalen Wirtschaft.