Das Jahr 2011, das vierte Jahr der internationalen
Finanzmarktkrise, ist durch weltweite soziale Protestbewegungen
gekennzeichnet: In der arabischen Welt wie in Chile und
Südafrika, in Birmingham, London und Manchester ebenso wie in
Griechenland, Italien, Spanien oder Portugal, in den Zentren des
Finanz-kapitals New York oder Frankfurt – überall sind
es in erster Linie Jugendliche, die ihren Protest auf
unterschiedliche Weise zum Ausdruck bringen. Was sind ihre
Anlässe, Forderungen, Formen? Wer sind ihre Träger,
welche Perspektiven haben sie, welche Rolle spielt die Linke
dabei?
Die im September 2011 entstandene Occupy-Wall-Street-Bewegung mit
inzwi-schen über hundert Schauplätzen in den USA hat
schnell weltweite Resonanz gefunden. Ingar Solty sieht sie als
Reaktion auf die staatliche Austeri-tätspolitik und als
Gegenbewegung gegen den US-amerikanischen
Tea-Party-Rechtspopulismus. Sie sei eine weitgehend spontane
Protestbewegung einer zunehmend von sozialer Unsicherheit bedrohten
jungen Generation. Bei aller Heterogenität und
programmatischen Unklarheit sieht er doch Chancen für eine
Annäherung zwischen ihr und den Bewegungen und Organisationen
der Lohnabhängigen.
Die jüngsten „Jugendproteste und Sozialrevolten“
sind Gegenstand von Mi-chael Klundts Übersicht. Die
Bedingungen und Praktiken der weltweiten Ju-gendproteste sind, so
Klundt, nicht einfach auf einen Nenner zu bringen. Er diskutiert
verschiedene wissenschaftliche und mediale Erklärungsversuche.
Weit verbreitet sei das Gefühl Jugendlicher, dass „die
Demokratie nicht mehr funktioniert“, dass sie von „der
Politik“ um die eigenen Zukunftschancen be-trogen werden und
sich nur durch politischen Protest oder Revolte Gehör
ver-schaffen können. Die Bewegungen sind Folge einer
wachsenden Desintegrati-on der Gesellschaften, des Entstehens von
großen Schichten „sozialer Verlie-rer“, der
Kumulation und Verstetigung „einerseits negativer und
andererseits positiver Lebenssituationen“ bereits bei Kindern
und Jugendlichen.
Solty zufolge ist die Occupy-Bewegung Ausdruck eines
„Kriseninterregnums“, in dem die alten Institutionen
der neoliberalen Herrschaft in eine Vertrauenskrise geraten sind,
sich das Misstrauen der Jugendlichen aber auf alle organisierten
Interessen einschließlich der Arbeiterbewegung und der Linken
erstreckt. Dies entspricht auch Erfahrungen aus der Bundesrepublik.
Will die politische Linke hier wirksam werden, muss sie eine
für die Bewegungen brauchbare Kapitalismusanalyse und daraus
abgeleitete Politikvorschläge einbringen. Folgt man Harald
Werner, ist die Partei DIE LINKE mit ihrem neuen, in Erfurt
beschlossenen Programm hierbei einen Schritt vorangekommen. Obwohl
er im Text eine ganze Reihe von vor allem seinem
Kompromisscharakter geschuldete Schwächen findet, hält
Werner das Dokument trotzdem für einen Meilenstein in der
Entwicklung der LINKEN. Die Beschreibung des finanzmarktgetriebenen
Kapitalismus sei „nicht nur lesenswert und verstehbar,
sondern auch brandaktuell“. Damit sei das Prog-ramm
„näher an den weltweiten Aktionen gegen den
finanzmarktgetriebenen Kapitalismus … als es SPD und
Grünen lieb sein kann.“
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Kapitalismusanalyse – methodische Beiträge: Mohssen
Massarrat setzt sich mit der innerhalb der Linken verbreiteten
Gewohnheit auseinander, alle Prob-leme und Widersprüche
unterschiedslos auf den Kapitalismus zurückzuführen. Am
Beispiel der Marx’schen Behandlung der ursprünglichen
Akkumulation und der Grundrentenproblematik zeigt er, dass
methodisch zwischen dem Logischen Kapitalismus und dem Historischen
Kapitalismus unterschieden werden müsse. Tatsächlich sei
der real existierende Kapitalismus immer eine Synthese aus den
jeweiligen historischen Rahmenbedingungen und den Grundgesetzen des
Kapitals. Über Barrieren und Chancen einer marxistischen
Mensch-Umwelt-Theorie denkt Karl Hermann Tjaden nach. Sein
Ausgangs-punkt ist das zentrale Problem kapitalistischer
Produktionsweisen – die Kom-bination von
ökonomisch-sozialer und schon lange schwelender Ressourcen-
und Umweltkrise. Ein marxistisches Denken, dem ein dualistisches
Verhältnis von Mensch einerseits und Natur andererseits als
Grundlage von Gesellschaft-lichkeit gilt und für das das
expansionistische Konzept einer ständig sich er-weiternden
Produktion als A und O jeder Wirtschaftstätigkeit erscheint,
sei nicht zukunfts- und entwicklungsfähig. Tjaden diskutiert
das Verständnis von Gesellschaftlichkeit und Wirtschaft bei
Marx und Engels, Konzepte des Öko-sozialismus und die Frage,
ob und inwieweit der Wachstumszwang der inneren Logik des Kapitals
inhärent ist. Um Fragen der Imperialismustheorie und -analyse
geht es in einer Kontroverse zwischen der Autorengruppe Frank
Dep-pe/David Salomon/Ingar Solty und Andreas Wehr. Wehr kritisiert
an deren Einführungsschrift „Imperialismus“, dass
sie die imperialismustheoretischen Debatten nach 1945, insbesondere
die SMK-Theorie, ignorierten. Gerade die jüngsten Ereignisse
in Europa zeigten die fortdauernde Aktualität der Lenin-schen
Imperialismusanalyse. Demgegenüber bestehen die kritisierten
Autoren auf der Notwendigkeit einer Imperialismusanalyse, die die
Internationalisie-rungsschübe in der zweiten Hälfte des
20. Jahrhunderts und der Gegenwart bei der Analyse der Beziehungen
zwischen den kapitalistischen Staaten und der internationalen
Politik berücksichtigt. Helge Buttkereit plädiert am
Beispiel Lateinamerikas dafür, bei der Untersuchung von
Klassenstrukturen in-sbesondere von Ländern der Peripherie den
Einfluss vorkapitalistischer Ge-sellschaftsformationen
einzubeziehen. Die spezifische Klassensituation des modernen
Lateinamerika könne nur verstanden werden, wenn neben den
Wir-kungen des Weltmarktes auch der Einfluss von gesellschaftlichen
Organisati-onsformen vor der Conquista berücksichtigt
werde.
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Atomausstieg und Energiewende: Nach der
AKW-Laufzeitverlängerung im Herbst 2010 kam der durch die
Atom-Katastrophe von Fukushima ausgelöste Beschluss zum
Atomausstieg überraschend. Bernd Brouns analysiert
Aus-stiegsbeschluss und Gesetzespaket der Bundesregierung zur
Energiewende. Sein Fazit: Hier wird der Status Quo zementiert, es
gibt keine Beschleunigung für eine Energiewende. Dieter
Kaufmann erinnert an die Fortexistenz der auf Förderung der
Atomenergienutzung ausgerichteten europäischen Atom-agentur
EURATOM. Bei der Nutzung alternativer Energien wird über
unterschiedliche Wege und Systeme gestritten. Wolfgang Pomrehn
kritisiert die Dominanz zentralistischer Systeme. Probleme der mit
großen staatlichen Subventionen geförderten
Elektromobilität stellt Dietmar Düe dar.
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Marx-Engels-Forschung: Für die „New-York Tribune“
war ihr Europakorres-pondent Karl Marx in der ersten Hälfte
der 1850er Jahre „das beste Pferd im Stall“. Manfred
Neuhaus gibt einen Einblick in Themen und Arbeitsweise der
Publizisten Marx und Engels (der seinem Freund oft aushalf) und den
Profit, den sie daraus zogen: Zwang zur systematischen Beobachtung
von Wirtschaft, Gesellschaft, Politik und Diplomatie. Dazu
gehörten auch Hintergrundanalysen des Krimkriegs; ihnen widmet
sich Paolo Dalvit: Er zeigt, dass Marx und Engels – bei aller
Gegnerschaft zum russischen Zarismus – keineswegs bereit
waren, den Krieg gegen Russland zu unterstützen.
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Weitere Beiträge: Manfred Lauermann stellt eine Reihe von
China-Analysen vor. Er interpretiert China als aus seiner Tradition
agierende konfuzianische Gesellschaft. Das erkläre die
Dimension der ökonomischen Prozesse, die hier-zulande Angst
und Bewunderung und – zu Unrecht - bei manchen Linken
Verachtung hervorrufen. Jörg Roesler diskutiert Alternativen
zum Bau der Berliner Mauer als Reaktion auf das ökonomische
Gefälle zwischen BRD und DDR und ihrer Etablierung als
Dauerlösung. Diese sieht er vor allem in einer durch
Wirtschaftsreformen bewirkten Steigerung der Produktivität der
DDR-Wirtschaft. Die Ablösung des Reformers Ulbricht durch
Erich Honecker habe diesen Ausweg aber versperrt. Werner Röhr
hebt in seiner Besprechung von Jost Hermands Buch zur Kulturpolitik
in Nazideutschland dessen Nachweis hervor, wie die Kulturpolitik
des Faschismus mit unterschiedlichen Strategien sowohl eine
bildungsbürgerliche Elite als auch das
Unterhaltungsbedürfnis breiterer Bevölkerungsschichten
bediente. Wolfgang Neef berichtet anhand ei-gener
Seminarerfahrungen über Einstellungswandel bei
Ingenieurstudenten in den letzten Jahrzehnten. Für eine
zunehmend gesellschafts- und kapitalismus-kritische Einstellung
seien besonders die Wahrnehmung von Technikfolgen und Ökokrise
von Bedeutung. Im zweiten Teil seiner Vorstellung des
materia-listischen Denkens von Mario Bunge referiert Richard Sorg
eine Reihe von Argumenten, die dieser in der Auseinandersetzung mit
aktuellen Einwänden gegen eine materialistische Weltsicht ins
Feld führt.
Berichte und Buchbesprechungen informieren u.a. über
Marx-Engels-Studien, aktuelle Kapitalismus-, Wirtschafts- und
Krisenanalysen, die Transformations-Vorstellungen der
Rosa-Luxemburg-Stiftung, Stadtpolitik und Fragen der
Geschichtsaufarbeitung.
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Z 89 (März 2012) wird im Schwerpunkt Weltsystemtheorie
behandeln.