Auch drei Jahre nach Ausbruch der Finanzmarktkrise ist kein Ende abzusehen. Obwohl die Angst vor einem erneuten konjunkturellen Rückfall, dem berühmten ‚double dip’, vor allem in den USA noch nicht ganz verflogen ist, scheint der Tiefpunkt der Konjunkturkrise überschritten. Im Gegensatz dazu sind die Finanzmärkte unverändert labil, wie zuletzt der drohende Staatsbankrott Ungarns gezeigt hat. Auch die Schuldenkrise der ‚PIIGS-Staaten’ verunsichert weiter die Märkte. Diese reagieren selbst bei kleineren Finanzproblemen panisch. Trotz aller Regulierungsbemühungen funktioniert das kapitalistische Finanzsystem nur, weil und wenn die Gläubiger sich auf eine faktische Staatsgarantie stützen können, wie zuletzt der EU/IWF-Rettungsschirm für insolvente EU-Staaten im Umfang von 750 Milliarden Euro gezeigt hat. Ohne umfassende Staatseingriffe wären die Märkte schlicht funktionsunfähig.
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Während die Finanzmärkte weiter am Tropf des Staates hängen, feiern im ideologischen Bereich neoliberale und marktradikale Erklärungsmuster fröhliche Urständ. Zarte Hoffnungen auf eine ‚Keynesianische Wende’ der Wirtschaftspolitik nach der nur dank massiver Staatsinterventionen überdeckten Krise erweisen sich als unbegründet. Die neoliberalen Umverteilungsbemühungen gehen verstärkt weiter. Dies zeigen die Beiträge im Schwerpunkt des vorliegenden Heftes „Stadt in der Krise“. Die hier versammelten Beiträge von marxistisch orientierten Stadtforschern aus Soziologen, Geographie und Ökonomie beschäftigen sich einerseits mit der „neoliberalen Stadt“, andererseits mit der Krise der Kommunalfinanzen. Die kommunale Ebene ist von besonderer Bedeutung für die Situation der abhängigen Bevölkerung, weil dort die täglichen Lebensbedingungen bestimmt werden. In Städten und Gemeinden entfalten relativ abstrakte finanzwirtschaftliche Eckdaten – wie Steuerquoten und Verschuldungsgrade – ihre soziale Wirkung. Dieser Zusammenhang erschließt sich allerdings nicht auf den ersten Blick: Während die große Mehrheit der Bevölkerung Staatsverschuldung als Übel betrachtet und die nun verfassungsmäßig verankerte „Schuldenbremse“ begrüßt, gilt dies sicher nicht für den daraus resultierenden massiven Abbau der kommunalen Dienstleistungen.
Einen konzeptionellen Rahmen zum Verständnis der Rolle der gebauten Umwelt im Prozess der Kapitalverwertung diskutiert Bernd Belina, der als Ko-Redakteur das Konzept des Schwerpunkts wesentlich gestaltet hat. In seinem Beitrag weist er darauf hin, dass Bauten in verschiedener Weise eine große Bedeutung für den Verlauf von Krisen haben, was u. a. mit ihrem Charakter als Bestandteil des Kreditkreislaufs zusammenhängt.
Hans-Dieter von Frieling gibt unter dem programmatischen Titel: „Überflüssig, gentrifiziert, ausgegrenzt, kontrolliert“ eine Analyse zunehmender Armut in den Städten und zeigt, wie städtische Sozialpolitik – den Maximen eines „aktivierenden Sozialstaats“ folgend – umstrukturiert wird. Die Ausweitung der sozialräumlichen Spaltung in den Städten wird zum Charakteristikum der neoliberalen Stadt. Deren Kritik dürfe sich nicht auf den „Neoliberalismus“ beschränken, ohne vom Kapitalismus zu sprechen.
Die folgenden Beiträge thematisieren Aspekte der neoliberalen Ökonomisierung in den Kommunen. Henrik Lebuhn zufolge forciert das „Neue Steuerungsmodell“ (NSM) für städtische Verwaltungen eine Ökonomisierung der öffentlichen Institutionen: Verwaltungen verhalten sich zunehmend nach Marktlogiken und verkörpern so die Funktionsweise einer „unternehmerischen Stadt“. Wie Lebuhn zeigt, wirkt das NSM dabei nicht bloß als Verwaltungstechnologie, sondern als Machttechnologie, deren Konformitätsdruck linke Kommunalpolitik erschwert. Andrej Holm („Privare heißt Rauben“) analysiert verschiedene Strategien, kommunales Wohnungseigentum in Wert zu setzen. Die besonders in der Bundesrepublik praktizierten En-Bloc-Privatisierungen haben den Ein- und Aufstieg institutioneller Anleger als eines neuen Investorentyps auf den Wohnungsmärkten begünstigt. Wie Holm herausarbeitet betrifft Wohnungsprivatisierung keineswegs nur teure Wohnungen. Inzwischen hat sich ein regelrechter Discountwohnungsmarkt etabliert, der die staatlich garantierten Mietzahlungen von Transferhilfebeziehern abschöpft. Thomas Ristow behandelt Tendenzen der Ökonomisierung im kommunalen Bibliothekswesen. Hier verknüpft sich das Konzept der Privatisierung und Kapitalisierung öffentlicher Einrichtungen mit dem kapitalistischen Verwertungsprozess: Öffentliche Bibliotheken sollen einerseits als spezialisierte Wissenslieferanten für den Unternehmenssektor hergerichtet, andererseits in ihrer Funktion als Dienstleistungseinrichtungen für nicht zahlungskräftige ‚normale’ Nutzer abgewickelt werden.
Mehrere Beiträge widmen sich dem Problem der Kommunalfinanzen, einem wichtigen Transmissionsriemen und massenwirksamen Feld zur Legitimation von Sozialabbau und Privatisierung: Der Verweis auf leere Kassen ist das scheinbar unwiderlegbare Standardargument für jede Form von Sozialabbau. Axel Troost und Sandra Schuster zeigen, dass die akute Finanzmisere der Kommunen nur wenig mit der aktuellen Krise zu tun hat – sie ist weit mehr das Ergebnis der gezielten finanziellen Austrocknung der Städte mit dem Ziel, Raum für private Investoren zu schaffen. Die Autoren heben hervor, dass eine dauerhafte Lösung nur durch den Ausbau einer eigenständigen kommunalen Steuerbasis erreicht werden kann. Am Beispiel der hessischen Kommunen belegt Kai Eicker-Wolf den Zusammenhang zwischen der Steuerpolitik der jüngeren Vergangenheit und dem Rückgang der kommunalen Investitionen, an dem auch die Konjunkturpakete wenig geändert haben. Denn den durch die Konjunkturprogramme zeitweilig erhöhten Mittelzuflüssen für Investitionen stehen Steuersenkungen gegenüber, die den Kommunen überproportionale, Einnahmeausfälle bescheren.
Dass Hoffnungen auf einen ‚Aufstand’ der unter chronischer Finanzknappheit leidenden kommunalen Verantwortungsträger gegen die Sparpolitik der Bundesregierung – von der Frankfurter Oberbürgermeisterin Petra Roth, Präsidentin des Städtetages, sind gelegentlich starke Worte in dieser Richtung zu vernehmen – wohl vergeblich sind, zeigt der Beitrag von Sebastian Schipper. Er untersucht die Debatten in der Frankfurter Stadtverordnetenversammlung. Tatsächlich hängt die große Mehrheit der Stadtverordneten neoliberalen Krisenerklärungen an und bleibt dem Konzept der „unternehmerischen Stadt“ verpflichtet. Die Privatisierung kommunaler Dienstleistungen wird im Rahmen neoliberaler Politikkonzepte als Ausweg aus der kommunalen Finanzmisere dargestellt. Werner Rügemers Überblick zu Erfahrungen mit verschiedenen privaten ‚Lösungen’ weist, untermauert mit konkreten Fallbeispielen, nach, dass diese den Steuerzahler mittel- und langfristig zumeist teurer kommen. Öffentliche Lösungen sind i.d.R. nicht nur sozialer sondern auch effizienter und billiger. Privatisierungskonzepte werden die kommunale Finanzkrise also nicht entschärfen.
Die Redaktion plant, im nächsten Jahrgang das Kommunalthema mit Fragen der Alternativen und kommunalpolitischen Erfahrungen der politischen Linken erneut aufzunehmen.
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Umstrukturierungen in der französischen Linken sind auch für Deutschland von Interesse. Wir dokumentieren die Erklärung von Roger Martelli und Lucien Sève – beide auch bei uns bekannt – mit der sie als Teil der Strömung der Erneuerer ihren Austritt aus der Französischen Kommunistischen Partei begründen. Ihre Kritik ist rigoros. Martelli und Sève unterstreichen die unveränderte Aktualität des Kommunismus. Aber der PCF habe de facto den Kontakt zur gesellschaftlichen Realität verloren und damit als Organisation die Fähigkeit, auf die Veränderungen der Gesellschaft politisch produktiv zu reagieren.
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Weitere Beiträge: Werner Röhr unterzieht die dreibändige Darstellung „Das Dritte Reich“ des britischen Historikers Richard Evans einer kritischen Würdigung. Ein großer Wurf, doch beinhalte der von Evans gewählte narrative Zugang zur NS-Geschichte Schwächen und Defizite, was auf Kosten der analytischen Schärfe und theoretischen Durchdringung des Gegenstands ginge. Karl Hermann Tjaden akzentuiert in seinem Rezensionsartikel zu Bernd Reefs „Theoretische Grundlagen der Wirtschaftspolitik“ Haupttendenzen der herrschenden Wirtschaftstheorie. Charakteristisch sind u.a. eine kritiklose Hinnahme der kapitalistischen Produktionsweise und Wachstumsfetischismus, von dem auch Marx, so Tjaden, nicht völlig freigesprochen werden kann. Michael Klundt nimmt die ideologische Begleitmusik zu den jüngsten Spar-Beschlüssen der Bundesregierung gegen Hartz IV-Empfänger in den Blick: Sie verdichtet sich in der Armuts- und Demographiedebatte (Sarrazin, Sloterdijk) bei Teilen der Eliten zu einem Klassenrassismus, der massive Ausgrenzungen bewirkt und legitimiert.
Die Berichte und Buchbesprechungen, in denen viel dankenswerte Mühe der AutorInnen steckt, werfen, wie wir hoffen, ein instruktives Licht auf aktuelle politische und literarische Diskussionen der Linken im In-und Ausland.
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Z 84 (Dezember 2010) wird nach bisheriger Planung u.a. Aspekte von Imperialismus und Anti-Imperialismus heute behandeln.