Der Marburger Politikwissenschaftler Frank Deppe hat in den letzten zehn Jahren (zwischen 1999 und 2010) eine umfangreiche Geschichte des politischen Denkens im 20. Jahrhundert veröffentlicht, die auch als ein Spiegel der politischen Geschichte und der Klassenkämpfe des zurückliegenden 20. und des beginnenden 21. Jahrhunderts gelesen werden kann[1]. Mit ihm unterhielt sich Werner Goldschmidt, Politikwissenschaftler aus Hamburg, über methodische, theoretische und realhistorische Fragen einer solchen Geschichtsschreibung und politiktheoretischen Analyse. (Red.)
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Werner Goldschmidt (WG): Wir wollen uns über das ‘politische Denken’ im 20. Jahrhundert unterhalten. Du hast dazu – soweit ich sehe – das bisher im deutschsprachigen Raum, vermutlich sogar weltweit, umfangreichste und umfassendste Werk geschrieben: vier Bände in fünf Büchern, auf über 2.000 Druckseiten. Schon der schiere Umfang des Textes beeindruckt. Die Breite der Thematik, die Zahl der behandelten Autoren, Literaturquellen, Referenzen im Text, die Fußnoten usw., all das bestätigt den Eindruck: hier hat einer eine Herkulesarbeit geleistet – und die braucht natürlich ihre Zeit. Der erste Band – der so nicht heißen sollte, ich komme gleich darauf zurück – erschien noch im vergangenen Jahrhundert (1999), der letzte Band (das fünfte Buch) dann zu Beginn des zweiten Jahrzehnts im neuen Jahrhundert (2010). Angesichts dieser Fülle des Stoffes werden wir daher Vieles nicht behandeln können. Wer mehr – vielleicht sogar (fast) alles – dazu wissen will, dem kann ich nur raten: Lesen! Lesen! Lesen!
Ich möchte mich hier auf einige mir besonders wichtig erscheinende Themen beschränken und dabei gewissermaßen von außen, d. h. von den äußeren Umständen, nach innen, damit meine ich die methodischen und theoretischen Probleme, an Deine Arbeit herangehen. Meine erste Frage ist persönlicher und in diesem Sinne der Sache nach noch eher äußerlicher Natur. Wann hast Du erstmals den Gedanken einer Gesamtdarstellung des politischen Denkens im 20. Jahrhundert gefasst und welche Vorstellungen hattest Du damals von Umfang und Zeitraum des Projektes?
Frank Deppe (FD): Am Anfang hatte ich gewiss keine ausgereiften Vorstellungen bzw. Planungen über den Umfang und den Zeitrahmen. Allerdings gab es eine Vorgeschichte. Ich habe am 19. 4. 1994 – also mit dem Sommersemester 1994 – mit Vorlesungen zum „Politischen Denken im 20. Jahrhundert“ begonnen. Dieser Vorlesungszyklus erstreckte sich über vier Semester und entsprach damit – auch in seiner Gliederung – den vier Bänden, die dann nach 1999 erschienen sind. In diesen Jahren habe ich natürlich schon sehr viel zum Thema sowie zu den einzelnen Vertretern des politischen Denkens gelesen. Allerdings unterscheidet sich der schließlich geschriebene Text deutlich von den Vorlagen der Vorlesungen.
Meine Idee, diesen Vorlesungszyklus durchzuführen, war schon ungewöhnlich; denn in der Massenuniversität ging die Kultur der „großen Vorlesung“ (die wir noch als junge Studierende kannten) mehr und mehr zugunsten fast standardisierter Überblicksveranstaltungen verloren. Das hat sich inzwischen mit dem Übergang zur B.A. Ausbildung noch einmal erheblich verstärkt.
Die Motive, die mich zu diesem Projekte gedrängt haben, sind vielfältig:
– Es gab ein durchaus professionelles, fast pragmatisches Motiv: den Studierenden etwas Nützliches, also eine Art Handbuch zur Verfügung zu stellen, in dem sie sich u.a. über wichtige Vertreter des politischen Denkens im 20. Jahrhundert (von Max Weber bis Jürgen Habermas) informieren können. Allerdings sollte kein Zweifel bestehen, dass es sich um ein marxistisches „Handbuch“ handeln würde.
– Dazu stelle ich die Entwicklung des politischen Denkens in den Kontext der sozialökonomischen und politischen Geschichte des Kapitalismus im 20. Jahrhundert. Das impliziert schon die Frage: Wie haben relevante Vertreter des Liberalismus, Konservatismus und Sozialismus diese Entwicklung – die je epochenspezifischen Akkumulationsregime, die Fortschritte der Produktivkräfte, die Krisen und Kriege, die Formationen des Klassenkampfes usw. – reflektiert und strategisch, d.h. auf praktische Politik bezogen, verarbeitet. Hier verfolge ich schon seit längerem (u.a. in meinem „Machiavelli“-Buch von 1987 und anderen Arbeiten) Überlegungen zu einer materialistischen Ideengeschichte der Politik – ein Feld mit vielen offenen Fragen, auf dem Du ja ebenfalls gearbeitet hast.
– In den frühen 90er Jahren nahm das Interesse zu, ein zu Ende gehendes Jahrhundert zu „besichtigen“ bzw. zu bilanzieren – ein Jahrhundert der extremen Gewalt, aber auch des Fortschritts und des Sozialismus. Im Vorwort zu Band 3/1 heißt es: „Das 20. Jahrhundert hat das reale Potenzial der Emanzipation von Unmündigkeit und politischer Unterdrückung sowie von ökonomischer Ausbeutung und sozialer Polarisierung – in der Perspektive der Aufklärung und der Ideale der Revolutionen seit dem Ende des 18. Jahrhunderts („Freiheit – Gleichheit – Solidarität“) – als objektive Möglichkeit sichtbar werden lassen. Auf der anderen Seite wurden gewaltige Destruktivkräfte mobilisiert, um diese Potenziale für partielle Herrschaftsinteressen und für die Stabilisierung von Diktaturen zu nutzen und weiter zu entwickeln.“
– Dazu kam, dass das letzte Viertel des 20. Jahrhunderts zugleich eine Epoche tiefgreifender Transformationen war: (a) auf der einen Seite – in den Kapitalmetropolen – der Übergang von der fordistischen Formation des Nachkriegskapitalismus („Golden Age“) zum globalen Finanzmarktkapitalismus und zur Hegemonie des Neoliberalismus; (b) auf der anderen Seite die Krisen und Niederlagen des Sozialismus – nicht nur der Zusammenbruch des Staatssozialismus sowjetischer Prägung, sondern auch – nach dem Aufschwung der Klassenkämpfe zwischen 1965 und 1975 – die Niederlagen der Linken in der „Dritten Welt“ und in den Kapitalmetropolen selbst. Der Epochenwechsel schloss also mit dem Ende des Kalten Krieges und der Systemkonkurrenz (1989/1991) den Übergang in eine neue (natürlich noch offene) Epoche der Weltgeschichte ein, in der zugleich um neue Weltordnungen gerungen wird. Die USA schienen zunächst als einzige Supermacht übrig geblieben zu sein; allerdings gab es bereits im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts deutliche Hinweise auf den Niedergang der US-Hegemonie[2].
– Und schließlich war und ist es meine Absicht, jenem herrschenden Zeitgeist („Ende der Geschichte“, Fukuyama) entgegenzuarbeiten, der den Sozialismus und den Marxismus „ein für allemal“ für „erledigt“ erklärt[3], kriminalisiert und der Aufsicht des Verfassungsschutzes unterstellen möchte. Damit verband sich die Hoffnung, dass meine Arbeit für junge Menschen nützlich sein könnte, die sich kritisch mit dem kapitalistischen Regime der Gegenwart und seinen Widersprüchen auseinandersetzen und für eine humane Ordnung der Welt, die „keine Ware“ ist, eintreten. Dabei entwickelt sich meist auch ein Interesse, die „Vorgeschichte“ – d.h. die Geschichte der Krisen und Kämpfe, die Geschichte der Versuche, den Kapitalismus zu transformieren oder zu transzendieren, die Reaktionen der herrschenden Klasse und des kapitalistischen Staates auf solche real möglichen Alternativen, aber auch die Geschichte der Niederlagen und Fehlentwicklungen des Sozialismus – zu studieren. Die Entwicklung eines kritischen Bewusstseins, unabdingbare Voraussetzung für die praktische Kritik der herrschenden Verhältnisse, setzt immer auch die Aneignung von historischem Wissen voraus. Wir können nur „siegen“, – so hat es Wolfgang Abendroth einmal 1982 formuliert – wenn „wir erfolgreich und aus der Geschichte lernend handeln!“.
Ich wollte allerdings auch das Privileg des Hochschullehrers bzw. des Wissenschaftlers nutzen, in Zeiten einer tiefen Krise des Sozialismus (und des Triumphgeschreis der vermeintlichen „Sieger der Geschichte“) die Erinnerung daran zu bewahren, dass es ohne die theoretische Arbeit und die Kämpfe der Sozialistinnen und Sozialisten in den vergangenen zwei Jahrhunderten keine Demokratie, keinen sozialen Fortschritt gegeben hätte, dass zumal in der deutschen Geschichte des vergangenen Jahnhunderts die Linke im Kampf gegen Krieg und Faschismus, gegen Kolonialismus und Imperialismus die Traditionen der Aufklärung wie der „Erklärungen der Menschenrechte“ bewahrt und erneuert hat. Die Geschichte dieses Jahrhunderts vermittelt vielfältige Lektionen und Beispiele, in denen sich die Menschen in diesen Kämpfen aus den Zwängen von Unterdrückung, Ausbeutung und Unmündigkeit befreit haben. Da das 20. Jahrhundert – mit guten Argumenten – auch immer wieder als das „Jahrhundert des Sozialismus“ bezeichnet worden ist, sind die Vertreter der linken (sozialistischen und kommunistischen) Denkrichtungen auch deutlich überrepräsentiert (Lenin, Gramsci, Hilferding, die frühe „Frankfurter Schule“, Mao Zedong, Wolfgang Abendroth, Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sartre, Che Guevara, Giddens/Habermas, „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“). Auch daran wird deutlich, dass ich mir nicht vornahm, eine systematische Ideengeschichte der Politik (oder gar der Politikwissenschaft) für das 20. Jahrhundert zu schreiben. Mir ging es eher um den Zusammenhang zwischen der Krisen- und Katastrophengeschichte des Kapitalismus, um die Entwicklung der Kräftekonstellationen zwischen Kapital und Arbeit und – dann durchaus exemplarisch – deren Reflexion auf der Ebene des politischen Denkens. Dessen Vertreter sind eingebunden in diese Kräftekonstellationen, aber sie setzen sich zugleich mit je spezifischen Problemstellungen dieser epochenspezifischen Konstellation auseinander.
WG: Nachdem Du nun die Motive Deiner Arbeit erläutert hast und schon auf die inhaltliche Thematik eingegangen bist, möchte ich zunächst doch noch auf die äußeren Bedingungen Deiner Arbeit an diesem Großprojekt zurückkommen. Du hast während dieser relativ langen Zeit ja nicht nur an diesem Projekt gearbeitet, sondern Du hast – soweit ich das sehe, nahezu unverändert Deine eher politisch-praktische bzw. publizistische Tätigkeit – Vorträge, Aufsätze für politisch-wissenschaftliche Zeitschriften etc. – fortgesetzt. Wie war das möglich? Welche personelle oder finanzielle Unterstützung hattest Du die dazu notwendigen umfangreichen Forschungen? Ich erinnere mich, dass Du Dich einmal sehr verwundert geäußert hast zu den Dir nahezu luxuriös erschienenen Arbeitsbedingungen von Kollegen – auch linken oder marxistischen Kollegen – in den USA und Kanada, die Dir offenbar zumindest in dieser Hinsicht und wenigstens an den Universitäten keineswegs marginalisiert erschienen sind.
FD: Nun, ich hatte keine besondere Unterstützung. Ich musste die Semesterferien und zwei Forschungssemester nutzen, um zu schreiben. Ich hatte mir allerdings im Laufe der Jahre angewöhnt, auch während des Semesters (wenn der Arbeitsdruck besonders hoch ist), morgens zwischen 9 und 11 Uhr (wenn es irgend geht) an dem Buchmanuskript zu arbeiten. Die Arbeitsbedingungen an der Universität waren extrem schlecht (vor allem die Ausstattung mit Mitarbeitern, die ja für die linken Institute seit Anfang der 70er Jahre, trotz extrem steigender Studierendenzahlen niemals verbessert wurden, im Gegenteil, in den letzten Jahren wurde immer wieder gekürzt). Da ich den Band 3/Teil 2 meiner 2008 verstorbenen Frau Ulla gewidmet habe, will ich erwähnen, dass sie mir – nicht nur als äußerst engagierte Bibliothekarin – eine große Stütze war.
WG: Im Vorwort zum 2. Band gibt es eine Fußnote – und darauf habe ich eingangs angespielt – in der Du darauf hinweist, dass Du den 1. Band so, d.h. als ersten von mehreren Bänden, gar nicht benennen wolltest, um den Erwartungsdruck, den das Publikum, Leserinnen und Leser des Bandes, Dir gegenüber mit einer gewissen Notwendigkeit aufbauen würden, möglichst niedrig zu halten. Immerhin, den 2. Band bezeichnetest Du (und der Verlag) dann offiziell als solchen. War Dir (und dem Verlag) damals schon klar, dass weitere zwei Bände – in Wahrheit drei Bücher (!) – folgen würden?
FD: Mit dem Abschluss des 2. Bandes war ich davon überzeugt, dass das Gesamtprojekt zu schaffen sei. Der Verlag – vor allem Richard Detje als Lektor – hat mich dabei auf jeden Fall ermuntert. Da ich im Jahre 2006 emeritiert wurde, öffnete sich zugleich ein Zeitfenster, das mir neue Freiräume zum Arbeiten erschloss. Die Fußnote verweist einerseits auf die schwierigen Arbeitsbedingungen an einer Universität, die von ihrer Spitze her das Fach, mehr noch marxistische Fachvertreter eher als Makel ansah; andererseits ironisiert sie jene pathologischen Züge einer (eher traditionellen, konservativen) akademischen Kultur, die von Neid und Misstrauen gezeichnet ist und die mit Hegel als „geistiges Tierreich“ (in dem auch die Plagiatoren ihr Unwesen treiben) zu bezeichnen wäre. Der „ältere Kollege“, ein Osteuropahistoriker, den ich da erwähne, war ein typischer Repräsentant der alten Ordinarienuniversität der frühen 60er Jahre.
Geschichte des politischen Denkens, Ereignis- und
Strukturgeschichte
WG: Das führt mich nun doch hinein in die inhaltliche – zunächst scheinbar noch bloß methodische – Problematik: die Frage nach der Aufteilung der Bände, also nach der formalen Gliederung des Stoffes. Dass es sich um eine ‘Geschichte’ des politischen Denkens im 20. Jahrhundert handeln sollte, war offenbar von allem Anfang an klar. Warum eigentlich? Kam eine andere Darstellungsweise, sagen wir eine ‘systematische’, etwa an bestimmten Problemkomplexen orientierte Darstellung nicht in Frage? Oder wolltest Du beides, als Ereignis- und Strukturgeschichte, miteinander verknüpfen?
FD: Zunächst einmal will ich an dieser Stelle hinzufügen, dass für die Konzeption meines Projektes zwei Bücher von zentraler Bedeutung waren. Beide erschienen im Jahre 1994: Eric Hobsbawms „Age of Extremes. The Short Twentieth Century (1914 – 1991)”, und Giovanni Arrighis „The Long Twentieth Century. Money, Power and the Origins of Our Times“[4]. Sie haben mich stark beeinflusst; aber mit der Konzentration auf das politische Denken und seine Repräsentanten wollte ich einen eigenen Akzent setzen. Von Hobsbawm habe ich die Epocheneinteilung übernommen: von der Belle Epoque zur Explosion des August 1914[5]; das „Zeitalter der Katastrophen“ bzw. des „Dreißigjährigen Krieges“ (1914 – 1945); die Ära des „Golden Age“ bzw. des Kalten Krieges und der Systemkonkurrenz (oder des „Vierten Weltkrieges“, 1947/48 bis 1991) und schließlich die Umbruchs- und Übergangskonstellation im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts.
Für Hobsbawm bildete die russische Oktoberrevolution die Signatur eines ganzen Zeitalters[6], das mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und ihres Lagers 1989 – 1991 zu Ende ging. Da sich damit auch Kräftekonstellationen auflösten, die den Imperialismus des 20. Jahrhunderts nicht nur zu brutalsten Angriffen auf die Sowjetunion (Interventionskriege, faschistischer Überfall 1941, atomare Hochrüstung nach 1945) veranlassten, sondern den Kapitalismus (vor allem in der Periode des sog. „Golden Age“) „disziplinierten“ und partiell zivilisierten (in Westeuropa durch das Bündnis mit der reformistischen Arbeiterbewegung), fürchtet Hobsbawm einen möglichen Rückfall der Weltpolitik in das Zeitalter der „rivalisierenden Imperialismen“ und der Katastrophen – verbunden mit der Wiederkehr von Krieg, Gewalt, Rassismus auf der einen, Massenelend und Marginalisierung auf der anderen Seite.[7]
Für Giovanni Arrighi hingegen – aus dem Kreis der
„Weltsystem“-Theoretiker um Immanuel Wallerstein;
Arrighi ist leider im vergangenen Jahr verstorben – ist das
„lange 20. Jahrhundert“ das „American
Century“, das mit dem Aufstieg des US-Kapitalismus im letzten
Drittel des 19. Jahrhundert beginnt, in der US-Hegemonie im
„Golden Age“ nach 1945 seinen Höhepunkt erreicht
und im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts in eine
Abstiegsphase
übergeht, die auch am Anfang des 21. Jahrhunderts anhält.
Gleichzeitig beginnt der Aufstieg Ostasiens und Chinas. In seinem
letzten Buch „Adam Smith in Bejing“ (2007) hat er diese
These noch einmal ausführlich begründet. Für die
Geschichte des Sozialismus und die Auseinandersetzung zwischen
Kapitalismus und Sozialismus im 20. Jahrhundert trifft die zentrale
These von Hobsbawm vom „Schlüsselereignis
Oktoberrevolution“ zweifellos zu; wenn wir jedoch die
Entwicklung von Weltordnung (im Sinne von Arrighi, aber auch von
Robert W. Cox, dessen Ansatz einer neogramscianischen
Internationalen Politischen Ökonomie unsere Arbeiten in
Marburg seit den frühen 90er Jahren stark beeinflusst hat!)
– auch unter Berücksichtigung der Entwicklung nach 1991
– analysieren, dann muss auf jeden Fall die These von Arrighi
zum Leitfaden werden. Im Vorwort zu Band 4 schreibe ich daher,
„dass für das 20. Jahrhundert nicht allein die russische
Oktoberrevolution des Jahres 1917 (und der Aufstieg der Sowjetunion
zur Weltmacht, d.h. zur Führungsmacht eines
‘sozialistischen Lagers’) ein Schlüsselereignis
(Eric Hobsbawm) war. Das Profil und die Entwicklungsdynamik
dieses Jahrhunderts waren ebenso durch den langen
Hegemoniezyklus, in dem die USA nach 1945 zur
uneingeschränkten Führungsmacht der westlichen Welt
aufstiegen, als auch durch die Auflösung der Kolonialreiche
sowie die damit verbundene Neugründung von Staaten
bestimmt.” Ich habe deshalb in jedem Band auch einen
Vertreter des „American Century“ behandelt (John Dewey,
Walter Lippmann, John Kenneth Galbraith). Wenn die
eurozentristische Sichtweise aufgegeben wird, dann erscheint
– vor allem für die zweite Hälfte des 20.
Jahrhunderts – der Zusammenbruch der alten Kolonialreiche
bzw. der Kampf um die nationale Unabhängigkeit der ehemaligen
Kolonien und Halbkolonien als Merkmal des Jahrhunderts. Deshalb
habe ich in jedem Band auch einen Vertreter dieser Bewegungen
(Sun-Yat Sen, Gandhi und Mao Zedong, Che Guevara und – im
letzten Band – Samir Amin und den „Sozialismus des 21.
Jahrhunderts“, zu dem sich z. B. Hugo Chavez bekennt)
aufgenommen.
WG: Wenn die Entscheidung für eine vorwiegend historische – wenngleich keineswegs bloß chronologische – Darstellung gefallen war, trat natürlich das Problem der Periodisierung auf.
Die im engeren Sinne historische Darstellung (Bd. 1, Kap. 2) beginnt – leicht satirisch - mit einem ‘fröhlichen Prosit Neujahr’ auf das Jahr 1900. Man könnte denken, dass Du Dich anfangs (am Ende, d.h. in Band 4, gehst Du ja weit über das Jahr 1999 hinaus!) geradezu zu einer kalendarischen Begrenzung Deines Themas entschlossen hättest. Gewiss, es gab eine Vorarbeit – die hier eigentlich auch noch erwähnt werden müsste: Fin de Siècle ... – aber die war nun nicht integraler Teil Deines Projektes, jedenfalls konnte sie von dem Leser nicht unbedingt als solcher wahrgenommen werden. Also: warum 1900 – ein Jahr ohne besondere Ereignisse oder strukturelle Einschnitte, Brüche usw. , ein Jahr, in dem auch kein irgendwie bedeutendes Werk der politischen Ideengeschichte erschienen wäre? Ich glaube nicht, dass Du Dich dabei an Jürgen Kuczynski orientiert hast, der einmal das Jahr 1903 porträtiert hatte, gerade weil es ihm wegen seiner relativen Ereignislosigkeit besonders geeignet schien, das Alltagsgeschehen historisch zu beschreiben.
FD: Die Aufsatzsammlung „Fin de siècle“ erschien 1997; in ihr reflektiert sich schon die Arbeit am „Politischen Denken“ (u.a. in den Beiträgen zum Verhältnis von Kapitalismus und Demokratie sowie im Schlusskapitel: „Überlegungen zur Geschichte und Zukunft des Sozialismus“[8]). Allerdings spielt das Jahr 1900 für den Einstieg in den Ersten Band nur eine marginale Rolle. Das erste, umfangreiche Kapitel legt meine Bestimmung des politischen Denkens als „normatives, wertorientiertes und insofern auf politische Praxis bezogenes Denken“ (S. 12) dar, benennt die großen Themenkreise des politischen Denkens im 20. Jahrhundert (Krieg und Frieden; Regierungsform, staatliche Organisation und Souveränität; die Organisationsform der Gesellschaft und schließlich das Thema der Staatenbildung). Danach diskutiere ich die „Jahrhundertbilanzen“ und entwickelte dann (das ist der Hauptabschnitt) eine eigene – materialistische fundierte – These über den Charakter des 20. Jahrhundert („Das Jahrhundert des Wachstums und der Beschleunigung“).
Der Einstieg mit der Jahrhundertwende („Prosit Neujahr!“) ist in der Tat etwas willkürlich. Das gesamte Kapitel 2 („Von der Belle Époque zur Katastrophe“) behandelt jedoch den Umschlag von einer Periode der Stabilität und bürgerlichen Prosperität in eine tiefe Krise der bürgerlichen Welt (einschließlich der Erschütterung des bürgerlichen Weltbildes durch die Philosophie von Nietzsche und Bergson, aber auch durch die Psychoanalyse von Freud und insbesondere durch den Marxismus, der zur Leitideologie einer aufstrebenden, kämpferischen Arbeiterbewegung geworden ist). Gleichzeitig kündigt sich die Auflösung der „Pax Britannica“ an. Diese Prozesse vollziehen sich im Übergang zum Imperialismus und bestimmen schon die letzten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts. Das Jahr 1900 ist scheinbar ein Jahr der Ruhe; unter der Oberfläche wirken jedoch jene Kräfte und Tendenzen, die sich bis zur Katastrophe von 1914 verdichten. Ich zitiere hier auch aus der „Deutschen Metallarbeiterzeitung“, die das neue Jahrhundert in der Gewissheit, dass ein Jahrhundert des Sozialismus anbricht, begrüßt! Ich will damit jenes Selbstbewusstsein der sozialistischen Arbeiterbewegung der Jahrhundertwende dokumentieren, die den Fortschritt zum Sozialismus als ein quasi-Naturgesetz (wissenschaftlich durch die Lehren von Marx und Engels begründet) begriff. Dieser naive Geschichtsoptimismus war auch noch in einer der letzten Reden von Erich Honecker im Jahre 1989 gegenwärtig („Den Sozialismus in seinem Lauf, halten weder Ochs noch Esel auf!“) – jetzt freilich als bittere Farce.
Politische Theorie und Gesellschaftsentwicklung
WG: Für eine marxistische Darstellung der Geschichte politischer Ideen gilt die schon vom jungen Marx formulierte These, dass es keine wirklich selbständige – oder sagen wir: unabhängige – Geschichte des Denkens, der Kultur usw. geben kann, sondern dass diese ‘höheren’ oder Überbau-Sphären des gesellschaftlichen Geschehens stets nur im Vermittlungszusammenhang mit den Tiefen- oder Basisstrukturen des ökonomischen und politischen Prozesses zu behandeln sind. Natürlich darf auch diese These nicht dogmatisiert werden, auch hier gilt es, die relative Selbständigkeit der Sphären zu beachten, z.B. da, wo das Denken einzelner Autoren sich aufeinander bezieht, sei als Folge, Erweiterung, Vertiefung eines Problems, sei es als Kontroverse zwischen unterschiedlichen, bisweilen feindlich zueinander stehenden (Klassen-)Standpunkten o. ä. – darauf ist später bei der Behandlung einzelner Autoren noch zurückzukommen. Grundsätzlich gilt aber zweifellos, dass das relevante politische Denken sich an den grundlegenden gesellschaftlich-politischen Problemen der Zeit orientiert und daher an der allgemeinen Geschichte teilhat – möglicherweise gar diese nicht nur passiv reflektiert, sondern auch aktiv in sie eingreift, wie dies offensichtlich vor allem für das Denken der politisch-praktisch handelnden Revolutionäre gilt. Aber möglicherweise gibt es ja auch eine – wenigstens für das Publikum – im eher Verborgenen verbleibende, sagen wir ‘subversive’ Wirkungsweise des politischen Denkens. Wie denkst Du darüber?
FD: Am Ende des 1. Kapitels versuche ich, die Methodik und den Leitfaden meiner Analyse des politischen Denkens im 20. Jahrhundert zusammenzufassen. Dort stelle ich übrigens auch fest, „dass ein Jahrhundert keineswegs formal als Epoche konstruiert werden kann“ (S. 60). Der widersprüchliche Entwicklungszusammenhang von Kapitalakkumulation und politischer Regulation bestimmt auch („in letzter Instanz“) die Entwicklung der Politik, wobei die Vergesellschaftungstendenzen auch die Entwicklung des Politischen durchdringen; denn der Staat (als Interventionsstaat) muss immer mehr in die Regulation der Gesellschaft (z. B. durch Sozial-, Bildungs-, Infrastrukturpolitik usw.) eingreifen. Dies, die Vergesellschaftung des Politischen, die Zurücknahme des Staates in die Gesellschaft – innerhalb der Schranken der kapitalistischen Produktionsweise selbst – steht gleichsam im Zentrum des Klassenkampfes zwischen Arbeit und Kapital. Obwohl das Interesse der Kapitalverwertung auch staatliche Interventionen zum Schutz der allgemeinen Reproduktionsbedingungen notwendig werden lässt, so entzünden sich die Kämpfe in der Regel daran, dass die Linke für die Ausweitung staatlicher Interventionen in die Zivilgesellschaft (sowie die Demokratisierung der Institutionen) eintritt, während die Liberalen die sozialökonomischen Interventionsfunktionen des demokratischen Staates zurückdrängen wollen und die Konservativen für die Stärkung der Exekutive und der Repressionsapparate des kapitalistischen Staates eintreten. Aufgrund dieser Vergesellschaftungstendenz wird die Frage nach der Hegemonie in den Institutionen der Zivilgesellschaft (die Gramsci früh gestellt hat, ohne die Durchstaatlichung der Zivilgesellschaft in der fordistischen Ära bereits zu ahnen) zu einer zentrale Frage der sozialistischen Transformation von entwickelten kapitalistischen Gesellschaften.
Die Kapitalakkumulation und ihre widersprüchlichen Bewegungsformen (David Harvey, „Limits of Capital“) bilden den Ausgangspunkt[9]: Die Grenzen erscheinen immer wieder (a) in Krisen und Kriegen, und (b) im Klassenkampf, d.h. in der Formierung sozialer und politischer Kräfte, die in der Erfahrung dieser Grenzen revoltieren, Widerstand leisten, für Reformen eintreten oder für nicht-kapitalistische Entwicklungswege optieren. Wie sich – epochenspezifisch – diese antagonistischen Vergesellschaftungslogiken konfigurieren, welche Kräftekonstellationen sich herausbilden und durch Recht und Verfassung zeitweilig festgeschrieben werden, muss in der konkret historischen Analyse herausgearbeitet werden. Dabei geht es immer auch darum, wie sich das Verhältnis von Ökonomie und Politik, von Akkumulation und Regulation (durch den Staat) jeweils im Ergebnis solcher Auseinandersetzungen konfiguriert, aber auch durch die Krisen der Akkumulation und die Veränderung der Kräfteverhältnisse der Klassen immer wieder von neuem aufgesprengt wird. Und schließlich, das politische Denken (als Denken über die Ordnungen des Zusammenlebens der Menschen, „civil society“) ist einerseits Reflex, d. h. reflektive Bearbeitung dieser Spezifik – im Kontext von pragmatischen Orientierungen, die zugleich die Klassenbindung des politischen Denkens zum Inhalt haben. Auf der anderen Seite zeichnet sich die Originalität des politischen Denkens dadurch aus, das es auch auf vielfältige Weise durch nationale Traditionen und Erfahrungen, also kulturell, fachwissenschaftlich (Philosophie, Ökonomie, Politikwissenschaft, Soziologie) sowie durch individuelle Schwerpunktsetzungen gleichsam „eingefärbt“ ist.
Dabei vollzieht sich die Entwicklung des politischen Denkens, das mit den politischen Hauptströmungen des Konservatismus, Liberalismus und Sozialismus verbunden ist, keineswegs linear, sondern zyklisch, wobei sich jeweils epochenspezifische Koalitionen herausbilden: Im Übergang ins 20. Jahrhundert gerät der Liberalismus in die Krise, der Konservatismus radikalisiert sich zur Verherrlichung des imperialistischen Machtstaates und seiner Kriege sowie (nach dem Ersten Weltkrieg) zur faschistischen Gewaltpolitik gegen Liberale, Linke und Juden (und andere „Untermenschen“). Der Sozialismus wird erst im 20. Jahrhundert – durch die Verbindung mit den Massenorganisationen der Arbeiterbewegung, aber auch durch den Sieg der russischen Oktoberrevolution – zu einer realen Macht. Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges deuten sich mit der Spaltung der internationalen Arbeiterbewegung, dem Versagen vor allem der deutschen Mehrheitssozialdemokratie im Krieg und in der Novemberrevolution sowie mit dem Stalin-Regime in der Sowjetunion (seit Mitte der 20er Jahre) schon frühe Tendenzen des Niedergangs an, die sich im Westen z. B. früh im Sieg des Faschismus in Italien und dann in der Niederlage der deutschen Arbeiterbewegung gegenüber dem Faschismus im Jahre 1933 verdichten (gefolgt von der Niederlage im Spanischen Bürgerkrieg 1936 – 38). Diese Widersprüche werden freilich durch den Sieg über den Faschismus (1944/45), durch den Sieg der chinesischen Revolution (1949) sowie durch die Entstehung eines „sozialistischen Staatensystems“ um die Sowjetunion zeitweilig überlagert.
Auf jeden Fall zeichnet sich die Zwischenkriegsperiode durch den radikalisierten Widerspruch zwischen einer Zuspitzung der Krisenprozesse in den westeuropäischen Kapitalmetropolen auf der einen und dem wachsenden Einfluss des Sozialismus auf der anderen Seite aus. Allerdings deutet sich mit dem Aufstieg der USA bereits eine Machtverschiebung innerhalb des kapitalistischen Weltsystems (über den Atlantik) an, die dann nach 1945 bestimmend werden soll. Nunmehr kommt es im Zeichen des Kalten Krieges und der Systemkonkurrenz zu einer Allianz zwischen Liberalismus und Reformsozialismus (Fordismus plus Keynesianismus), während der Sozialismus – jenseits der Konfrontationslinien des Systemgegensatzes – vor allem in der sog. „Dritten Welt“ die Perspektive und Programmatik der nationalen Befreiungsbewegungen inspiriert (obwohl auch sie durch den Systemgegensatz überdeterminiert sind). Mit der Fordismuskrise seit den 70er Jahren verschieben sich erneut die Gewichte, Kräftekonstellationen und Allianzen: der Sozialismus (in seinen verschiedenen Ausprägungen) gerät mehr und mehr in die Krise, während der „Neoliberalismus“ als Bündnis zwischen Konservativen (starker Staat) und Liberalen (Marktradikalismus) seinen Siegeszug antritt. Erst Anfang des 21. Jahrhunderts zeichnet sich mit der Kumulation von Krisenprozessen die „Zersetzung des geschichtlichen Blockes des Neoliberalismus“ (Mario Candeias) immer deutlicher ab. Und exakt in diesem Zusammenhang stellt sich die Frage nach dem „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“.
Am Ende dieses einführenden Kapitels des 1. Bandes (S. 64/65) formuliere ich eine These, die für die gesamte Arbeit, die diese „antagonistische Vergesellschaftungslogik“ verfolgt, zentral ist. „Die Katastrophen und Gewaltexplosionen des Jahrhunderts lassen sich in der Regel darauf zurückführen, dass die Machtlogik des Staates und der Politik nicht zum Zwecke der Kontrolle der Dynamik des Wachstums, der Kapitalakkumulation und der Produktivkraftentwicklung – nach Maßgabe des Ziels, gesellschaftliche Kohäsion zu stärken – angewandt wurde, sondern sich im Gegenteil in den Dienst der Beschleunigung des Wirtschaftswachstums, der Produktivkraftentwicklung, der Machtexpansion im internationalen System stellte. Die Kriegspolitik, die dem Staat nicht nur die Aufgabe militärischer Mobilisierung, sondern auch der ökonomischen (Rüstungsproduktion) und der moralischen Mobilisierung zuweist, bildet gleichsam den Extremfall dieser Machtlogik. Alle kollektiven Gewaltverbrechen in diesem Jahrhundert wurden im Namen bzw. im Auftrag des Staates oder im Namen einer Ideologie begangen, die sich zur Durchsetzung ihrer Ziele des staatlichen Gewaltmonopols zu versichern hatte. Besonders deutlich tritt diese Verschmelzung von (politischen) Macht-, von (ökonomischen) Wachstums- und von (wissenschaftlich-technischen) Produktivkraftlogiken im Prozess der nachholenden kapitalistischen Entwicklung, in den Strategien der imperialistischen Expansion sowie in den verschiedenen Versuchen zutage, durch ein Ausbrechen aus der ‚imperialistischen Kette’ eine nach- und aufholende nicht-kapitalistische Entwicklung einzuleiten, gegen äußeren Druck zu behaupten und schließlich zu beschleunigen. Die Kriege und Bürgerkriege, die Diktaturen und der Terror sind stets der Extremfall dieser Strategien gewesen.“
Nach dem Bruch 1989/91
WG: Jedenfalls hättest Du – bei enger Auslegung des Themas und in Übereinstimmung mit Hobsbawm – Deine Arbeit nach Abschluss des 3. Bandes beenden können. Das hast Du glücklicherweise nicht getan! Mit dem Untergang der ‘realsozialistischen’ Systeme und der Sowjetunion in den Jahren 1989/91 war ja keineswegs das ‘Ende der Geschichte’ erreicht, wie das damals einige mit Francis Fukuyama glaubten. Vielmehr begann eine neue Epoche, deren Charakter noch nicht endgültig abzusehen ist. Zu Beginn dieser Epoche schien ja die amerikanische Hegemonie oder Dominanz für lange Zeiträume gesichert, ökonomisch allenfalls durch die ‘japanische Herausforderung’ – man erinnert sich ja kaum noch an das Schlagwort vom ‘Toyotismus’, der den Fordismus überholt habe – leicht in Frage gestellt. Heute, zwei Jahrzehnte später, sieht die Welt ganz anders aus: Vielleicht war mit dem 11. September 2001 tatsächlich das Ende des amerikanischen Jahrhunderts bzw. Zeitalters eingeläutet worden. Die Kriege in Afghanistan und Irak offenbarten jedenfalls die politische Schwäche der militärischen Supermacht und die Finanz- und Wirtschaftskrise der Jahre 2008ff. erschütterte die US-Wirtschaft in ihrem Kern tiefer als die anderer Wirtschaftsregionen – zumal die der großen Schwellenländer.
FD: Zuerst zu Hobsbawm. Er hat ja erfreulicherweise nach 1994 weitergeschrieben – nicht nur die Autobiographie, sondern jetzt (2011) „How to Change the World. Tales of Marx and Marxism“. Der „Erdrutsch” (so der Titel des letzten Kapitels des „Zeitalter der Extreme”) nimmt ja schon die Erkenntnis vorweg, dass wir nach 1991 in eine turbulente Übergangsepoche eintreten. Diesen Gedanken greife ich im letzten Band auf. Die Erosion der „Pax Americana“, die Widersprüche und Krisen des Finanzmarktkapitalismus und das Versagen der Politik angesichts der ökologischen Krisen und der Risikotechnologien bilden den Rahmen für die nachfolgenden Analysen politischen Denkens. Diese werden jetzt – im letzten Band – am Beispiel der Re-Politisierung der Religion (von der iranischen Revolution über George W. Bush bis zum Papst Ratzinger), der Grenzen sozialdemokratischer Modernisierungspolitik (diskutiert u.a. am Beispiel der sozialwissenschaftlichen Theorieentwicklung bei Anthony Giddens und Jürgen Habermas) und schließlich mit der Frage nach der möglichen Rolle des Sozialismus im 21. Jahrhunderts abgeschlossen.
Es ist nicht allein Eric Hobsbawm, der befürchtet, dass in der Folge der „Entfesselung“ und „Entgrenzung“ des Kapitalismus durch die neoliberale Politik („Marktfundamentalismus“) sowie durch die Niederlagen des weltweiten Sozialismus nunmehr ein Rückfall in ein neues Zeitalter der Katastrophen droht, gekennzeichnet durch Krisen und Gewalt (nach innen und außen). Einerseits verschiebt sich die regionale Machtstruktur des kapitalistischen Weltsystems nach Ostasien, andererseits brechen – angesichts der ökologischen Krise, des nahenden „peak-oil“ aber auch angesichts der „Verslummung“ des Planeten (Mike Davis) – systemische Widersprüche auf, die grundlegende Veränderungen der Betriebsweise, der Verteilungsverhältnisse, des Energieverbrauchs, der Mobilität und der Lebensweise usw. usf. – also Eingriffe in die Eigentumsverhältnisse, das Profitprinzip und die Wettbewerbsordnung – erfordern. Gleichzeitig gerät das System – sichtbar, erfahrbar – an seine Grenzen, ohne dass sich schon – als Überwindung der Niederlagen der traditionellen Linken am Ende des 20. Jahrhunderts – ein „gegenhegemonialer Block“ formiert hätte, dessen Kräfte in der Lage wären, einen alternativen Entwicklungsweg gesellschaftlicher Entwicklung jenseits des Finanzmarktkapitalismus zu konzipieren und durchzusetzen.[10] In der Großen Krise (2008/09) gab es – von bürgerlichen Ökonomen wie Stiglitz und Krugman – weitreichende Forderungen und Vorschläge zur politischen Kontrolle der Finanzmärkte, der Verstaatlichung weiter Teile des Bankensektors, für Konjunkturprogramme und Maßnahmen zur Belebung des Arbeitsmarktes, die jedoch mit der Rettung der Banken wieder in der Versenkung verschwanden. Damit ist die Krise auf die Ebene der Staatsverschuldung und der Abwälzung der Schuldenlast auf die Völker verschoben worden – gleichzeitig hat der Druck auf neue Privatisierungsmaßnahmen und auf die Einschränkung öffentlicher Leistungen (nicht nur in Griechenland) enorm zugenommen. Damit setzt sich die systemische Krise in der Verschiebung auf den öffentlichen Raum fort, provoziert dort zugleich massive Protest- und Widerstandsbewegungen. Zugleich hat die Katastrophe von Fukushima die Einsicht in die Notwendigkeit des Umstiegs in eine neue Energiepolitik gestärkt!
Diese Spannung wird auch da deutlich, wo Massenbewegungen (wie im arabischen Raum oder der Aufschrei der „Empörten“ in zahlreichen europäischen Metropolen) auf die Unerträglichkeit nicht nur von Diktaturen, sondern auch des neoliberalen Marktregimes (flankiert vom Abbau der Demokratie und dem Ausbau des Sicherheitsstaates), d.h. auf eine Lebenserfahrung, die mehr und mehr durch soziale Unsicherheit charakterisiert ist, reagieren. Noch zeichnen sich in solchen Bewegungen keine Führungsgruppen oder Allianzen von politischen, sozialen und kulturellen Kräften ab, die in der Lage wären, die Perspektive eines nicht-kapitalistischen Entwicklungsweges anzugehen. Allerdings lehrt uns der Linksschwenk in Lateinamerika seit den späten 90er Jahren, dass hier – als Reaktion auf die Militärdiktaturen der 70er und 80er Jahre sowie auf die sozialen Verwüstungen, die die neoliberale Politik seit den 80er Jahren im Zeichen des sog. „Washington Consensus“ angerichtet hatte – im Ergebnis dieser Kämpfe neue Wege zum Sozialismus des 21. Jahrhunderts eingeschlagen wurden. Diese Wege weichen vielfach von den Modellen der Revolution ab, die im 20. Jahrhundert etwa durch die russische oder die chinesische (oder auch die kubanische) Revolution vorgegeben waren.
Politik, Ökonomie, Politikbegriff
WG: Ich möchte nun noch einmal auf die scheinbar plakative Gegenüberstellung von Politik und Ökonomie zurückkommen. Bei dem Verhältnis dieser beiden Momente – und sie sind ja nicht einmal die einzigen, die bei einer historischen Darstellung, insbesondere geistig-moralischer Phänomene wie des politischen Denkens, berücksichtigt werden müssten, wie die Natur, die Kultur, die Psyche etc., also das Verhältnis dieser beiden Momente – um dabei zunächst einmal zu bleiben, vielleicht kommen wir später auf die anderen auch noch, wenigstens kursorisch, zu sprechen – ist innerhalb des Marxismus stets überaus problematisch gewesen, und ist es m.E. auch immer noch. Wir wollen und können hier diese Thematik nicht auch nur annähernd erschöpfend diskutieren, aber vielleicht zeichnest Du hier einleitend – wir kommen ja auf konkretere Probleme in diesem Zusammenhang gewiss noch zu sprechen – wenigstens in ein paar, meinetwegen holzschnittartigen Sätzen, die Grundlinien Deines Verständnisses von Politik und damit auch des Verhältnisses von Politik und Ökonomie, das Deiner Darstellung zugrunde liegt. – Besonders interessant, wenn nicht brisant, fand ich eine Bemerkung ganz zu Beginn Deiner Arbeit (Band 1, Vorwort), wo Du schreibst, dass die Politik eine eigenständige ‘Materialität’ besitze – also kein bloß ‘abgeleitetes’ Phänomen ist. Vielleicht kannst Du darauf bei Deiner Antwort mit eingehen?
FD: Na ja, das ist ein sehr weitreichendes Thema. Es gab in den 70er Jahren im Kontext der Linksverschiebungen in der Welt und auch als Antwort auf die Gramsci-Rezeption (seit der Veröffentlichung der Gerratana-Ausgabe der „Quaderni“ im Jahre 1975) im Westen eine ziemlich intensive Debatte über die politische Theorie des Marxismus (Althusser, Poulantzas, Laclau, Miliband, Anderson, Basso, Cerroni und andere). Deren Teilnehmer stimmten darin überein, dass es (a) keine systematisch ausgearbeitete Theorie der Politik bei Marx und Engels gibt (natürlich zahlreiche Beiträge zur politischen Analyse); (b) dass der „Marxismus-Leninismus“ als sowjetische Staatsideologie eher zu einer Erstarrung des politischen Denkens im „realen Sozialismus“ geführt hatte, und dass (c) das politische Denken Gramscis (seine Analyse der Komplexität bürgerlicher Herrschaft, der Rolle der Intellektuellen, seine Theorie des „integralen Staates“, des Stellungskrieges und insgesamt seine Hegemonietheorie) einen theoretischen wie politischen-strategischen Zugang zum adäquaten Begriff bürgerlicher Herrschaft, aber auch zur Transformation hochentwickelter, komplexer westlicher Gesellschaften mit demokratischer Tradition eröffnen kann. So wurde das in den 70er Jahren gesehen; es war eine Debatte, die in den Kontext des sog. „Eurokommunismus“ (von PCI, FKP, PCE) gehörte. Diese Debatte – mit der Unterscheidung von Staat und Politik – grenzte sich allerdings auch von der immer abstrakter werdenden „Staatsableitungsdebatte“ im deutschen Marxismus dieser Jahre ab. Schon früh gab es allerdings berechtigte Warnungen vor der Gefahr des Scheiterns einer reformistischen Politik; auf der anderen Seite gab es bis Ende der 70er Jahre noch die Illusion (z. B. bei Louis Althusser und auch bei Perry Anderson), dass die Krise der kommunistischen Parteien durch die Klassenbewegungen von unten überwunden werden.
Ich hatte mich in der zweiten Hälfte der 70er Jahre (auch im Zusammenhang eines Staatsarbeitskreises, in dem wir die „Staatsableitungsdebatte“ dieser Jahre durchdekliniert und durch eigene Ansätze erweitert haben) mit diesen Debatten relativ intensiv beschäftigt. Deren zunehmende Sterilität und die Gramsci-Lektüre brachten mich allerdings dazu, mich ausführlicher mit der Geschichte des politischen Denkens zu befassen. Ich habe dies im Vorwort zu meinem „Machiavelli-Buch“ (1987) begründet und betonte schon am Anfang, dass mein Interesse an dieser Arbeit durch das Studium von Gramscis „Anmerkungen zur Politik Machiavellis“ (Gefängnishefte, S. 1533 ff.) geweckt wurde. Für Gramsci (nicht nur für ihn) war Lenin der Machiavelli des 20. Jahrhunderts. Über Machiavelli stellt sich ihm „die Frage der Politik als autonome Wissenschaft, das heißt (die Frage) des Platzes, den die Politische Wissenschaft in einer systematischen (kohärenten und konsequenten) Weltauffassung – in einer Philosophie der Praxis – einnimmt oder einnehmen soll“ (ebd., S. 1546). Anfang der 80er Jahre schrieb ich einen Essay mit dem Titel „Einheit und Spaltung der Arbeiterklasse. Überlegungen zu einer politischen Geschichte der Arbeiterbewegung“, in dem sich ebenfalls die Auseinandersetzung mit der Frage nach der relativen Eigenständigkeit des Politischen im Rahmen des Historischen Materialismus und der Kritik der Politischen Ökonomie widerspiegelt. Auch mein Buch „Ende oder Zukunft der Arbeiterbewegung?“ (1984) war ein Versuch, dem hegemonialen Bruch zur Vorherrschaft des Neoliberalismus auf die Spur zu kommen.
WG: Innerhalb des historischen Marxismus und zwar zunächst im Marxismus der II. Internationale, sagen wir bei Kautsky, später aber, vielleicht noch dogmatischer im Marxismus-Leninismus der Stalin-Ära, war das Verständnis von Politik, etwa als Gewalt einer Klasse gegen eine andere, vom Staat als einem Instrument der herrschenden Klasse usw. auf einige wenige zumeist formelhafte Sätze beschränkt. Die Eigenart des Politischen, als einer besonderen Sphäre mit eigener ‘Materialität’ und daher auch mit eigentümlichen Merkmalen und ‘Gesetzen’, wurde allenfalls verbal anerkannt, aber faktisch missachtet. Deshalb gab es auch so wenige parteimarxistische Studien über das Politische – nimmt man Gramsci einmal aus, der ja schon aufgrund seiner Lebensumstände – obwohl Kommunist – kein Parteimarxist oder Marxist-Leninist im gewöhnlichen Sinne gewesen war. Politisches Denken oder gar politische Theorie – so ist mein Eindruck – wurde selbst langen ‘nach Stalin’ allenfalls am Rande, wie etwa bei Althusser, oder außerhalb der kommunistischen Partei, wie bei Poulantzas, betrieben. Und ganz besonders schlecht stand es stets um die Geschichte der politischen Ideen. Dein Werk ist ja nicht nur einzigartig in Bezug auf das 20. Jahrhundert, sondern überhaupt gibt es von einem marxistischen Standpunkt nach meiner Kenntnis nur ganz wenige Arbeiten zur Geschichte des politischen Denkens, gleich welcher Periode. Immerhin hast Du selbst ja schon früher zwei größere Studien zu politischen Denkern veröffentlicht, die zugleich auch ‘Politiker’ waren bzw. am politischen Prozess ihrer Epoche und ihres Landes durchaus aktiv teilnahmen, ich denke an die frühe Arbeit über Blanqui und die spätere Studie zu Machiavelli. Wie erklärst Du diese – wenn man einmal von Gramsci absieht – bemerkenswerte Tatsache der Geringschätzung der historischen Analyse des politischen Denkens innerhalb des Kreises der marxistischen Theoretiker – Althusser und Poulantzas hatten als ‘Strukturalisten’ bekanntlich wenig Interesse am geschichtlichen Prozess, so dass auch sie die Geschichte des politischen Denkens weitgehend vernachlässigten.
FD: Die Defizite in der marxistischen Theorietradition sind einerseits auf jene ungelöste Dichotomie von Strukturanalyse und Handlungstheorie im gesellschaftstheoretischen Denken seit dem 19. Jahrhundert zurückzuführen, die z. B. Anthony Giddens und Jürgen Habermas mit ihren theoretischen Konzepten überwinden wollen. Der „Vulgärmarxismus“ zeichnet sich durch die beiden Grundübel „Ökonomismus“ und „Klassenreduktionismus“ aus. In beiden Varianten sind die handelnden Subjekte bzw. die Organisationen gleichsam Vollzugsorgane objektiver Gesetzmäßigkeiten; die relative Autonomie des Politischen wird zwar gelegentlich betont, aber nicht zum Gegenstand einer materialistischen Theorie der Politik. Dieser Objektivismus – gepaart mit einem politischen „Attentismus“ – spielt in der Marxismus-Rezeption der II. Internationale, vor allem bei Karl Kautsky, eine zentrale Rolle. Dagegen richtete sich gerade das Denken von Theoretikern wie Lenin und Luxemburg. Dazu kommt natürlich der Monopolanspruch einer zentralistisch organisierten, marxistisch-leninistischen Avantgardepartei (zumal dann, wenn sie die Staatsmacht ausübt) auf die Definition der Politik bzw. der Strategie. Hier korrespondiert die Überpolitisierung des öffentlichen Lebens oft mit einer Entmachtung politischer Subjektivität, die individuelle Freiheit zur Voraussetzung hat. Auf der anderen Seite gibt es aber immer wieder deutlich voluntaristische Züge in der Politik revolutionärer Organisationen, die sich auf die Eroberung der Staatsmacht vorbereiten. In den verschiedenen Varianten des linken Radikalismus paart sich oftmals eine objektivistische Sichtweise von den (angeblichen) Zusammenbruchstendenzen des Kapitalismus und einem voluntaristischen Bekenntnis zur „Offensivtheorie“ („Revolution machen!!“).
Nun hat uns Wolfgang Abendroth einen Politikbegriff vermittelt, der sich kritisch sowohl gegen den Ökonomismus als auch gegen den abstrakt-kategorialen Absolutismus oder die radikale Ideologiekritik der Philosophen (die dann – gelegentlich – in der wirklichen Politik nur zu gerne die Rolle von Chefanklägern in fiktiven Tribunalen, vor denen sich „Verräter“ zu verantworten haben, spielen möchten) wandte. Das Studium der Geschichte der Klassenkämpfe und der Arbeiterbewegung muss immer wieder – in der historisch konkreten Analyse – die Vermittlungen zwischen den sozialökonomischen Basisprozessen und der Veränderung der politischen Kräfteverhältnisse, dem Wandel der Herrschaftsformen, der Reaktionen der Akteure auf diesen Wandel, der Rolle der Intellektuellen und der Kultur und vieles andere mehr berücksichtigen. Dabei sind Erfolge wie Niederlagen der Politik der Arbeiterbewegung, aber auch Zyklen der Massenbewegung von unten, Spaltungen, ideologische Auseinandersetzungen und anderes mehr in den Blick zu nehmen. Gleichzeitig hat Abendroth die Bedeutung des Rechtes und der Verfassungen als Formen/Institutionen der Regulation sozialer Beziehungen, als zeitweilige Festschreibungen der Kräfteverhältnisse der Klassen hervorgehoben. Der Kampf um Rechtspositionen ist auch ein Kampf um die Erweiterung von Machtpositionen, die dann als Normen, Regeln, Gesetze festgeschrieben werden und den Rahmen der Politik bilden bzw. das Feld der Politik konstituieren. Insofern wäre die materialistische Analyse der Politik als Mehrebenen-Konzept zu differenzieren. Neben der allgemeinen Formbestimmung des Politischen und des Staates[11], bildet die Politik ein eigenes Handlungsfeld – mit eigenen Normen, Regeln und Institutionen, auf dem sich die Akteure bewegen. Natürlich ist dieses Feld durch die Produktions- und Klassenverhältnisse strukturiert; gleichwohl werden die Macht- und Kräfteverhältnisse in diesem Feld durch zahlreiche zusätzliche Variablen beeinflusst, die – ich verkürze jetzt stark – von der Irrationalität der Massenmanipulation, über die Mobilisierung von Machtressourcen durch die Akteure bis hin zum Eigengewicht der Institutionen und Apparate (auf das schon sehr früh Robert Michels’ Bürokratiekritik hingewiesen hat) eine eigene politische Logik haben. Und schließlich gelangen wir auf die Ebene der Oberfläche des politischen Geschehens („des Ereignisses“) selbst, die zumal in Perioden des Umbruchs, genauer: der Revolution, ins Zentrum der Aufmerksamkeit tritt. Hier wiederum sind die Ereignisse einerseits determiniert (ökonomische Krise, Zusammenbruch des alten Staatsapparates usw.); andererseits zeichnet sich der Gang der Ereignisse durch ein hohes Maß an Kontingenz aus (zumal in chaotischen Zusammenbruchskonstellationen, z.B. am Ende von verlorenen Kriegen). Die Spannung der Politik liegt im Verhältnis dieser drei Ebenen (mit je eigenen Logiken) begründet; sie durchdringt (in einer frühen, rohen Form) den „Fürsten“ des Machiavelli. Die Größe Lenins wurde von vielen seiner Zeitgenossen gerade darin gesehen, dass er marxistische Orthodoxie mit einer extremen Flexibilität in der konkret-historischen Analyse der geschichtlichen Situation (etwa zwischen dem Februar und Oktober 1917 oder nach dem Ende des Bürgerkrieges und dem Übergang zur NÖP) und den daraus abgeleiteten strategischen Aufgaben der Revolutionäre zu verbinden wusste.
WG: Kann es sein, dass Gramscis Konzept des ‘historischen Blocks’ (einschließlich des dazugehörigen Hegemoniebegriffs), dass ja für Deine Darstellung einen zentralen methodisch-theoretischen Stellenwert besitzt, sowohl für die Epochenbestimmung eine Rolle spielte als auch die bei Dir ursprünglich wohl eher intuitiv vorhandene Einsicht in die praktische Bedeutung des politischen Denkens in den sozialen Kämpfen, die Rolle der Intellektuellen (hier insbesondere als ‚konzeptive Ideologen’), der Kultur einschließlich der Alltagskultur usw. bestärkt hat?
FD: Der Begriff des „blocco storico“ hat bei Gramsci verschiedene Bedeutungen. Er bezeichnet einerseits den Sachverhalt, dass im realen geschichtlichen Prozess, also im Handeln der Akteure (unter bestimmten Bedingungen) – also auf dem Feld der Politik (so sieht es Gramsci) objektive und subjektive Determinanten des Geschehens stets eine Einheit bilden (einen „Block“). Deren Spezifik zu ergründen und in die Praxis umzusetzen, wird zu einer zentralen Frage der Politik und Strategie einer revolutionären Partei in einer bestimmten geschichtlichen Situation. Auf der anderen Seite bezeichnet der „Block“ die strategische Aufgabe (für die Partei), ein Bündnis von sozialen, politischen und kulturellen Kräften zu formieren, in dem verschiedene Klassen und Klassenfraktionen (Arbeiter des Nordens, proletarisierte Bauern des Südens, also: die „italienische Frage“) – vor allem aber auch Intellektuelle – zusammen für die Überwindung der bestehende Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnisse wirken. Natürlich sind solche Bündniskonstellation auch von Lenin und anderen verfolgt worden, wobei stets die „führende Rolle der Arbeiterklasse“ betont wurde. Bei Gramsci hingegen führt sein erweiterter Herrschaftsbegriff dazu, dass er den Auseinandersetzungen im Bereich der Kultur – vor allem der Alltagskulturen – und dem Kampf für eine „intellektuelle und moralische Reform“ eine besonderen Stellenwert in dem langwährenden „Stellungskrieg“ um die schließliche Eroberung der Macht bemisst.
Ich beziehe mich schon im Vorwort zum 1. Band auf den Begriff des „historischen Blockes“ und benenne dabei ein Problem, das sich mit der Auswahl von Personen – als Repräsentanten des politischen Denkens – unvermeidlich stellt und natürlich die Frage nach den Kriterien für die Auswahl provoziert. Dort schreibe ich: „Ich habe mich bemüht, den jeweiligen Typus des politischen Denkens (bei Max Weber, Vilfredo Pareto und Georges Sorel, dem jungen John Dewey, W.I. Lenin und Sun Yat-sen) als gleichsam idealtypische Konfiguration der Politik zu behandeln. Politisches Denken wird so – im Sinne Gramscis – als Moment eines ‚geschichtlichen Blockes’ begriffen, in dem objektive Strukturen, Prozesse und Machtverhältnisse sowie Elemente der Politik, der Kultur und der Ideologie – stets vermittelt über konkrete Kräftekonstellationen der Klassen und ihrer Kämpfe – historisch je spezifische Verbindungen eingehen.“ Die einzelnen Kapitel – vielleicht im 2. und 3. Band konsequenter als im 1. Band – werden daher stets durch Analysen eröffnet, die den Autor bzw. die Autorin sowohl in den ideengeschichtlichen Kontext (Konservatismus, Liberalismus, Sozialismus) stellen als auch die epochenspezifischen Probleme bezeichnen, die das Profil des zu diskutierenden Werkes prägen (z. B. die Spezifik des US-Kapitalismus bei Galbraith, die Rolle der Intellektuellen in Frankreich bei Sartre und Simone des Beauvoir oder der Exkurs zur Geschichte des modernen Berufsrevolutionärs bei Che Guevara).
Die internationale Dimension
WG: Mit zu den besonderen Vorzügen Deiner Arbeit zählt nach meiner Auffassung, dass Du vom ersten Band an die traditionell eurozentristische oder auch kapitalismuszentrierte Sicht auf das politische Denken überwunden hast. Die Aufnahme Sun Yat-Sens in die Reihe der politischen Denker zu Beginn des 20. Jahrhunderts,, als früher Repräsentant eines ‘Befreiungsnationalismus’, der in den späteren Epochen eine immer größere Rolle spielt, – da musste man erst mal drauf kommen – obwohl es danach auf der Hand zu liegen scheint.
FD: Aus der Sicht der Peripherie ist das 20. Jahrhundert durch den Zusammenbruch bzw. die Auflösung der großen Kolonialreiche – in erster Linie des British Empire – und durch die antikolonialen und antiimperialistischen Befreiungsbewegungen (gegen das neoimperialistische „American Empire“) charakterisiert. Das 20. Jahrhundert ist so eine Epoche der Staatenbildung, ideologisch verbunden mit dem (durchaus widersprüchlichen) „Befreiungsnationalismus“ – die Anzahl der formell unabhängigen Staaten steigt von 48 um das Jahr 1900 auf knapp 200 in 2000. Dieser Prozess konzentriert sich auf die armen und peripheren Regionen der „Dritten Welt“ sowie auf Ost- und Südosteuropa (Auflösung der Vielvölkerstaaten: Osmanisches Reich, Habsburger Monarchie, UdSSR, Jugoslawien). Damit sind neue Widersprüche und gewaltsame Konflikte verbunden, die dieses Jahrhundert nachhaltig bestimmen. Dass ich im 1. Band den Präsidenten der chinesischen Republik des Jahres 1911, Sun Yat-sen, ausgewählt habe, und im 2. Band auf Mao eingehe, ist der Überlegung geschuldet, dass ich neben dem Hegemoniezyklus des „American Empire“ die Entwicklung Chinas zumindest in groben Zügen herausarbeiten möchte: die Krise China seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, ausländische Invasion und Demütigung, Sturz des Kaisertums, Bürgerkrieg und Krieg gegen Japan – dann: beginnender Wiederaufstieg Chinas seit dem Sieg der Kommunisten im Jahre 1949 und schließlich im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts (nach dem Tod Maos und der Krise der Kulturrevolution) mit den sog. Deng Xiao-ping-Reformen der rasante ökonomische Aufstieg Chinas als Folge der Öffnung zum kapitalistischen Weltmarkt. Im 4. Band steht diese Entwicklung im Mittelpunkt des einführenden Kapitels über die „neue Weltordnung’“, das Ende der Bipolarität und der Pax Americana.
WG: Du hast schon relativ früh, in den 1970er Jahren, die Beschränkung der Analyse des Politischen auf die nationale Dimension überwunden, z.B. in den Arbeiten zur EU, aber Du hattest, so scheint es mir jedenfalls, anders als etwa Dein ‘Kampfgefährte’ Dieter Boris, bis dahin keine besonders enge Beziehung zu den sozialen Kämpfen in der damals so genannten ‘Dritten Welt’ und damit wohl auch nicht zu den ja damals schon publizierenden Vertretern der kapitalismuskritischen ‘Weltsystemtheorie’ (Samir Amin, André Gunder Frank, Immanuel Wallerstein …). Erst die ‘Neo-Gramscianer’ (Cox, Gill, van der Pijl u.a.) scheinen Dir in den 1980er Jahren mit ihrem nicht-ökonomistischen oder nicht-reduktionistischen Politikansatz das Feld der internationalen Politik und die globale Perspektive so zugänglich gemacht zu haben, dass sie nunmehr zu einem tragenden Prinzip Deiner Darstellung des politischen Denkens im 20. Jahrhundert werden konnte.
FD: Nun, ich muss diesen Eindruck etwas korrigieren. In den 60er Jahren haben wir – noch als Studenten – in Marburg in einer Arbeitsgruppe mit Dieter Boris, Kurt Steinhaus und mir (unter der Leitung von Kai Tjaden) über Probleme der Unterentwicklung und der antikolonialen Befreiungskriege und Revolutionen gearbeitet. „Das Argument“ (Nr. 34/1965 und ein nachfolgendes Heft) enthielt Ausätze u.a. zur „Vorgeschichte des ‚underdevelopment’ und der ‚nationalen Befreiung’ sowie „Zur Theorie der sozioökonomischen Emanzipation von Entwicklungsgesellschaften“, von Steinhaus, Tjaden und mir; Dieter Boris schrieb im nachfolgenden Heft. Gleichzeitig galten wir (vor allem Kurt Steinhaus mit seinen Arbeiten über Vietnam und die Theorie des internationalen Klassenkampfes, die zeitweilig stark von Lin Biao inspiriert war) im SDS um die Mitte der 60er Jahre als Experten für den Vietnam-Krieg (wir hielten Referate bei SDS-Gruppen; ich hatte die Begleitbroschüre zur Wanderausstellung des SDS über den Vietnam-Krieg verfasst). Sogar Rudi Dutschke kam gelegentlich nach Marburg, um mit uns nächtelang sowohl über die russische Revolution von 1917 (es gab da eine Forschergruppe in Marburg um den Osteuropahistoriker Richard Lorenz, mit Gert Meyer z. B.) und über Revolutionen in der „Dritten Welt“ zu diskutieren. Wir hatten uns mit Schriften von Frantz Fanon, Ché Guevara, Mao, Giap, aber auch mit der algerischen FNL oder mit der Revolutionstheorie von Kwame Nkrumah aus Ghana auseinandergesetzt, bevor sie von den Pseudo-Revolutionären des Jahres 68 gierig aufgegriffen wurden; wir bestanden allerdings stets auf den Grenzen der Übertragbarkeit dieser „Modelle“ auf die Metropolen des Kapitals.
Der Hinweis auf die „Entdeckung“ der neogramscianischen Internationalen Politische Ökonomie, die durch Robert W. Cox begründet wurde, ist freilich richtig. Ich hatte mit der Gründung der Forschungsgruppe Europäische Gemeinschaften (FEG) – in Zusammenarbeit mit Klaus-Peter Weiner, dann mit Hans-Jürgen Bieling – Ende der 80er Jahre die Arbeit an der Entwicklung der europäischen Integration wieder aufgenommen. Nunmehr – in der Umbruchsperiode der Jahre 1989/91, aber auch angesichts des sog. „Binnenmarktprojektes 92“[12] – zeichnete sich die Europapolitik durch eine neue Dynamik aus. Mit dem Ende des Kalten Krieges und der Systemkonkurrenz war die Frage nach der „neuen Weltordnung“ gestellt. In meiner Schrift „Jenseits der Systemkonkurrenz. Überlegungen zur neuen Weltordnung“ (1991) bin ich am Schluss auf den Artikel von Robert Cox: „Gramsci, Hegemonie und internationale Beziehungen“ (1983)[13] eingegangen. Er schreibt: „Auf der internationalen Ebene bedeutet Hegemonie nicht bloß eine Ordnung zwischen Staaten (die durch ökonomische und militärische Macht definiert ist, F.D.). Sie bedeutet vielmehr eine Ordnung in der Weltwirtschaft mit einer dominanten Produktionsweise, die alle Länder durchdringt und diese mit untergeordneten Produktionsweisen verknüpft. Sie bedeutet zugleich einen Komplex der internationalen gesellschaftlichen Beziehungen, der die gesellschaftlichen Klassen verschiedener Länder miteinander verbindet.“ Die Pax Americana war eben nicht allein auf die fordistische Produktionsweise und die militärische Macht der USA, sondern auch auf das ausstrahlungsfähige Modell des „American Way of Life“, d.h. einer entwickelten Variante des Konsumkapitalismus und der „Kulturindustrien“ (Adorno/Horkheimer) begründet. In unseren Arbeiten zur Europäischen Union haben wir uns – bis in die Gegenwart[14] – mit der These auseinandergesetzt, dass die neue Dynamik der europäischen Integration seit Mitte der 80er Jahre die Antwort „der Europäer“ auf (a) die „Globalisierung“ (d.h. den „globalen Finanzmarktkapitalismus“) und (b) auf die Neustrukturierung der Weltordnung nach dem Ende des Zeitalters der Bipolarität ist.[15] Der letzte Band des „Politischen Denkens“ ist u.a. dieser Thematik gewidmet.
Die Epochen und ihre Repräsentanten
WG: Nun zu den einzelnen Bänden. Im Vorwort zum 4. Band schreibst Du – ich zitiere jetzt einmal etwas länger, obwohl damit einiges, was wir schon besprochen haben, noch einmal aus Deiner Sicht prägnant wiederholt wird:
„Die bisher vorgelegten Bände folgten einer einheitlichen Systematik. In einem ersten Teil wurde der Charakter der Epoche (der Übergang von der Belle Époque zur Katastrophe des Ersten Weltkrieges; der ‘Dreißigjährige Krieg’ von 1914 bis 1945; der Kalte Krieg und die Konfrontation der Systeme) herausgearbeitet, der sich aus den widersprüchlichen Bewegungsformen kapitalistischer Vergesellschaftung, den damit verbundenen Krisen und Konflikten sowie aus den Formen der politischen Artikulation auf der Ebene der Kräfteverhältnisse zwischen den Klassen als auch — auf der Ebene der globalen Politik — zwischen den Staaten und Staatengruppen ableitet. In einem zweiten Teil wurden jeweils bedeutende Repräsentanten der Hauptströmungen des politischen Denkens der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft — Konservatismus, Liberalismus und Sozialismus — vorgestellt und diskutiert. Dabei wurde zunächst einmal der Wandel des politischen Denkens im Kontext der zeit- und weltgeschichtlichen Herausforderungen deutlich; andererseits wurde — vor allem an Vertretern des sozialistischen Denkens — die ideologische, aber auch räumliche Differenzierung zwischen verschiedenen Strömungen und Richtungen berücksichtigt. Für jede Epoche wurde außerdem jeweils ein Repräsentant des ‘American Century’ und der antikolonialen bzw. antiimperialistischen Befreiungsbewegungen aus der (früher so genannten) ‘Dritten Welt’ vorgestellt.“
Ich gehe zunächst auf das von Dir genannte Hauptgliederungsmerkmal ein, das den ersten Teils der Bände ausmachen soll, auf die ‘Charakterisierung der Epochen’. Hier handelt es sich ja in gewisser Weise um eine ‘verdichtete’ historische Darstellung oder vielmehr um eine ‘Bilanzierung’ der jeweiligen Epochen. Mir scheint aber, dass Du dabei gelegentlich die ‘Optik’ änderst, einmal betrachtest Du die Epoche eher real-historisch, ein anderes Mal vor allem als Ideenhistoriker, und zwar nicht nur im zweiten Teil, sondern durchaus auch schon im ersten. Mir fiel auf, dass Du die großen ‘Ereignisse’ des 20. Jh., also die beiden Weltkriege, die Oktoberrevolution und den Zusammenbruch des Realsozialismus eigentlich nicht selbst, sondern vor allem in ihrer Wirkung auf die jeweils nachfolgende Epoche, und dabei wiederum vorwiegend auf die politische Ideengeschichte dieser Epoche behandelst. Beispielhaft hierfür scheint mir die Darstellung der Wirkung des ersten Weltkriegs und der Oktoberrevolution auf die Epoche zwischen den Kriegen, wie sie dann im zweiten Band erfolgt. Nicht grundsätzlich anders scheint es sich mir auch mit dem zweiten Weltkrieg oder dem Zusammenbruch des Realsozialismus zu verhalten. Kurz: Gerade diese Ereignisse werden von Dir weniger hinsichtlich ihrer Ursachen oder ihres faktischen Verlaufs als vielmehr in ihrer Folgewirksamkeit analysiert.
FD: Mir geht es in dem jeweiligen ersten Teil in der Tat nicht um eine chronologische Rekonstruktion der politischen oder der wirtschaftlichen Entwicklung. Zweifellos sind die Epochen geprägt durch die Kriege und Revolutionen (am Ende der Kriege) sowie durch die ökonomischen Krisenzyklen, einschließlich der „Großen Krisen“. Deren Resultate bestimmen die Veränderung von Weltordnung ebenso wie die inneren gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse, die ihrerseits den „Geist der Zeit“, die Diskurse der Selbstbeschreibung von Gesellschaft und Kultur (in der Philosophie, den Sozialwissenschaften, vor allem aber in der Literatur) bestimmen. Daher vermischen sich in diesen Einleitungskapiteln immer auch Aspekte der Real-, der Ideen- und der Kulturgeschichte (einschließlich einiger Fußnoten zum Jazz, der selbstverständlich auch kultureller Bestandteil des „American Century“ ist).
Ich will es mal am Beispiel des 1. Kapitels des 2. Bandes („Die Zwischenkriegsperiode – oder: der ‘Dreißigjährige Krieg’ 1914 – 1945“) verdeutlichen. Ich gehe zunächst auf die Bedeutung des Krieges, der „Zeitenwende“ von 1914 ein, die ein langes Zeitalter der bürgerlichen Stabilität und Selbstbewusstheit beendet. Die Begeisterung für den Krieg, die vor allem auch die Intellektuellen erfasste, schlug bald in die Erfahrung des Grauens der Materialschlachten um. Diese Lebenserfahrung leitete kulturell eine Epoche der „Kälte“ (Lethen) und des Nihilismus ein. Der Krieg veränderte mit der „Selbstzerstörung des europäischen Zentrums der Welt“ und dem Aufstieg der USA und der Sowjetunion nach dem Kriege die Ordnung der Welt; wobei durch die Rivalität der imperialistischen Staaten (von denen der deutsche Imperialismus der aggressivste von allen war) und die Selbstbehauptung der Sowjetunion schon der Zweite Weltkrieg vorbereitet wurde. Zugleich radikalisierten sich im Krieg die politischen Ideologien – Revolution und Gegenrevolution drängten den Liberalismus und den Reformsozialismus (zumindest Europa) an den Rand. Die Gewalterfahrung des Krieges und der Revolutionen liegt gleich einem Schatten über der gesamten Epoche (natürlich in unterschiedlichen nationalen Ausprägungen) und erreichte mit dem Terror des Faschismus, aber auch mit der Gewaltpolitik des Stalinismus ihren Höhepunkt. Gleichwohl waren es weder die „Ideologien“ noch die Blüte des philosophischen und kulturellen Nihilismus in der Zwischenkriegsperiode, die solche Gewaltpolitik erzeugten, sondern die Krise der bürgerlichen Welt selbst und die darin eingeschriebene Gewaltlogik des (nationalen wie des internationalen) Klassenkampfes.
In den weiteren Abschnitten dieses Einleitungskapitels gehe ich dann auf „Organisationsprobleme der Massengesellschaft“ sowie auf die „kapitalistische Weltwirtschaft zwischen den Kriegen“ ein. Damit werden zentrale (vor allem konservative) Diskurse der Zeit thematisiert, die den Niedergang der bürgerlichen Kultur als den Aufstieg der „Massengesellschaft“ bzw. den „Aufstand der Massen“ interpretieren. In den USA hingegen setzt sich ein Modell des Kapitalismus durch, der einerseits über relativ stabile demokratische Strukturen verfügt, andererseits neue Formen der Massenproduktion, des Massenkonsums und der Massenunterhaltung – als Merkmale einer neuen kapitalistischen Formation, die nach dem Zweiten Weltkrieg im Westen dominierte – hervorbringt. Die Weltwirtschaftskrise nach 1929, die auch den US-amerikanischen Kapitalismus erfasste, befördert in Europa – und namentlich in Deutschland – den Aufstieg des Faschismus – in den USA hingegen bilden sich (New Deal) frühe Formen einer staatlichen Regulation der Wirtschaft und des Arbeitsmarktes heraus. Da die Sowjetunion nicht von der Weltwirtschaftskrise betroffen ist, wird auch im Westen die Bedeutung der staatlichen Regulation der Wirtschaft, des öffentlichen Eigentums, der aktiven Konjunktur- und Arbeitsmarktpolitik sowie von Wirtschaftsplanung (von der Linken verbunden mit Programmen der Wirtschaftsdemokratie) deutlich aufgewertet.
Vor dem Hintergrund dieses zeitdiagnostischen Rahmens stelle ich dann wichtige Repräsentanten des politischen Denkens vor:
– Carl Schmitt, der vom konservativen Verteidiger des
starken Staates zum „Kronjuristen“ des Faschismus
degeneriert. Die Krise der Politik erscheint ihm als Versagen des
Liberalismus und des demokratischen Staates im
„Ausnahmezustand“, der durch Gewalt zwischen den
imperialistischen Staaten,
aber auch durch die lauernde Gefahr der proletarischen Revolution
im Inneren charakterisiert ist.
– Antonio Gramsci, der sich vor allem in den „Kerkerheften“ mit dem Scheitern der bolschewistischen Revolution im Westen (nach 1917) auseinandersetzt und dabei Elemente einer neuen kommunistischen Strategie des „Kampfes um die Macht“ reflektiert.
– Rudolf Hilferding, führender Theoretiker und Politiker der Sozialdemokratie, der den „organisierten Kapitalismus“ und die „Wirtschaftsdemokratie“ als Schritte zum Sozialismus begreifen möchte, aber gleichzeitig die Koalitionspolitik der Sozialdemokratie in der Weimarer Republik mit konservativ-nationalistischen Kräften verteidigt.
– Die frühe „Frankfurter Schule“ (um Max Horkheimer), die – auch vor dem Hintergrund der Faschismusanalyse – die theoretische Kritik am Kapitalismus radikalisiert, aber sich zugleich von der praktischen Auseinandersetzung mit den bestehenden Herrschaftsverhältnissen immer mehr zurückzieht; damit wird die „kritische Theorie der Gesellschaft“ zu einer bedeutsamen Variante des „westlichen Marxismus“ (Perry Anderson).
– John Maynard Keynes, der große britische Ökonom und Mitglied der liberalen Partei, der in seinem theoretischen Werk die Notwendigkeit der staatlichen, d.h. politischen Regulation des Kapitalismus begründet, um zu verhindern, dass sich die großen Krisen schließlich auch zu einer revolutionären Überwindung des Kapitalismus (nach dem Vorbild der Sowjetunion) steigern.
– Walter Lippmann, einer der einflussreichsten Journalisten der USA, der über einen langen Zeitraum die Notwendigkeit einer weltpolitischen Führungsrolle der USA betont und sich von einem eher links orientierten Demokraten zu einem scharfen Gegner der Roosevelt’schen New-Deal-Politik wandelt und in diesem Zusammenhang einen wichtigen Beitrag für den frühen Aufbau einer „Front“ von liberalen Ökonomen (um Hayek u.a.) gegen den Keynesianismus geleistet hat. Lippmann betont allerdings auch die Grenzen der Demokratie im Hinblick auf die Entscheidungen der Legislative und Exekutive vor allem im Bereich der Außenpolitik.
– Schließlich Mahatma Gandhi und Mao Zedong – sehr unterschiedliche Staatengründer in kolonialen bzw. halbkolonialen Riesenstaaten, deren Unabhängigkeit schließlich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts Einfluss auf die Weltordnung nehmen wird.
WG: Auf den dritten Band, der die Periode des Kalten Krieges (1945-1989/91) zum Gegenstand hat, möchte ich jetzt noch einmal gesondert eingehen; nicht nur wegen seines Umfangs (in zwei Büchern), sondern wegen der besonderen Probleme, die dort behandelt werden – vor allem natürlich auch, weil diese weitgehend in unsere eigene Lebenserfahrung fallen oder fielen und weil sie die unmittelbaren Voraussetzungen für die Probleme des frühen 21. Jahrhunderts schufen.
Obwohl es in dieser relativ langen Periode keine herausragenden weltgeschichtlichen Ereignisse gab – vielleicht bildet die Gründung der VR China hier eine gewisse Ausnahme –, jedenfalls keine katastrophischen, wie sie die erste Hälfte des Jahrhunderts geprägt hatten, so erweist sich diese Epoche auf lange Sicht möglicherweise kaum weniger revolutionär als die vorangegangenen – nämlich hinsichtlich der grundlegenden ökonomischen, sozialen, politischen und kulturellen Strukturveränderungen gegenüber der Welt von vor 1945 – die mir im Rückblick manchmal dem 19. Jahrhundert ähnlicher erscheint als dem 21. Jahrhundert.
Einige dieser grundlegenden Strukturveränderungen möchte ich kurz benennen:
– Die anti-imperialistischen nationalen Befreiungsbewegungen – und der Neo-Imperialismus;
– die wissenschaftliche-technische (mikroelektronische) Revolution, und als deren Folge:
– die sozial-strukturellen Veränderungen vor allem in den Metropolen des Kapitals.
Du behandelst diese Thematiken im ersten Teil des 3. Bandes (Buch 3.1) ausführlich und gehst dabei auch auf zahlreiche Autoren als wissenschaftliche Analytiker dieser Prozesse ein. Im zweiten Teil (Buch 3.2), der einzelnen repräsentativen politischen Denker/innen gewidmet ist, findet sich zwar eine relativ ausführliche Würdigung Ernesto Che Guevaras, als theoretischer und praktischer Repräsentant anti-imperialistischer Befreiungsbewegungen – aber, so jedenfalls meine Meinung, keiner der in diesem Teil behandelten weiteren politisch-konzeptionellen Denker/innen reflektiert die beiden anderen oben genannten Strukturveränderungen; möglicherweise weil sie – mit der Ausnahme von Galbraith – in ihrer Lebenszeit diese grundlegenden Veränderungen allenfalls in ihren Anfängen noch erlebt hatten. Abendroth und Arendt haben beispielsweise die Anfänge der damals so genannten ‘Automation’ sehr wohl reflektiert, konnten aber ihre ‘revolutionären’ Auswirkungen noch nicht wirklich vorhersehen, oder haben sie – wie Arendt, die sich davon die mehr oder weniger endgültige Lösung der ‘sozialen Frage’ erwartet hatte – sogar gründlich missverstanden, weil sie die Bedeutung der kapitalistischen Form des Produktionsprozesses nie wirklich begriffen hatte.
FD: Bei dem Verfahren, das ich in den ersten drei Bänden anwende, gibt es natürlich ein großes Problem: die Kriterien für die Auswahl der Personen, die in einem eigenen Kapitel behandelt werden. Die ersten kritischen Fragen von LeserInnen bezogen sich in der Regel auf dieses Problem: Warum wurde Leo Trotzki (im 1. oder im 2. Band) übergangen? Und Rosa Luxemburg hätte doch auf jeden Fall im 1. Band ihren Platz verdient. Da ich nur einen Vertreter des revolutionären Marxismus am Anfang des 20. Jahrhunderts in den ersten Band aufnehmen wollte, entschied ich mich für Lenin – ich denke, dass diese Entscheidung durchaus zu vertreten ist! Aber, es ist richtig, mit der Beschränkung auf wenige Personen werden zweifellos wichtige Facetten des politischen Denkens in der jeweiligen Epoche unterbelichtet.
Gelegentlich versuche ich, dieses Dilemma durch eingeschobene Exkurse zu modifizieren. Im 2. Band habe ich z. B. im Kapitel über Walter Lippmann einen Exkurs über die „Gründung der Mont-Pélérin-Gesellschaft“ eingefügt, in dem ich auf Hayek („Der Weg zur Knechtschaft“, 1944) und Karl Popper („Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“, 1945) eingehe – zwei bedeutende Vertreter des ökonomischen und politischen Liberalismus, die allerdings nach 1945 zunächst – angesichts der Übermacht des Sozialismus und Keynesianismus – „Rufer in der Wüste“ blieben (Hobsbawm), bis sie dann in den 70er Jahren mehr und mehr zu den Leitfiguren der „neoliberalen Konter-Revolution“ avancierten. Diese Entwicklung habe ich im Teil 1 des 3. Bandes in einem Abschnitt über den „Sieg des Neoliberalismus“ behandelt, in dem ich auch auf Milton Friedman eingehe. Im Kapitel über Sartre und Simone de Beauvoir habe ich unter der Überschrift „zerbrochene Freundschaften“ Exkurse über Raymond Aron und Albert Camus eingebaut. Wenn ich das Lenin-Kapitel noch einmal zu schreiben hätte, würde ich wahrscheinlich ebenso verfahren und z. B. Exkurse über „Lenin und Trotzki“ sowie „Lenin und Rosa Luxemburg“ einfügen.
WG: Das Verfahren, hier vornehmlich auf die tatsächlichen oder bloß vermeintlichen Defizite oder Problemfälle einzugehen, ist an sich unfair, nicht nur Dir gegenüber, sondern auch gegenüber dem Leser, der so nicht erfährt, was und wer von Dir ausführlich behandelt wird.
Mich interessieren hier nun aber besonders die ‘Probleme’ – damit ist auch geklärt, dass nicht nur die Antworten subjektiv sind, sondern ebenso sehr die Fragen. In diesem Sinne ist mir im zweiten Band („Politisches Denken zwischen den Weltkriegen“) aufgefallen, dass Du Walter Lippmann als Vertreter des ‘American Century’ behandelst, eine Wahl, die manche überraschen wird, die Du aber sehr gut begründen kannst, vor allem durch Lippmanns Wirkung auf den später so genannten Neo-Liberalismus. Allerdings bleibt dann das Problem, wieso im zweiten und nicht erst im dritten Band, und weiter: kann man Hayek, Popper, Friedman und Co. als politische Denker tatsächlich vor allem in der Nachfolge Lippmanns behandeln oder hätte nicht zumindest Hayek oder Friedman im dritten Band ein eigenes Kapital ‘verdient’?
FD: In dem erwähnten Exkurs im Lippmann-Kapitel wird schon deutlich, dass Hayek und Popper nicht als „Nachfolger“ Lippmanns, sondern innerhalb ihrer Disziplinen – der Ökonomie, der Philosophie und der Sozialwissenschaften – als eigenständige Denker von außerordentlicher Wirkung anzusehen sind. Deine Frage berührt aber noch ein weiteres Problem des 3. Bandes über den Kalten Krieg, der ja in zwei Teilen erschienen und deshalb auch besonders umfangreich geraten ist (ich begründe das mit der Länge des Zeitraumes 1945 – 1991 und mit meiner eigenen Biographie, die dieser Epoche angehört). Dieser Band gliedert die Epoche in drei Perioden: die Hoch-Zeit des Kalten Krieges und des „Golden Age“, die Zeit des Übergangs und der Erosion der alten Ordnung (1965 – 1975) sowie die neoliberale „Gegen-Revolution“ und der Zusammenbruch des „Realsozialismus“. Relativ ausführlich befasse ich mich mit dem Jahr 1968 sowie mit den Klassenkämpfen und der Linksverschiebung in den 70er Jahren – bis hin zur Begründung der These, dass die politische Linke und die Arbeiterbewegung in der zweiten Hälfte der 70er Jahre darin versagt haben, dass sie die tiefgreifenden Strukturveränderungen in der Gesellschaft sowie den Strategiewechsel der herrschenden Klasse (der sich dann in der Politik des Neoliberalismus verdichtete) nicht ausreichend erkannt und strategisch reflektiert haben. Dennoch sehe ich eine Schwäche bei der Auswahl der Personen, die im Teil 2 vorgestellt werden, darin, dass sie doch alle (mehr oder weniger) der ersten Periode zuzurechen sind, dass (mit Ausnahme des jungen Che Guevara) ihre Lebenserfahrungen durch das „Zeitalter der Katastrophen“ (Weltwirtschaftskrise, Faschismus, Krieg, Holocaust) bestimmt waren. Für die Entwicklungen seit den 70er Jahren (vor allem, im Hinblick auf die Reflexion gesellschaftlicher Strukturveränderungen) sind z. B. Soziologen und Philosophen wie Anthony Giddens und Jürgen Habermas bedeutsam – auch die Autoren aus dem Kreis der „Weltsystemtheorie“ um Immanuel Wallerstein (wie Giovanni Arrighi oder Samir Amin) – oder Vertreter der neogramscianischen Internationalen Politischen Ökonomie (wie Robert W. Cox, Stephen Gill) kommen dann im letzten 4. Band zu Wort. Auch der Papst Benedikt (alias Ratzinger), der im 4. Band als Vertreter konservativen Denkens par excellence behandelt wird, hat als „Ideologiechef“ des Vatikans seit den frühen 80er Jahren gewirkt. Schließlich widme ich der „Theologie der Befreiung“ – eigentlich eine Strömung / Bewegung der 70er Jahre – im 4. Band (im Sozialismus-Kapitel) einen eigenen Abschnitt.
WG: Und noch eine Frage zum dritten Band, die unsere Generation ja insbesondere betrifft: Du schätzt, soweit ich sehe, die kulturellen Veränderungen – um nicht zu sagen: die ‘Kulturrevolution’ – der späten 1960er Jahren (1968) und ihre Folgen insgesamt eher zurückhaltend ein. Einige Momente erscheinen mir aber doch auch hier erwähnenswert: Die kurze Blüte des ‘Marxismus im Westen’, die ‘zweite’ Frauenbewegung, die Ökologie- und die Friedensbewegung. Hier gilt – m.E. ähnlich wie vorhin – dass von den von Dir ausgewählten ‘Denkern’, mit der bemerkenswerten Ausnahme von Simone de Beauvoir und ihrer Rolle in der ‘zweiten’ Frauenbewegung, keine/r für die später so genannten ‘sozialen Bewegungen’, die ja in gewisser Weise Ausdruck des sozial-strukturellen Wandels sind, wirklich repräsentativ ist.
FD: Nun, ich setze mich sehr ausführlich mit der „Kulturrevolution“ seit 68 und mit den „neuen sozialen Bewegungen“ der 70er Jahre auseinander. Vielleicht hätte ich André Gorz (für die Alternativbewegung) oder Nancy Fraser (für den Feminismus) aufnehmen sollen. Selbstverständlich habe ich mich mit der Frage beschäftigt, ob und wo Michel Foucault zu behandeln wäre. Seine Analysen der Macht (Kontroll- und Disziplinargesellschaft) sind gewiss außerordentlich wichtig; sein politisches Engagement blieb jedoch sporadisch und seine politische Wirkung beschränkte sich eher auf akademische Milieus. Ich gestehe jedoch, dass ich auf dem Gebiet des Poststrukturalismus Defizite habe. Allerdings haben wiederum Habermas und Giddens (oder auch Ulrich Beck mit der „Risikogesellschaft“) seit den frühen 80er Jahren versucht, ihren theoretischen Ansatz der Gesellschaftsanalyse mit der politischen Orientierung auf die „neuen sozialen Bewegungen“ zu verbinden. Ebenfalls im 4. Band – im 3. Kapitel („Climate Change“) – gehe ich auf die Berichte über die „Grenzen des Wachstums“ (seit 1972) und die „dramatische Krise des Klimawandels“ (Human Development Report 2007) ein, also auf jene Texte, die in der Ökologiebewegung eine zentrale Rolle gespielt haben. .
Allerdings teile ich nicht die Auffassung von Toni Negri, dass die „Revolution von 1968“ eigentlich immer weiter gegangen sei (und wir fast schon im Kommunismus angekommen sind). Ich schließe mich daher eher den Thesen von Boltanski/Chiapello („Der neue Geist des Kapitalismus“) an, die dem neuen „flexiblen“ und „globalen Kapitalismus“ die Fähigkeit zuschreiben, Elemente des Selbstverständnisses der neuen sozialen Bewegungen (der 70er Jahre) in die Führungsstrategien moderner Unternehmen bzw. in die herrschende Alltagskultur des Neoliberalismus zu integrieren. Der „radikale Gründungsimpuls“ der neuen sozialen Bewegungen war im Übergang zu den 80er Jahren schon mehr und mehr verloren gegangen – die Entwicklung der Partei „Die Grünen“ und der Sieg der sog. Realos hat solche Prozesse noch beschleunigt. In dem Maße, wie die Ideologen der neuen sozialen Bewegungen auf eine kritische Kapitalismusanalyse, auf Klassenanalyse und auch auf eine Kritik des Staates verzichtet haben und der Mainstream der Sozialwissenschaften sich der Diskursanalyse, dem Rational Choice und der Kulturalisierung verschrieben hatte, ging auch der kritische Impuls dieser Bewegungen mehr und mehr verloren. Der einstige anti-etatistische Anarchismus der linksradikalen 68er (z. B. von Daniel Cohn-Bendit) eignete sich vorzüglich als Brücke zum (gelegentlich durchaus libertären) Anti-Etatismus der neoliberalen Deregulierungsphilosophie. Außerdem bleibt bei mir – als einem Intellektuellen, der über Wolfgang Abendroth seine wissenschaftliche und politische Arbeit stets mit dem linken Flügel der real existierenden Arbeiterbewegung verbunden hat – immer ein gewisses Misstrauen gegenüber jenen (einst linksradikalen) Angehörigen der Mittelklassen, denen die wirklichen Arbeits- und Lebensbedingungen der Masse der LohnarbeiterInnen stets fremd geblieben sind und die daher die Bedeutung der „sozialen Frage“ – als Klassenfrage – niemals zu begreifen vermochten.
WG: Im dritten Band (Buch 3.2) scheinen mir Abendroth, als Repräsentant für die Verbindung von Demokratie und Sozialismus, sowie Che Guevara für die anti-imperialistischen Revolutionen weitgehend unstrittig. Zugleich stellen sich mir aber mehrere Fragen: Zunächst Hannah Arendt. Wofür, d.h. für welche Strömung oder für welchen ‘historischen Block’ steht sie eigentlich? Gewiss, auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges, in den 1950er Jahren konnte man sie vor allem als Vertreterin der Totalitarismustheorie begreifen und als solche war sie ‘Partei’ im Kalten Krieg. Damit ist aber gerade nicht ihre erstaunliche Wirkung vor allem nach dem Ende dieses Krieges zu erklären, und schon gar nicht ihre Resonanz bei denjenigen, die gerade nicht zu den erklärten Kalten Kriegern gehörten – bei einem eher jüngeren, intellektuelleren politischen Publikum. Liegt es an der ‘Tiefe’ ihres Denkens respektive ihres an Aristoteles angelehnten Politikbegriffs, oder, wie ich eher vermuten würde, gerade an ihrer Nicht-Zugehörigkeit zu den traditionellen Strömungen, so dass sie offen scheint für die Suche nach neuen freiheitlichen Politikformen, wie sie offenbar seit längerem und vor allem in unserer unmittelbaren Gegenwart rund um den Globus gesucht werden?
Nicht ganz selbstverständlich erscheint mir auch die Aufnahme von Galbraith einerseits und Sartre andererseits – bei Simone de Beauvoir habe ich hingegen keine Probleme, da ihre Bedeutung für die moderne Frauenbewegung m.E. unstrittig ist. Ich schätze Galbraith als Analytiker und Kritiker des amerikanischen Kapitalismus durchaus, aber in welchem Sinne ist er ein politisch-konzeptioneller Denker? Wäre ein eigenes Kapitel für John Rawls, der ja m.E. eine vergleichbare (amerikanisch-sozialdemokratische) Position vertritt, nicht eher zu rechtfertigen? Rawls behandelst Du etwas stiefmütterlich auf wenigen Seiten im Kapitel zu Arendt. Und Sartre? Hier liegt die Problematik sicher anders, seine ungeheure Wirkung als engagierter Intellektueller ist unbestreitbar. In diesem Sinne ist er aber eher indirekt ein politischer Denker, seine in einem unmittelbaren Sinne politischen Aktionen verdienen dagegen m.E. eine so prominente Behandlung nicht. Für Sartre ist m.E. – ähnlich wie bei Hannah Arendt – die Frage zu stellen, wofür, für welche Strömung oder für welchen ‘historischen Block’ er eigentlich steht. Mir scheint, dass sich – und hier im Unterschied zu Arendt – seine Position, die Propagierung der autonomen Freiheit des Einzelnen, nicht so einfach auf die gegenwärtige politische Situation projizieren lässt, in der ja offenbar die eher arendtsche Frage nach Sinn und Möglichkeit des gemeinsamen Handelns im Vordergrund zu stehen scheint.
FD: Hannah Arendt hat mit ihrem Totalitarismusbuch einerseits einen Klassiker der Kalten-Kriegs-Literatur und des Antikommunismus (zumindest in seiner Wirkung) verfasst, obwohl sie Faschismus und Kommunismus nicht gleichgesetzt hat und das gesamte Jahrhundert der Gewalt im Blick hatte. Andererseits galt sie vielen (auch schnell gewendeten Ex-Marxisten) als die bedeutendste politische Philosophin des 20. Jahrhunderts, die nach 1991 vor allem im Kontext der Transformationsforschung – mit ihrer Betonung der republikanisch verfassten Zivilgesellschaft – (nicht nur in Osteuropa) neu rezipiert wurde. Mich interessiert vor allem, wie sich bei Hannah Arendt verschiedene Elemente des konservativen, des liberalen, sogar des sozialistischen Denkens verbinden, wobei ich dies in der Einleitung zu diesem Kapitel u.a. auf den ungelösten Widerspruch zwischen den realen Vergesellschaftungstendenzen (auch der Politik) auf der einen und dem Anspruch auf die Autonomie und Freiheit des Individuums auf der andere Seite zurückführe. Diese Verzweiflung über den Niedergang des bürgerlichen Individuums als Träger auch der politischen Vernunft, die sich im öffentlichen Diskurs realisiert, kennzeichnet nicht nur die pessimistische Zeitdiagnose von Hannah Arendt, sondern auch – um nur ein Beispiel zu nennen – die „Dialektik der Aufklärung“ von Horkheimer und Adorno – und sie ist (wie im 1. Band gezeigt wurde) auch bei Max Weber („Stählernes Gehäuse der Hörigkeit“) angelegt. Die Diagnose der Krisen des 20. Jahrhunderts übernimmt Arendt von ihren Lehrern Heidegger und Jaspers: Technisierung und Vermassung bilden in letzter Instanz die Grundlage der Entfremdung des Menschen und damit der totalitären Gewaltregime. Diese Deutung der Krise der Moderne – zusammen mit der rigiden Ablehnung soziologischen Denkens und der naiven Auffassung, dass die „soziale Frage“ in den USA oder in Westeuropa zumindest gelöst sei – ist durch und durch konservativ und elitär. Daneben stehen ihre positive Rezeption von Rosa Luxemburg (die sie freilich nicht gründlich studiert hat) und ihre positive Bewertung der Rätebewegungen in den neuzeitlichen Revolutionen. Auch im Totalitarismusbuch finden sich – z. B. im Abschnitt über den „Imperialismus“ (auf den sich immer wieder David Harvey bezieht) oder in den Kapiteln über Antisemitismus, Rassismus und die „Staatenlosen“ – wichtige Beiträge zur Analyse einer Welt, die von Diktatur, Gewalt, Vertreibung, Lagern und Völkermord geprägt ist.
Galbraith habe ich aufgenommen, weil er (a) mit seinen eher populärwissenschaftlichen Schriften die Vorherrschaft des keynesianischen Denkens im „Golden Age“ repräsentiert und die Wirtschaft wie die Politik als ein System der „countervailing powers“ betrachtete. Dazu personifiziert er (b) jenes linksliberale Denken in den USA, das durch die Erfahrungen der Weltwirtschaftskrise und des New Deal, aber auch durch die spezifische Struktur des US-amerikanischen Kapitalismus (Giant Corporations; Warfare Capitalism) geprägt wurde. Außerdem hat er (c) früh auf die Widersprüche zwischen privatem Reichtum und öffentlicher Armut sowie auf die Gefährdungen der Umwelt durch den Konsumkapitalismus hingewiesen. Schließlich war er (d) ein scharfer Kritiker der atomaren Hochrüstung und des „militärisch-industriellen Komplexes“, setzte sich für Abrüstung und die Politik der Entspannung gegenüber der Sowjetunion ein. Er vertrat sogar (e) Ansätze einer „Konvergenztheorie“, die besagte, dass sich die Systeme in Ost und West als Folge der wirtschaftlichen Entwicklung immer mehr angleichen (mehr Markt im Osten, mehr Staat im Westen). Zuletzt war er dann einer der schärfsten Kritiker der neoliberalen, monetaristischen Wende in der Politik, die er als ein Regime der Reichen, Vermögenden und Zufriedenen anprangerte. John Rawls hingegen bleibt doch ein beachtlicher politischer Philosoph, der seine zentrale These (von der Notwendigkeit, politische Partizipation und soziale Gerechtigkeit zu vereinen) allerdings (soweit ich dies beurteilen kann) nicht aus einer gründlichen Analyse der sozialökonomischen und politischen Entwicklung der Zeit gewinnt.
Nun aber zu Sartre. Du selbst sprichst von seiner außerordentlichen Wirkung als politischer Intellektueller. Deshalb habe in diesem Kapitel auch die Thematik des Intellektuellen bzw. der Politisierung der Intellektuellen im 20. Jahrhundert ins Zentrum gestellt (so, wie ich im nachfolgenden Kapitel über Che Guevara einen Exkurs zur Geschichte des Berufsrevolutionärs voranstelle, von denen viele natürlich auch Intellektuelle gewesen sind!). Dabei muss ich freilich auf die politische Kultur Frankreichs eingehen; denn nur dort wird die überragende Position, die Sartre lange eingenommen hat und die immer wieder in Frage gestellt wurde (Aron, Camus, Foucault, Bourdieu), auch in der Zeit des Kalten Krieges möglich. Dazu gehört auch (wie in Italien) die starke Position der kommunistischen Partei nach dem Zweiten Weltkrieg. Mir scheint allerdings, dass die Bedeutung Sartres auch darin gesehen werden muss, dass er als Philosoph daran gearbeitet hat, die Existenzialphilosophie (mit der Betonung der absoluten Freiheit des Individuums) und den historischen Materialismus (als unverzichtbares Element der Analyse von Geschichte, Gesellschaft und Staat) zu vermitteln. Außerdem denke ich, dass die unmittelbar politischen Schriften und das direkte politische Engagement Sartres doch seine außergewöhnliche Position unter den politischen Intellektuellen des 20. Jahrhunderts begründen. Das gilt für die unmittelbare Nachkriegszeit, danach die Akzeptanz der Rolle des „Weggefährten“ der Kommunisten bis 1956, schließlich die Hinwendung zu den antiimperialistischen Befreiungsbewegungen in der „Dritten Welt“ (Algerien, Kuba, Vietnam). Immerhin rief Sartre Ende der 50er Jahre in seiner Zeitschrift „Les Temps Modernes“ die Soldaten der französischen Armee zur Desertion auf. Der berühmte Satz von Charles De Gaulle, „Voltaire verhaftet man nicht!“, illustriert einmal mehr die außerordentliche Bedeutung des Intellektuellen in der politischen Kultur Frankreichs (immerhin fiel dieser Satz im Gespräch mit André Malraux, dem Kulturminister de Gaulles, der nur zu gerne mit Sartre um die Position des führenden Intellektuellen Frankreichs wetteiferte). Sartre war zweifellos im Jahre 1968 – nicht nur in Paris – derjenige Intellektuelle, der den linksradikalen Strömungen (die sich ebenfalls auf die Revolutionen in der Dritten Welt bezogen) dieser Bewegung am nächsten stand. Dass der alte und kranke Sartre dann noch von den Maoisten (von denen die meisten wiederum Schüler von Louis Althusser waren) vereinnahmt wurde, kann seine Bedeutung nicht substanziell schmälern. Im Übrigen ist auch die Beziehung mit Simone de Beauvoir unverzichtbarer Teil jener intellektuellen und politischen Ausstrahlung, die von dem „Intellektuellenpaar des Jahrhunderts“ ausging. Ihr Roman „Die Mandarine von Paris“ ist nach wie vor – obwohl er sich auf die unmittelbaren Nachkriegsjahre bezieht – ein klassisches Dokument der literarischen Reflektion der Widersprüche der Intellektuellenrolle (zwischen Schreiben, Lieben – besser: geliebt Werden – und Politik).
Erosion der „Hauptströmungen“?
WG: Hier möchte ich nun doch noch einmal auf die Frage nach den ‘Hauptströmungen’ des politischen Denkens zurückkommen. Im Vorwort zum 4. Band nennst Du ‘Konservatismus, Liberalismus und Sozialismus’. Diese Strömungen sind als partei-politische auch organisatorisch im 19. Jahrhundert entstanden und waren weitgehend ‘repräsentativ’ für die bürgerlich-kapitalistischen Länder bis vielleicht in die 1960er Jahre hinein. Für die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts muss man sicher auch noch den Faschismus hinzunehmen. Für die jüngere Vergangenheit, sagen wir seit dem letzten Drittel des 20. Jahrhunderts scheinen mir aber diese ‘Hauptströmungen’ immer mehr an Repräsentativität zu verlieren. Habermas hat dafür in den 1980er Jahren die zunächst etwas hilflos wirkende Formel von der ‘neuen Unübersichtlichkeit’ erfunden. Jedenfalls ist seither die Erosion der traditionellen politischen ‘Familien’ – wie die Franzosen sagen – unübersehbar geworden, ohne dass sich schon eindeutige neue Strömungen herausgebildet hätten. Die ‘Grünen’ in Deutschland scheinen mir jenseits ihres – wie man heute sagt – ‘Markenkerns’, der Ökologie, Elemente aller drei von Dir genannten Strömungen weitgehend unstrukturiert, d.h. ohne explizite Programmatik und bloß eklektizistisch in einer Art Lebensgefühl miteinander zu verbinden. Diese ideologische oder programmatische Diffusheit entspricht offenbar der ‘neuen Unübersichtlichkeit’ die sich infolge der allmählichen Auflösung der traditionellen sozialen Strukturen und der entsprechenden kulturellen Milieus ergeben hat. Ist dies möglicherweise ein Grund dafür, dass Du für diese eigenartige Mischung keinen repräsentativen politischen Denker finden konntest? Vielleicht ist ja das Zeitalter repräsentativen Denkens überhaupt an ein Ende gelangt?
FD: Dieser Einwand ist zweifellos berechtigt – und ich habe schon mit dem Hinweis auf Foucault oder auf Hannah Arendt angedeutet, dass hier die klaren Zuordnungen eher verschwimmen. Der idealtypische Ausgangspunkt der Unterscheidung von Konservatismus, Liberalismus und Sozialismus war eine klare Zuordnung (a) zur Klassenbasis (Aristokratie plus reaktionäre Staatsbürokratie; städtisches Bürgertum; industrielle Arbeiterklasse), und (b) zur Rechts-Links-Strukturierung der politischen Lager und ihrer Verbände und Parteien. Selbstverständlich haben sich diese Bindungen – in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts – verändert und aufgelöst. In der Politik spielt die „Blockbildung“, also die Koalitionspolitik – z. B. das Bündnis zwischen Liberalismus und Reformsozialismus im „Golden Age“ oder das Bündnis zwischen liberalem Marktradikalismus und Konservatismus im „Neoliberalismus“ (der aber auch früh als die „neue Rechte“ bezeichnet wurde) – eine wichtige Rolle. Gleichzeitig vertreten die regierenden „Volksparteien“ sowie die „zur Mitte drängenden“ politischen Kräfte stets eine klassenübergreifende Programmatik bzw. Rhetorik und wehren sich dagegen, als konservativ, bürgerlich-liberal oder gar als sozialistisch zu gelten. Diesen Veränderungen im politischen System liegen natürlich Veränderungen in der Gesellschaft zugrunde – auf der einen Seite die Veränderung der Struktur der Arbeiterklasse (Dienstleistungsberufe), die Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen der Lohnabhängigen im Golden Age und der Aufbau von sozialstaatlichen Sicherungen – wobei nicht vergessen werden darf, dass – zumal in Deutschland – im Kalten Krieg die Linke jenseits der Sozialdemokratie repressiv ausgegrenzt wurde (KPD-Verbot, Berufsverbote etc.). Gleichwohl spielen die Elemente dieser politischen Ideologien in der realen Politik nach wie vor eine große und zunehmende Rolle: die Beschwörung des starken Staates, von Religion, Familie; die Verteidigung der individuellen Freiheitsrechte auch im informationellen Zeitalter gegen den Sicherheitsstaat; der Kampf für soziale Gerechtigkeit, ökologische Nachhaltigkeit, aber auch für Gleichheit (einschließlich der Gleichheit der Geschlechter) und radikale Demokratie – ein Kampf, der nur gewonnen werden kann, wenn er zu Eingriffen in die kapitalistischen Eigentumsverhältnisse, die Profit- und Wettbewerbslogik führt. Weil diese idealtypischen Zuordnungen brüchig geworden sind und weil wir uns nach 1991 in einer (historisch offenen) turbulenten Übergangsepoche befinden (die – sofern sie dem Primat des Profits und des Wettbewerbs unterworfen ist – mehr und barbarische Gewaltverhältnisse reproduziert), habe ich im zweiten Teil letzten Bandes (a) die Politisierung der Religion, (b) die Grenzen der sozialdemokratischen Modernisierungsstrategie und (c) die Frage nach der Zukunft des Sozialismus als Diskursfelder behandelt, in denen sich natürlich Elemente der klassische Dreiteilung – auch in Kombinationen – wiederfinden und neu artikulieren. In den 80er Jahren und danach gab es zahlreiche Fehleinschätzungen, in denen sich die Anpassung an die Hegemonie des Neoliberalismus widerspiegelte: die Behauptung, dass der Gesellschaft „die Arbeit ausgehe“ oder die Behauptung, dass das Rechts-Links-Schema in der Politik keine Rolle mehr spiele. Beide Thesen waren und sind falsch. In dem Maße, wie die Widersprüche des globalen Finanzmarktkapitalismus und der neoliberalen Politik immer dramatischer in Strukturkrisen, Finanz-Crashs, Zuspitzung des Gegensatzes von Armut in Reichtum in der Welt und in den Kapitalmetropolen selbst, in Ausweitung der Prekarität, Katastrophen von Risikotechnoligen und Klimawandel an die Oberfläche (auch der Alltagserfahrung der Menschen) drängen, umso mehr wird deutlich, dass der Mainstream der Sozial- und Geisteswissenschaften entweder für die Propagierung des Bestehenden als der „besten aller Welten“ instrumentalisiert ist und/oder sich vom adäquaten Begriff der Wirklichkeit meilenweit entfernt hat.
Politisches Denken und politische Praxis
WG: Damit sind wir bei dem Fragenkomplex angelangt, mit dem dieses Gespräch beendet werden soll. Der Frage nämlich zum Verhältnis von politischem Denken und politischer Praxis. Ganz allgemein gilt ja für Deine Darstellung, dass sich die Bedeutung des politischen Denkens der behandelten Autoren vorwiegend an ihrer Relevanz für die politische Praxis bemisst. Das gilt natürlich vor allem für jene Denker, die zugleich politisch-praktisch tätig waren, wie etwa die erwähnten Revolutionäre und/oder ‘Staatsgründer’, aber auch für solche, die als Intellektuelle mehr oder minder direkt verbunden waren mit politischen Organisationen, Parteien, Bewegungen, Strömungen. Darüber hinaus hast Du aber auch solche Denker/innen aufgenommen, die als Intellektuelle eher indirekt auf das politische Bewusstsein größerer Menschengruppen einwirkten. Solche Einschätzungen fallen natürlich umso leichter, je weiter Denken und Handeln der Autoren zurück liegen. Für die Gegenwart und die Zukunft ist dies dagegen eine äußerst schwierige und von vielen Unwägbarkeiten abhängige Aufgabe. Von daher ist es verständlich, dass Du im abschließenden Band, der den Übergang zum 21. Jahrhundert. zum Gegenstand hat, hinsichtlich der herauszuhebenden Autoren sehr zurückhaltend bist. Hinzu kommt die schon erwähnte ‘Unübersichtlichkeit’, die tendenzielle Auflösung traditioneller politischer Strömungen und die erst tastenden Versuche zu neuen politischen Ideen und Organisationsformen, wie sie zuerst in den neuen sozialen Bewegungen, der wachsenden Bedeutung zivilgesellschaftlicher (nicht-regierungs-)Organisationen, den Weltsozialforen und aktuell in den vorwiegend durch Jugendliche bzw. junge Erwachsene vorangetriebenen Demokratiebewegungen in den arabischen Ländern und gerade in diesen Tagen (im Frühsommer 2011) auch in einigen südeuropäischen Ländern sich politisch wirksam zu artikulieren beginnen – ganz ohne ‘Meisterdenker’.
FD: Die These, dass das Zeitalter der „großen Intellektuellen“ endgültig vorbei sei, wurde immer wieder vertreten: Foucault wandte sie – wie auch Lyotard mit seiner These vom „Ende der ‘großen Erzählungen’“ – gegen Sartre; Habermas griff sie kürzlich wieder auf und bezog sich dabei u.a. auf die Abwertung der klassischen Intellektuellenrolle im Zeitalter kommerzialisierten Medien. Richtig daran ist natürlich, dass sich der Zugang und die Verarbeitung von Information im Zeitalter des Internets vollständig verändert haben. Wir Hochschullehrer haben das seit den 90er Jahren im Studierverhalten der neuen Generationen registriert: fragmentierte Aneignung von Wissen, das für jeweilige konkrete Zwecke (z.B. Scheinerwerb, Prüfungen) abgerufen wird; Verzicht auf kritische Fragen (gegenüber dem Stoff wie der Institution) als Ausdruck der durchgängigen Orientierung auf „Erfolg“ und Anerkennung – natürlich nicht bei allen, aber doch deutlich bei der Mehrheit. Das ist die eine Seite: Hegemonie des Neoliberalismus (die selbstverständlich auch etwas mit Produktivkräften und Informationeller Revolution zu tun hat). Auf der anderen Seite: Immer da, wo Bewegungen entstehen, die das herrschende System kritisieren, dort verbinden sich diese Bewegungen auch mit großen Intellektuellen. Man denke nur an die Rolle von Pierre Bourdieu, seitdem er sich Mitte der 90er Jahre mit den Streiks der französischen Arbeiter gegen den Abbau öffentlicher Dienstleistungen solidarisierte – oder: denken wir an die Rolle von attac und die Versammlungen des Weltsozialforum seit Porto Alegre, bei denen nicht nur Hugo Chavez gefeiert wurde, sondern bei denen auch Noam Chomsky, Susan George, Samir Amin, aber auch David Harvey oder Leo Panitch vor einem großen Publikum auftraten. Auch die großen Versammlungen, bei denen Toni Negri, Slavo Zizek und Alain Badiou vor tausenden junger Menschen über Kommunismus sprechen, sind (obwohl ich der inhaltlichen Botschaft eher skeptisch gegenüber stehe) ein Zeichen dafür, dass unter jungen Intellektuellen das Bedürfnis nach einer Kritik der herrschenden Verhältnisse doch deutlich zugenommen hat. Es gab zum Beispiel in dem US-Staat Wisconsin vor wenigen Monaten einen veritablen Aufstand (mit der Besetzung des Capitols, Flucht von Abgeordneten in den Nachbarstaat und Massendemonstrationen) gegen den Gesetzentwurf des Gouverneurs, der den Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes das Recht auf freie Tarifverhandlungen nimmt. Dabei haben auch Wissenschaftler der Universität Madison/Wisconsin – u.a. der berühmte Soziologe Erik Olin Wright – eine wichtige Rolle gespielt. In Deutschland ist die Gleichschaltung der Universitäten – vor allem jener Bereiche, in denen es in den 70er Jahren vergleichsweise viele Marxisten und andere Radikale gab – fast flächendeckend gelungen (auch hier gibt es selbstverständlich positive Ausnahmen – z.B. die „Kapitalismuskritik“ von Dörre, Lessenich und Rosa, die in Jena Soziologie lehren).
Aber, Du hast natürlich Recht! In den Sozialbewegungen unserer Tage (von der arabischen Welt bis zu der Bewegung der „Empörten“ in Spanien, aber auch zu den zahlreichen Streikbewegungen in vielen europäischen Staaten) artikuliert sich sowohl die Wut auf die Folgen der Finanzkrise 2008/09 (Austeritätspolitik) als auch auf die strukturelle Krise der fortschreitenden Prekarisierung, die nicht nur die „neue Unterklasse“ der Marginalisierten, sondern auch mehr und mehr die – akademisch ausgebildeten – Kinder der Mittelklasse betrifft, die jetzt gegen die Perspektivlosigkeit, d. h. die soziale Unsicherheit ihrer Existenzbedingungen, aber auch gegen die „Post-Demokratie“ (Colin Crouch), d.h. gegen den Abbau demokratischer Rechte sowie gegen die Unterwerfung der Politik (und der „politischen Klasse“) unter das Diktat der Finanzmärkte, d.h. auch der Finanzoligarchie, auf die Straße gehen. Gleichwohl hat sich mit dem Übergang ins 21. Jahrhundert eine entscheidende Änderung vollzogen: Die Bedeutung von marxistisch-leninistischen Organisationen (Parteien und andere Verbände), in denen Kader ausgebildet wurden, die in den Massenbewegungen auch Führungsaufgaben übernehmen konnten, ist deutlich zurückgegangen. Insofern hat David Harvey Recht, wenn er in seinem jüngsten Buch davon spricht, dass die Kraft kapitalismuskritischer Bewegungen in der ganzen Welt im vergangenen Jahrzehnt deutlich zugenommen hat, dass jedoch die traditionellen revolutionären Parteien der Linken in diesen Bewegungen (und für sie) keine herausragende Rolle spielen. Das lässt sich am Beispiel der revolutionären Bewegungen in der arabischen Welt – z. B. in Tunesien oder in Ägypten – verfolgen, wobei die jahrzehntelange Illegalisierung der sozialistisch-kommunistischen Linken in diesen Ländern in Rechnung zu stellen ist. Eine (politische, gewerkschaftliche und intellektuelle) Linke, die den Sturz der Diktatur, den Kampf für Freiheit und Demokratie mit der Perspektive des Kampfes für soziale Gerechtigkeit zu verbinden vermag, muss sich neu formieren. Allerdings haben schon (seit den späten 90er Jahren) die Siege der Linken in Lateinamerika (Venezuela, Bolivien, Ecuador, jetzt Peru) gezeigt, dass der Weg zum Sozialismus hier nicht den „Modellen“ des 20. Jahrhunderts folgt: er bewegt sich in den Bahnen der parlamentarischen Demokratie, Militärs spielen eine größere Rolle, die Anerkennung der Forderungen (auch der ökologischen Forderungen) der indigenen Bevölkerung bedeutet ein Novum; die alten marxistisch-leninistischen Kräfte (KPn) spielen kaum eine Rolle; der Umbau der Ökonomie bzw. die Eingriffe in das Privateigentum erfolgen sehr moderat usw. usf. Darin zeigt sich, wie sich die Welt im Übergang ins 21. Jahrhundert verändert hat. Die tiefe Krise des Sozialismus im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts wirft natürlich unvermeidlich ihre Schatten auf das frühe 21. Jahrhundert!
WG: Hierzu möchte ich nun doch noch einmal nachfragen. Du hast Dich (jetzt und in Deinem Buch im vierten Band) äußerst kritisch zur Kategorie der ‘Multitude’ von Hardt und Negri geäußert. Das kann ich gut nachvollziehen, weil es sich m.E. um eine völlig begriffslose Konstruktion handelt, der kein empirisch überprüfbarer sozialer Tatbestand zugrunde liegt. Andererseits scheint mir zweierlei unbestreitbar: Erstens, die Beantwortung der Frage nach dem Subjekt sozial-politischer und kultureller Umwälzungen ist nach wie vor von erstrangiger politisch-praktischer Bedeutung, und zweitens, die traditionelle marxistische (sozialistische, kommunistische) Antwort, die der Arbeiterklasse des Kapitalismus hierbei eine exklusive oder doch privilegierte, führende Rolle zuspricht, erscheint sowohl angesichts der historischen Erfahrung als auch der tiefgreifenden Veränderungen der sozialen (Klassen-)Struktur in den entwickelten Ländern des Kapitals, wie der sogenannten Schwellenländer und der noch wenig industrialisierten Länder des ‘Südens’ in vieler Hinsicht obsolet geworden. Ich vermute – und soweit stimme ich mit Hardt und Negri durchaus überein –, dass die Antwort auf die Frage nach dem Subjekt progressiver globaler Veränderungen in jedem Fall auf ein sozial breites und in mancher Hinsicht sozial heterogenes Bündnis von ausgebeuteten/und oder unterdrückten Klassen, Gruppen und Schichten hinausläuft, bei dem die Frage nach der Hegemonie im Bündnis nicht a priori, d.h. aus irgendeiner gültigen Gesellschaftstheorie mit Notwendigkeit abzuleiten und damit zu entscheiden ist. Stellt man die Frage realistischer, weil auch und gerade in Prozessen der sozialen Umwälzung – wegen mir auch ‘Revolutionen’ – das empirisch gut gesicherte ‘Gesetz der Ungleichzeitigkeit’ gilt und also die globale Revolution weder gleichzeitig ausbricht noch im gleichen Tempo voranschreitet, stellt man also die Frage nach dem Subjekt der Veränderung in den sozial unterschiedlich entwickelten Gesellschaften, so wird man sicher zu entsprechend unterschiedlichen Antworten kommen müssen. Mir scheint aber, dass auch in den entwickelten Ländern des Kapitals die Antwort längst nicht mehr umstandslos die ‘Arbeiterklasse’ lauten kann. Diese Debatte ist ja inzwischen auch hierzulande und nicht zuletzt auch in dieser Zeitschrift – etwa von Lothar Peter – neu entfacht worden. Ich weiß, dass Du dazu jetzt weit ausholen müsstest, aber vielleicht versuchst Du– ganz holzschnittartig – die Grundlinien Deiner Position zu dieser Problematik anzudeuten.
FD: Du hast mit Deiner Frage schon Argumente eingeführt, denen ich nur zustimmen kann. Die Schwäche der „Multitude“-Kategorie bei Hardt/Negri liegt in der Weigerung bzw. der Vernachlässigung einer Klassen- bzw. Sozialstrukturanalyse des heutigen Kapitalismus, die Aufschluss über die Frage nach den sozialen Kräften geben könnte, deren Interessen mit den herrschenden Verhältnissen kollidieren. Dieser Mangel ist auch durch das Studium von Spinoza nicht auszugleichen! Allerdings, die unvermeidliche Stärke des Begriffs ist die Schwäche der traditionellen marxistischen Klassentheorie, sofern diese auf die „historische Mission“ der industriellen Arbeiterklasse beschränkt wird. Darauf hat Lothar Peter in „Z“ zu Recht hingewiesen! Zum anderen haben Hardt und Negri die Bedeutung der Informations- und Dienstleistungsberufe erkannt – hier geht es um Schlüsselqualifikationen nicht der materiellen Wertschöpfung, sondern der systemisch-rationalen Steuerung und von sozialen Diensten im Bereich der Gesundheitswesens, der Pflege, des Bildungs- und Wissenschaftssystems, der Kultur usw. Hier herrscht natürlich Ausbeutung, soziale Unsicherheit (Prekarität), Entfremdung, kulturelle Barbarisierung. Gleichwohl steht die Zunahme dieser Tätigkeiten im Zusammenhang der Reduktion der „notwendigen Arbeit“ im Kernbereich der materiellen Produktion und damit – wie Marx in den „Grundrissen“ betonte – der Schaffung von „disposable time“ als Voraussetzung für die Freiheit des Individuums, aber auch für eine Neubestimmung des Arbeitsbegriffs. Schon die Ausweitung der Staatsbediensteten – als Folge der Ausweitung der Staatstätigkeit im Bereich der Infrastruktur, des Bildungs- und Wissenschaftssystems, der sozialen Dienste (Gesundheit, Alterspflege) und der Kultur – hat ja einen Sektor des Arbeitsmarktes geschaffen, der den Imperativen der Kapitalverwertung tendenziell entzogen und insofern ein Merkmal des modernen „Welfare State“ geworden ist. Dass sich die neoliberale Gegen-Revolution gerade gegen diesen Sektor gerichtet hat und dass nun – als Folge der Großen Krise von 2008/09 – mit der Austeritätspolitik ein neuer, geradezu dramatischer Angriff auf die Beschäftigten des öffentlichen Dienstes (in den USA, in Großbritannien, aber auch in allen Ländern, die sich dem Schuldenmanagement unter der Führung der Banken unterwerfen) inszeniert wird, unterstreicht nur die Tatsache, dass die Ausweitung eines solchen (nicht-kommodifizierten) Sektors letztlich zur Kapitallogik im Widerspruch steht.
Es gibt jedoch in der Zwischenzeit neue Ansätze auf dem Gebiet der marxistischen Klassenanalyse – von der Prekaritätsforschung, die bei Klaus Dörre in Jena betrieben wird, über das „Projekt Klassenanalyse“ (Werner Seppmann u.a.) bis zu den Arbeiten zum „Weltproletariat“ (Karl-Heinz Roth, Marcel van der Linden), die den Begriff des „Proletariats“ weiter fassen (wie auch David Harvey, dessen Begriff „Akkumulation durch Enteignung“ als Merkmal des modernen Imperialismus hier gute Ansatzpunkte der Forschung bietet) und sozusagen die Masse der Ausgebeuteten, Entrechteten und Unterdrückten in der ganzen Welt in den Blick nehmen. Auch wenn es da einige kritische Rückfragen gibt, so ist die Ausweitung des Analysefeldes sowohl (a) auf die globale Ebene (Weltkapitalismus), als auch auf (b) proletarische Schichten außerhalb des Kernbereichs der materiellen Produktion erst einmal weiterführend. Auch die Studien von Beverly Silver über die regionale Verschiebung der Zentren der Klassenkämpfe – als Folge des industriellen Strukturwandels und der globalen Mobilität des Kapitals – thematisieren einige wichtige Fragen einer Klassenanalyse auf dem heutigen Niveau – z. B. auch im Hinblick auf die Bewertung der Klassenkämpfe und der Rolle der Arbeiterbewegung in der Volksrepublik China.
Sozialismus im 21. Jahrhundert
WG: Zum Abschluss möchte ich eine Anleihe bei David Harvey machen: Der letzte Band Deiner Darstellung enthält im Untertitel die Frage „Rückfall in die Barbarei oder Geburt einer neuen Weltordnung?“. Das Schlusskapitel ist nun aber mit der Frage nach der Möglichkeit des Sozialismus im 21. Jahrhundert überschrieben; ganz am Ende lautet sie dann sogar, wie einst bei Rosa Luxemburg: „Sozialismus oder Barbarei?“. Würdest Du denn das Wort ‘Sozialismus’ immer noch gebrauchen, um jene neue Weltordnung zu bezeichnen, die auch im 21. Jahrhundert. als einzige Alternative zur Barbarei in Frage kommt?
FD: Wenn ich im letzten Abschnitt nach dem Sozialismus als Möglichkeit im 21. Jahrhundert frage, so geht es mir weniger um eine Betrachtung von real existierenden Staaten, Bewegungen, Organisationen, die sich als „sozialistisch“ und anti-kapitalistisch bezeichnen. Es ist aber m.E. für die Linke unbedingt notwendig, dieses Feld zu erforschen – obwohl es nach wie vor durch die Niederlagen des späten 20. Jahrhunderts gezeichnet ist. Mein Blick richtet sich in diesem Kapitel aber eher noch auf die immanenten Entwicklungstendenzen des Kapitals, wie sie Marx analysiert und David Harvey in „Limits of Capital“, zuletzt in „The Enigma of Capital“ aktualisiert hat: (a) der dem Kapital eingeschriebene Zwang zur Kapitalakkumulation, der immer wieder die Tendenz zur Überakkumulation (und damit Überakkumulationskrisen) hervorbringt, und (b) die Grenzen der Nutzung natürlicher Ressourcen als Voraussetzung für das Wachstumsmodell des industriellen Kapitalismus. Heute scheint der Kapitalismus ein Niveau der Entwicklung erreicht zu haben, auf dem sich die Schranken dieser Entwicklung als Strukturkrisen, aber auch als „Barbarisierung“ – d.h. u.a. zunehmende Gewaltförmigkeit – der Politik oder auch als katastrophische Rückwirkungen von Schädigungen der Natur, der Erschöpfung von Ressourcen sowie der Risikotechnologien (Kernkraft) auf die menschliche Zivilisation artikulieren. Damit wird die Frage des „Umsteuerns“, des „Ausstiegs“ etc. aufgeworfen, der sich selbst konservative Parteien stellen müssen! Mir scheint, wir befinden uns immer mehr in einem Zustand, in dem „die Verhältnisse selbst“ nach einer radikalen Veränderung rufen (so hatte es Marx im Vorwort zum „18. Brumaire“ formuliert) – Veränderungen, die nicht der privaten Eigentums- und Profitlogik folgen, sondern diese außer Kraft setzt – durch Umverteilung des Reichtums, durch einen Umbau der Produktions- und Lebensweise, durch radikale Demokratie und durch neue Formen einer auf Frieden, Ausgleich und Multipolarität gerichteten internationalen Politik. Allerdings ist derzeit – so habe ich das gerade in einem Bändchen über „Imperialismus“ (papyrossa, Köln 2011) zusammen mit David Salomon und Ingar Solty formuliert – eher „das Szenario einer multipolaren Konstellation zu fürchten, die durch die wachsenden Probleme von zur Neigung gehenden Ressourcen, gigantischen klimabedingten Flüchtlingsbewegungen, ungebundenen und wachsenden Kapital- und Arbeitsüberschüssen und globalen Instabilitäten gekennzeichnet sein könnten“ (S. 128). Dieser Entwicklung im Namen einer solidarischen, demokratischen und ökologischen Alternative Einhalt zu gebieten – das scheint mir im Kern die Frage nach Notwendigkeit und Möglichkeit des Sozialismus im 21. Jahrhundert zu beinhalten. Wie die Menschen, die sich für diese Alternative einsetzen, ihr Projekt – falls es denn auf der Tagesordnung der Geschichte in den Vordergrund rücken sollte – dann bezeichnen, das müssen wir diesen Menschen, ihrer Kreativität und Assoziation überlassen. Wir Zeugen des 20. Jahrhunderts sollten uns darin bescheiden, die Errungenschaften wie die Fehlentwicklungen und Niederlagen des Sozialismus dieses Jahrhunderts so aufzuarbeiten, dass die schwersten Fehler zumindest von nachfolgenden Generationen nicht wiederholt werden. Das war übrigens für mich – wie ich eingangs betonte – ein Motiv, um die Arbeit am „Politischen Denken im 20. Jahrhundert“ in Angriff zu nehmen!
WG: Letzte Frage: Was ist Dein nächstes Großprojekt?
FD: (lacht!) Erst mal habe ich viele „Kleinprojekte“ – aber selbstverständlich richtet sich mein Interesse auf die Entwicklungen im Rahmen der offenen Übergangs- und Umbruchsperiode nach 1991, in der wir leben und in der wir auch die Frage nach den Entwicklungsperspektiven von Kapitalismus und Sozialismus immer wieder neu stellen. Ich habe vor ca. drei Jahren – zusammen mit Horst Schmitthenner und Hans-Jürgen Urban – einen Band zur „Krise der Demokratie“ und einen eigenen Beitrag „Auf dem Weg zum autoritären Kapitalismus“ veröffentlicht. Diese Tendenz ist inzwischen deutlich stärker geworden (national und international) – und ich könnte mir vorstellen, diese etwas genauer zu untersuchen – auch im Hinblick auf die Widerstandspotentiale, die sich gegen diesen Trend weltweit artikulieren!
[1] Frank Deppe, Politisches Denken im 20. Jahrhundert. Band 1: Die Anfänge; Bd. 2: Politisches Denken zwischen den Weltkriegen; Bd. 3: Politisches Denken im Kalten Krieg - Teil 1: Die Konfrontation der Systeme; Teil 2: Systemkonfrontation, Golden Age, antiimperialistische Befreiungsbewegungen; Bd. 4: Politisches Denken im Übergang ins 21. Jahrhundert. Die vier Bände in fünf Büchern sind bei VSA in Hamburg erschienen (zusammen 2116 S.) und können einzeln oder komplett zum Preis von 100 Euro bezogen werden (Red.).
[2] Vgl. Frank Deppe, Jenseits der Systemkonkurrenz. Überlegungen zur neuen Weltordnung, Marburg 1991.
[3] 1999 erschien in England ein von Andrew Gamble u.a. herausgegebener Band „Marxism and Social Science“. Die Einleitung unter dem Titel „Why Bother with Marxism?” beginnt mit den folgenden Sätzen:“Marxism is widely perceived to be in crisis, and many believe the crisis is terminal. Marxism it is said has had a long run and now its energies are spent and its usefulness is long past. It is time to return Marx to the nineteenth century where he belongs.”
[4] Ich hatte mich Anfang der 80er Jahre auch ziemlich intensiv mit dem Buch von Klaus von Beyme, Theorie der Politik im 20. Jahrhundert, Frankfurt/Main 1991, beschäftigt. Im 4. Band (S. 226/7) bemerke ich, dass „das Urteilsvermögen von Beyme’s vielfach durch Vorurteile belastet und getrübt“ sei. „Im Niedergang des Marxismus“ – so konstatiert er – ‚ „ließ selbst die Marburger Schule Ende der 80er Jahre ermattet den Griffel fallen“. Er konnte sich nicht vorstellen, dass einige Marburger Autoren nach dem Zusammenbruch des ‚Staatssozialismus’ regelrecht aufblühten. Auch das vorliegende Werk verdankt seien Entstehung und seinen Fortgang u.a. dem Impuls, von Beyme zumindest in diesem Punkt zu widerlegen.“
[5] Da Hobsbawm das „lange 19. Jahrhundert“ bereits in drei Bänden bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges (1914) behandelt hatte, konnte er in den frühen 90er Jahren – mit der Arbeit am „Zeitalter der Extreme“ – natürlich nur vom „kurzen 20. Jahrhundert“ handeln.
[6] Diese Auffassung von Hobsbawm wurde auch von dem (nicht der KP angehörenden) Marxisten Ralph Miliband (dem Begründer des heute von Leo Panitch herausgegebenen „Socialist Register“) in seinem letzten Buch (Socialism for a Sceptical Age, 1994) vertreten: Das „Modell der bolschewistischen Revolution (war) für alle Revolutionen des 20. Jahrhunderts entscheidend“. Mit dieser Revolution verband sich in der ganzen Welt die Hoffnung, die Leiden der Unterdrückten zu beenden. „Von Paris bis Kalkutta, von New York bis Johannesburg zogen Menschen, die zu den entschiedensten, militantesten und selbstlosesten Aktivisten in der Linken gehörten, ihre Kraft aus dieser Überzeugung; und sie unterschrieben vorbehaltlos jene These von Stalin, die dieser schon im Jahre 1927 formulierte, dass ein Revolutionär einer ist, der bereit ist, die UdSSR zu beschützen und zu verteidigen – ohne Einschränkung, offen und ehrlich; denn die UdSSR ist die Basis der revolutionären Bewegung in der ganzen Welt …“.
[7] Eric Hobsbawm ging 2009 im Interview mit dem Stern (13.5.2009) auf die Dramatik der gegenwärtigen Krise ein und schloss dabei auch die Möglichkeiten bevorstehender Katastrophen und Kriege nicht aus: „Alles ist möglich. Inflation, Deflation, Hyperinflation. Wie reagieren die Menschen, wenn alle Sicherheiten verschwinden, sie aus ihrem Leben hinausgeworfen, ihre Lebensentwürfe brutal zerstört werden? Meine geschichtliche Erfahrung sagt mir, dass wir uns – ich kann das nicht ausschließen – auf eine Tragödie zu bewegen. Es wird Blut fließen, mehr als das, viel Blut, das Leid der Menschen wird zunehmen, auch die Zahl der Flüchtlinge. Und noch etwas möchte ich nicht ausschließen: einen Krieg, der dann zum Weltkrieg werden würde – zwischen den USA und China.“
[8] Frank Deppe, Fin de Siècle. Am Übergang ins 21. Jahrhundert, Köln 1997. Es wäre gewiss reizvoll, das Schlusskapitel dieses Buch mit dem des 4. Bandes („Sozialismus im 21. Jahrhundert?“) zu vergleichen, der im Jahre 2010 erschien. Mitte der 90er Jahre war noch der Schock der zahlreichen „Zusammenbrüche“ übermächtig; 15 Jahre später – nach der Großen Krise des Finanzmarktkapitalismus 2008/9 – wird schon vielfach von einer Renaissance des Sozialismus gesprochen – als Alternative zu den Katastrophen und zur Babarisierung der Welt, die der scheinbar von allen Gegnern befreite globale Kapitalismus („Turbokapitalismus“) anrichtet.
[9] In seinem neuesten Buch schreibt Hobsbawm (How to Change the World, London 2011, S. 11) über die epochenübergreifende Relevanz der Marx’schen Kapitalismusanalyse: „What never lost contemporary relevance is Marx’s vision of capitalism as a historically temporary mode of the human economy and his analysis of its ever-expanding and concentrating, crisis-generating and self–transforming modus operandi.”
[10] Insofern gilt nach wie vor die These der Anhänger der Weltsystemtheorie, die für das letzte Viertel des 20. Jahrhunderts drei strukturelle Transformationen dieses Systems diagnostizieren: „(1) The advent of a new international division of labor, (2) the twin decline of US.hegemony and the Cold War order, and (3) (und dieser Aspekt ist hier besonders wichtig! F.D.) the general decline of antisystemtic movements in the form of working-class based, state-power oriented mass politics.”(So Ho-Fung Hung, in der Einleitung zu dem von ihm herausgegebenen Band: China and the Transformation of Global Capitalism, Baltimore 2009, S. 2.)
[11] Diese Ebene stand bei der „Staatsableitungsdebatte“ im Mittelpunkt. Marx hatte im 3. Band des „Kapital“ (MEW 25, S. 799/780) noch einmal den Grundgedanken wie folgt zusammengefasst: „Die spezifische ökonomische Form, in der unbezahlte Mehrarbeit aus den unmittelbaren Produzenten ausgepumpt wird, bestimmt das Herrschafts- und Knechtschaftsverhältnis, wie es unmittelbar aus der Produktion selbst hervorwächst und seinerseits bestimmend auf sie zurückwirkt. Hierauf aber gründet sich die ganze Gestaltung des ökonomischen, aus den Produktionsverhältnissen selbst hervorwachsenden Gemeinwesens und damit zugleich seine spezifische politische Gestalt. Es ist jedes Mal das unmittelbare Verhältnis der Eigentümer der Produktionsbedingungen zu den unmittelbaren Produzenten ..., worin wir das innerste Geheimnis, die verborgne Grundlage der ganzen gesellschaftlichen Konstruktion und daher auch der politischen Form des Souveränitäts- und Abhängigkeitsverhältnisses, kurz, der jedesmaligen spezifischen Staatsform finden. Dies hindert nicht, daß dieselbe ökonomische Basis – dieselbe den Hauptbedingungen nach – durch zahllos verschiedne empirische Umstände, Naturbedingungen, Racenverhältnisse, von außen wirkende geschichtliche Einflüsse usw., unendliche Variationen und Abstufungen in der Erscheinung zeigen kann, die nur durch Analyse dieser empirisch gegebnen Umstände zu begreifen sind.“
[12] Vgl. dazu Frank Deppe/Jörg Huffschmid/Klaus-Peter Weiner (Hrsg.), 1992 – Projekt Europa. Politik und Ökonomie in der europäischen Gemeinschaft, Köln 1989.
[13] Vgl. Robert W. Cox, Weltordnung und Hegemonie – Grundlagen der ‚Internationalen Politischen Ökonomie“, mit einem Vorwort von Hans-Jürgen Bieling, Frank Deppe und Stefan Tidow, FEG-Studie Nr. 11, Marburg 1998, S. 69 – 86.
[14] Vgl. das Kapitel zum „Euroimperialismus“ in: Frank Deppe/David Salomon/Ingar Solty, Imperialismus, Köln 2011, S. 85 – 102.
[15] Die beste Arbeit dazu: Hans-Jürgen Bieling, Die Globalisierungs- und Weltordnungspolitik der Europäischen Union, Wiesbaden 2010.