Vor mindestens 500 Teilnehmern, vor allem erfreulich vielen jungen Leuten, eröffnete die Initiatorin Rahel Jaeggi, Professorin für Praktische Philosophie in Berlin, die Tagung mit der Absicht, eine umfassende Aktualisierung von Marx anzustoßen. In fünf Plenarveranstaltungen mit insgesamt 18 Referaten und weiteren 8 Arbeitskreisen mit je 3-4 Vorträgen wurde danach gesucht, welche der „Motive bei Marx“ (wie z.B. Religion, Kapitalismus, Recht und Freiheit, Ideologie, Entfremdung, Verdinglichung, Markt, Krise, Klasse, Ausbeutung, Communism & the Common) einer Rückbesinnung würdig und auf welche Weise anders oder neu zu bedenken wären.
Ob unter der Frage nach der „Kritik der Ökonomie“ oder der „Kritik der Politik“, nach der Moral und dem guten Leben, nach Geschlechterverhältnissen oder Kolonialismus – viele Referate drehten sich um eine Bestandsaufnahme dessen, was bei Marx fehlen würde und auszuarbeiten sei, um die Gegenwartsprobleme theoretisch in den Blick zu bekommen.
So fehlt Andreas Arndt (FU Berlin) zufolge bei Marx eine systematische Ausarbeitung der philosophisch-dialektischen Begrifflichkeit, die auf einem der „Wissenschaft der Logik“ von Hegel vergleichbaren Niveau angesiedelt sei. Vielmehr habe Marx lediglich vom Hegelschen Reservoir dialektischer Denkfiguren im einzelwissenschaftlichen Kontext Gebrauch gemacht, wovon es viel zu lernen gebe. Worin genau aber das „Gegenteil“ seiner Methode zu der von Hegel bestehen soll, ob es überhaupt eine materialistische Dialektik oder Logik mit einem alternativen internen Aufbau der dialektischen Kategorien geben könne und wie dieser aussehen würde, dazu sage Marx nichts. Man habe bisher vergeblich versucht, so etwas zu rekonstruieren.
Christoph Menke (Goethe-Universität Frankfurt) vermisste bei Marx eine Würdigung sozialer Teilhaberechte im Kapitalismus, Georg Lohmann (Universität Magdeburg) die angemessene Anerkennung von Moral und Recht oder Frederick Neuhouser (Columbia University New York) die der Individualrechte auch im Rahmen einer kommunistischen Gesellschaftsordnung: Man habe durch deren Zusammenbruch praktisch bewiesen bekommen, welche fatalen Folgen diese Fehleinschätzungen gehabt hätten.
Rosemary Hennessy (Rice University Houston) verzeichnet aus feministischer Sicht bei Marx eine nicht hinreichende Theoretisierung von Affekten als wesentliche Vermögen von Menschen, die bei der Formung von politischen Identitäten und in Prozessen des sozialen Wandels aktiv mitwirken. Und Ramón Grosfoguel (University of Berkeley) nannte seinen Versuch eines Rethinking: „Decolonizing Marx’s Political Economy“.
Aus der Sicht von Axel Honneth (Goethe-Universität Frankfurt) fehlt die Moral im „Kapital“: Während Marx in seinen historisch-politischen Schriften konkrete soziale Gruppen bzw. Akteure mit normativen Überzeugungen in ihren aufeinander bezogenen Handlungen vorgestellt habe, die dabei Struktur und Verlauf des historischen Prozesses veränderten, würden die allein ökonomisch zweckrational handelnden Akteure des „Kapitals“ der stummen Kraft des Faktischen und der vorherrschenden linearen Expansion des kapitalistischen Selbstverwertungsprozesses subsumiert bleiben, so dass ein Wandel des historischen Verlaufs von daher nicht wirklich gedacht werden könne. Die Grundbegriffe der Politischen Ökonomie müssten also dringend soziologisiert bzw. politisiert werden. Ob Honneths Konzept der „Anerkennung“ beanspruchen dürfe, die Nachfolge der Marxschen Kapitalismus-Kritik anzutreten, bezweifelte Christoph Henning (Universität St. Gallen) in einer ausgefeilten Argumentation – leider nicht in direkter Polemik mit dem Referenten in einem anderen Arbeitskreis.
Russell Keat (University of Edinburgh) plädierte in etwas anderer Akzentsetzung dafür, an die ethische Kritik des Kapitalismus durch den frühen Marx kritisch anzuknüpfen, anstatt die „frühen“ ethischen und „späten“ wissenschaftlichen Elemente von Marxscher Kritik als sich ausschließende Pole zu missdeuten, oder, wie in verschiedenen nichtmarxistischen Schulen der Sozialkritik geschehen, jede Form normativer Kritik als illegitim zurückzuweisen. Dazu müsse aber nicht nur bewiesen werden, dass die ökonomischen Institutionen des Kapitalismus normativ fragwürdige Merkmale aufweisen, sondern auch eine institutionelle Alternative angegeben werden, die dessen normativen Defekte nicht aufweist und auch keine neuen produziert. Wir müssten wissen, „ob das, was normativ vorzuziehen ist, auch institutionell möglich ist“, was Marx selbst bedauerlicherweise nicht akzeptiert bzw. ausgearbeitet habe.
Moishe Postone (University of Chicago) hingegen warb für eine Wiederaneignung der Marxschen kritischen Theorie, indem er eher auf die Schranken des traditionellen Marxismus einerseits und des Poststrukturalismus bzw. des Dekonstruktivismus andererseits aufmerksam machte. Beide hätten sich außerstande erwiesen, die globalen Transformationen des Kapitalismus (die Auflösung der staatszentrierten Fordismus-Synthese und des Wohlfahrtsstaatsmodells im Westen, den Kollaps bzw. die fundamentale Transformation der Parteien-Staaten und ihrer Kommandowirtschaften im Osten sowie den Aufstieg einer neoliberalen kapitalistischen Weltordnung) in den letzten vier Dekaden zu erfassen. Diese übergreifenden Entwicklungen seien weder allein in Begriffen von Ausbeutung und Klassenkampf, noch in solchen von kontingenten, lokalen oder politischen Entscheidungen, also in den Grenzen von Politik- oder Identitätstheorien zu erklären. Ihre historische Dynamik würde sich einer vollständigen politischen Kontrolle entziehen und vielmehr die Existenz genereller systemischer Zwänge gegenüber politischen, sozialen oder wirtschaftlichen Entscheidungen verdeutlichen. Sie überschritten auch den Horizont von Sozialkritiken, die auf die Verteilungssphäre fokussiert blieben. Postones eigene Lesart der reifen Marxschen Kapitalismus-Kritik stellt deren Entdeckung ins Zentrum, dass die historisch widersprüchliche Dynamik der Selbstverwertung des Wertes unweigerlich die Möglichkeit für die Selbstaufhebung der auf Arbeit, Wert und Herrschaft der abstrakten Zeit über die Menschen beruhenden Produktionsweise – und damit für die Aufhebung von Kapital und Arbeit – hervorbringt, für die Selbstaufhebung des Proletariats und nicht dessen Selbstverwirklichung, für die Möglichkeit einer neuen sozialen Organisation von Tätigkeit und sozialem Leben, ohne jedoch diese Möglichkeiten aktuell zu realisieren. Eine zeitgemäße Kritik dürfe sich daher nicht auf die Kritik an Ausbeutung, Privateigentum und Ungerechtigkeit der Verteilung von Reichtum und Macht beschränken, sondern müsse viel stärker das Missverhältnis zwischen den rasant gestiegenen Möglichkeiten der Verwissenschaftlichung und Vergesellschaftung der Produktion und der Einsparung direkter menschlicher Arbeitszeit für die Befreiung von den bisherigen Fremdzwängen einerseits und der blinden, zerstörerischen Wachstumsdynamik des Kapitals, der wachsenden Fragmentierung individueller Arbeit und Existenz, der „Überflüssigmachung“ von Menschen andererseits in den Blick nehmen. Für Postone würden die reifen Marxschen Kategorien, aufgefasst als „Daseinsformen, Existenzbestimmungen“ und daher als ökonomische und kulturelle Begriffe zugleich, durchaus geeignet sein, nicht nur zu einer Unterscheidung zwischen dem Kapital als dem Kern der Gesellschaftsformation und deren spezifischen historischen Konfigurationen sowie zu einer kritischen Theorie über den „real existierenden Sozialismus“ als alternativer Form der Kapitalakkumulation beizutragen, sondern auch den historischen Aufstieg der post-proletarischen Selbstverständnisse und Subjektivitätsformen sowie die neuen sozialen Bewegungen zu reflektieren.
Einen ähnlichen Anknüpfungspunkt an Marx wählte Hartmut Rosa (Friedrich-Schiller-Universität Jena). Er begeisterte sein Publikum und selbst einen anwesenden Unternehmer, indem er mit dem Marxschen Manifest die Geschichte des bürgerlichen Fortschritts als einzigartige Beschleunigungsgeschichte der Steigerung von Produktivität und Reichtum, der Dynamisierung aller materiellen, sozialen, geistigen Verhältnisse der Welt erzählte, die allerdings bisher keineswegs zu einer Pazifizierung und Überflüssigmachung der Existenzkämpfe der Menschen geführt habe, sondern im Gegenteil zu einem noch intensiveren Gefangensein in dieser verselbständigten Wachstums- und Beschleunigungsspirale, die zum eigentlichen Subjekt der Geschichte geworden sei. Warum es nicht gelungen sei, diesem Zirkel zu entkommen, würde u.a. am immer noch gängigen Theorem vom Klassenkampf liegen, das dieses Spiel mit stets neuem Motivationsschub versorge: Der mit antagonistischer Rhetorik einhergehende Anspruch der Gewerkschaften, größere Stücke für die lohnabhängig Beschäftigten vom Kuchen einzufordern, würde die Wachstumslogik reproduzieren helfen, statt sie aufzuheben und zudem verkennen, dass Gewinner wie Verlierer nicht wirklich Subjekte dieses Steigerungsspiels seien. Rosa plädierte für eine Neueröffnung der Diskussion über die Grundlagen und Bedingungen einer gelingenden, guten Lebensführung.
Was Etienne Balibar (Université Paris X Nanterre) zur Relevanz des Klassenkampfes und Alex Demirovic (TU Berlin) zur Dialektik des Politischen zu sagen hatten und worüber genau in den Panels zu Ideologiekritik, Communism & the Common, zur Bioökonomie oder zu den Erträgen der MEGA berichtet und diskutiert wurde, konnte aus Sicht einer einzelnen Besucherin nicht mehr überblickt werden. So bleibt zu wünschen, dass ein Konferenzband veröffentlicht wird, der eine eigentliche Diskussion der verschiedenen Thesen und Theorien auslösen könnte, die auf der Konferenz selbst leider viel zu kurz kam. Und vielleicht würden sich daran auch Stimmen aus der osteuropäischen Hemisphäre beteiligen, die diesmal auf den Konferenzpodien kaum vertreten waren, ohne deren Beitrag und fundierte Analysen ein Be- und Überdenken Marxscher Theorie und gescheiterter realsozialistischer Praxis mehr als lückenhaft bliebe.
Gudrun Havemann