Felix Lee, Die Gewinner der Krise. Was der Westen von China lernen kann. Rotbuch Verlag, Berlin 2011, 189 S., 12.95 Euro
Eher unauffällig verdient Lee als Journalist sein täglich Brot bei der taz (der Tageszeitung). Dort fiel er mit China-Texten nicht sonderlich auf. Seit der Krise 2008 muss es ihn aber gelockt haben, eine mitgegebene Grundfähigkeit zu optimieren: Er ist in der VR China geboren, kann die Sprache und verfügt über dichte Eindrücke aus Familienbesuchen, die er dankenswerterweise dem Leser nicht aufdrängt. Nebenbei hat er wohl eifrig Financial Times Deutschland gelesen, ferner das Handelsblatt, dem das Motto auf dem Umschlag entstammt: „Das Land hat einen Plan, der Westen nicht.“
Lee konzentriert sich auf das Teilsystem Ökonomie und analysiert dessen Leistung. Die von Lee auch thematisierten Probleme, z.B. Immobilienblasen, faule Kredite oder Umweltzerstörung und negative Arbeitsbedingungen, sind ihm bewusst, er erwähnt sie, aber da die chinesische Partei als wichtige Organisation des Politischen darüber längst diskutiert und Lösungen vorschlägt, machen weder Lee noch der Rezensent jene zum Gegenstand.
Die politische Klasse Chinas stellt sich der Realität, deren gültige Analyse wir dem Kapital verdanken, der Logik von kapitalistischen Wirtschaftskrisen, die systemnotwendig unvermeidbar sind, was nun erst recht auf erweiterter Stufenleiter für die kapitalistische Weltgesellschaft gilt, China eingeschlossen – und zugleich ausgeschlossen. Letzteres, weil – so Lees Schüsselthese – in China die Politik das Teilsystem Ökonomie kontrolliert und beherrscht. Die VR China, die Partei und die Zentral- wie Provinzregierungen antizipieren gelassen Widersprüche (welche Operation zudem Bestandteil des Planes ist)1, um beim Eintreten verschiedene Handlungsoptionen zu haben.
Im 1. Kapitel (Urheber oder Befreier? – Die Rolle Chinas in der Finanzkrise) wird sichtbar, dass die Partei-Führung die ökonomischen Verwerfungen aus Chinas neoliberalen Phase der 90er Jahre in Erwartung einer Weltwirtschaftskrise vor 2008 bereinigt hat: Die faulen Bankkredite, besonders aus Immobilienspekulationen, wurden entsorgt. Die Banken standen gesund da. In der Krise wurden sofort antizyklische Maßnahmen ergriffen: ein Konjunkturprogramm mit überwiegende Anteil für Investitionen im Umweltbereich von zusammen 500 MRD $. Die Zentralbank senkte die Zinsen und vergab Kredite zur Ankurbelung der Konjunktur in Höhe von 2 Billionen $! Umgebaut wurde der Entwicklungsschwerpunkt von Export zur Strukturierung eines Binnenmarkts. Dem korrespondiert die systematische Erhöhung von Reallöhnen, wobei Lee sich ein wenig ironisch auf Heiner Flassbeck bezieht, der aber nicht China, sondern seine nicht realisierten Forderungen aus seiner kurzlebigen SPD-Staatssekretärszeit meinte (25, 80ff.). Hintergrund ist der ungeheure Devisenüberschuss der Zentralregierung von 3.300 Milliarden (August 2011, ML). Wie er entsteht? „Chinas Regierung lässt Kapitalflüsse ins Land und daraus nur sehr eingeschränkt zu. Der Wechselkurs wird vom Staat festgelegt, und die chinesische Währung ist international nicht frei konvertierbar.“ (Dies ist im Übrigen der Ratschlag von Stiglitz für alle Länder, die zur Aufholjagd starten.) Weiter: „Touristen dürfen maximal 20.000 Yuan (ca. 2.000 $) ein- und ausführen. Chinesische Exporteure müssen den größten Teil ihrer Euro-, Yen-, Dollar- und sonstigen Einnahmen zu einem festen Kurs bei der chinesischen Zentralbank in Yuan umtauschen. Auch ausländische Unternehmen, die in China Geschäfte machen, sind zu diesem Vorgehen verpflichtet.“ (31-34) Und umgekehrt gilt das für Importeure, denen die Zentralbank die von ihnen gewünschten Devisen zu einem festen Umtauschkurs zur Verfügung stellt. Damit hält die chinesische Regierung sämtliche Kapitalströme unter Kontrolle. Lob vom IWF 2009: Chinas Entwicklung sei selbsttragend und – das Modewort ist wohl unverzichtbar – nachhaltig. Ergänzt werden muss das durch Lees Hinweis auf die Banken Chinas. Nicht allein ist die ICBC (Industrial and Commercial Bank of China) die Nr. 1 der weltgrößten Banken, – mit ca. 20 MRD Gewinn je Quartal 2011 –, sondern auch die fünf anderen Großbanken sind in der Spitzegruppe zumindest der nationalen Unternehmen. (51/53) Die Zentralregierung hat es so „eingerichtet, dass mindestens 50% des Aktienkapitals der Banken stets in staatlicher Hand verbleiben“ (52) Und: „Die Banken in China verdienen ihr Geld stattdessen ganz altmodisch mit der Vergabe von Krediten – und gehören trotzdem zu den reichsten der Welt“. (160) Zwei von ihnen, darunter die ICBC, haben die Erlaubnis, als Investmentbank tätig zu sein. Für die anderen gilt quasi der Glass-Stegall Act von Roosevelt von 1933, den erst der unbedarfte und leicht verführbare Clinton abgeschafft hat: die gesetzliche Trennung von Geschäfts- und Investmentbanken.
Das dritte Kapitel (Aus Werkbank wird Wertbank – Chinas Industriepolitik) lenkt auf das Kerngebiet jeder Ökonomie, so ungern der Neoliberalismus mitsamt seinen Kritikern das wahrhaben will: Die Industrieproduktion. Lee bündelt drei Effekte der Wirtschaftspolitik: Aufbau von kapitalistischen Unternehmen und ein freier Markt, um die Umwelt der maroden und defizitären Dinosaurier (sozialistische Großbetriebe) nachhaltig zu zerstören (1). Kooperationen mit westlichen Firmen, a) wegen deren Investitionen auf dem chinesischen Markt, b) wegen der Technik der Massenproduktion, nicht zuletzt um das knowhow der Facharbeiter zu erhöhen, c) um deren Gewinnerlangung zu studieren und für sich nutzbar zu machen, (2). Schließlich (d), die indirekte Eigentumsstruktur als chinesischer Weg der Verstaatlichung. Nichts wird direkt verstaatlicht, sondern alles wird auf Börsen indirekt in Gestalt von Aktien gehandelt. Reiner Zufall, dass der Staat die deutliche Mehrheit an Aktien besitzt...!
Mit BYD (im Westen fast unbekannt) stellt er einen Autokonzern vor, der sich mit Kooperationen be Mittelklasseautos inzwischen nach den japanischen und deutschen Marken auf einen der vorderen Plätze des chinesischen Marktes geschoben hat (in 5 Jahren von jährlich 1.000 Stück auf 1 Million heute – mit gleicher Exponentialkurve für die nächsten Jahre). Besonders konzentriert sich BYD auf Elektrowagen, deren Prototypen bereits in Shenzhen erfolgreich als Taxi fahren. 2011 will BYD eine halbe Million dieser Wagen für umgerechnet 16.000 Euro ins Ausland verkaufen. Vergleichbar mit dem früher berühmten Industrie/Technik-Ministerium Miti in Japan begleitet der Staat die Entwicklung von Elektroautos und der dafür nötigen Infrastruktur allein für 2010 mit 11,7 Milliarden Euro (67). Bei gleichzeitiger Adaption (auch, böser: Kopie) von Produktionsabläufen westlicher Unternehmen werdenbewusst einige Entwicklungsschritte übersprungen (72). Das größte Wunder Chinas aber sieht Lee in der Wiederauferstehung der noch Ende der neunziger Jahre typisch sowjetisch-DDRhaften Mangel- und Minuskonzerne (Kombinate). Des damaligen Ministerpräsidenten Zhus „größte Leistung bestand drin, dass er Hunderte von maroden Staatsbetrieben konkurrenzfähig für den Weltmarkt machte und damit Hunderttausende von Arbeitsplätzen sicherte“ (78). Der SPIEGEL, was China angeht, notorisch getrübt, schreibt daher (sic!) 1998 über Zhu Rongji von „Chinas rotem Ludwig Erhard“. Die Staatsbetriebe, deren Anteil an der Volkswirtschaft deutlich über 50% liegt, stehen nach Nettogewinn ebenfalls in der Spitzengruppe der Unternehmen. Inzwischen sind sie bei der Entwicklung des Binnenmarktes in den Provinzen „Investitionslokomotiven“ (78).
Zu dieser Evolutionsmaschinerie gehören unbedingt die Fünf-Jahrespläne, die projektieren, dass China in immer mehr Zukunftstechnologien sich an die Weltspitze heranarbeitet (144/45). Im März 2011 wurde vom Nationalen Volkskongress der 12. Fünfjahresplan (2011-2015) beschlossen, unter der Losung: Konsum statt Export, Schonung der Ressourcen statt Verschwendung. Der ökologisch- soziale Umbau ist nicht erst Zukunftsmusik, sondern Praxis, die in diesem Plan noch erheblich präziser bestimmt wird.
Das 5. Kapitel (Die Revolution von oben – China baut den Sozialstaat) zeigt ein offenes Versuchsfeld. Wie in den Betrieben große Teile des deutschen Arbeitsrechts implementiert wurden, folgen auch die Pläne für Krankenversicherung und Altersabsicherung westlichen Muster, wobei jederzeit allein die qualitative Differenz durch die schiere 1,3 Milliarden-Größe der Bevölkerung den Planern wohlbewusst ist. Zu Beginn werden Feldversuche gestartet, die Lee zu oberflächlich beschreibt (116ff.). Er sucht aber ein gutes Modell heraus, wie China für die Zukunft plant: Das Bildungssystem. Uni-Eingangsprüfungen), bei denen m.E. 70% der deutschen Studierenden, wären sie bei uns so üblich, scheitern würden. Eine landesweite Versorgung mit unterschiedlichen Typen von Hochschulen bis hin zu Eliteuniversitäten schließt sich an. Mit hohen Zuwachsraten wird „Humankapital“ qualifiziert, dass in seiner Produktivität alle Springquellen des Reichtums hervorschießen lassen wird, aber auch die Lohnstruktur erheblich nach oben treiben und auf BASF-Niveau stabilisieren wird.
Stärker hätte Lee darauf eingehen müssen, dass hunderttausende Chinesinnen im Ausland qualifizierte Abschlüsse (vor allem in den Natur- und Technikwissenschaften) machen und praktisch alle in die Volksrepublik zurückkehren, wodurch eine hochexplosive Mischung von Fachwissen und westlichen Demokratiediskursen in ihren Köpfen sich anhäuft. Eigentlich ist es aber gut, dass er von Demokratie wenig spricht, außer mit Partygerede, es gäbe sie irgendwie nicht wie bei uns, und „China sei reif für die Demokratisierung“ (mit Fragezeichen, 168). Er kennt offenbar die politologischen Fachdiskurse (z.B. Thomas Heberer) nicht und versteckt sich hinter der erfrischenden Naivität des amerikanischen Zukunftsforschers Naisbitt: „Das chinesische Modell fordert auch den Status der westlichen Demokratien heraus, die bisher glaubten, sie verfügten über das einzige Regierungsmodell, das Armut reduziert und wirtschaftlichen Aufstieg hervorbringt.“ (165, Handelsblatt, 14. 5. 2010). Offenbar kennt Lee auch das letzte Buch von John Naisbitt nicht: Chinas Megatrends. Die acht Säulen einer neuen Gesellschaft (2010 in USA, China und in Deutschland zeitgleich erschienen).
Z-Leserinnen könnten ihr Vergnügen an der Lektüre Lees steigern, wenn sie vergleichend marxistische Vorschläge zur politischen Kontrolle der Banken nach der Finanzkrise heranziehen würden, so etwa Lucas Zeises Ende der Party (Köln 2008). Was der da vorschlägt: Nichts ist bisher bei uns geschehen, nach Lee ist alles in China längst umgesetzte Politik.
1 Was der Autor (Jg. 1975) nicht ahnen kann, ist, dass Chinas große Tradition in Machtpolitik und klassischer Philosophie immer der Kategorie Widerspruch einen Ehrenplatz eingeräumt hat, was Joachim Schickel uns 68er nachdrücklich gelehrt hat. Vgl. auch meinen Aufsatz in Z 78, Juni 2009, S. 112ff.