Lorenz Knorr, Generäle vor Gericht. Oder: Darf man Nazi-Militärs als Massenmörder bezeichnen? PapyRossa-Verlag, Köln 2011, 286 S., 16,- Euro
Im September 1963 bzw. Februar 1964 verloren die beiden Hitler-General Speidel und Heusinger ihre hohen NATO-Posten als Oberbefehlshaber der alliierten Landstreitkräfte in Europa Mitte mit Sitz in Fontainebleau (Speidel) und als Vorsitzender des Militärausschusses der NATO in Washington (Heusinger). Zu ihrer Abberufung hat Lorenz Knorr nach Kräften beigetragen. Seinem Bericht zufolge wurde bei der NATO-Ministerratstagung 1963 (die Tagung fand vom 22.-24. Mai in Ottawa statt) vom dänischen Außenminister Per Häkkerup auf der Grundlage von Dokumenten, die ihm Knorr übermittelt hatte, die Rolle von Heusinger bei Kriegsverbrechen der Wehrmacht in Russland (Partisanenbekämpfung) und von Speidel in Frankreich (Geiselerschießung und Deportation von Kommunisten und Juden) thematisiert, was zu deren Entlassung geführt habe (S. 109/110). Die Vergangenheit der beiden Generäle war für die NATO-Alliierten freilich kein Geheimnis. Heusinger war seit Oktober 1940 als Chef der Operationsabteilung des Generalstabs im Oberkommando des Heeres vornehmlich mit der strategischen und operativen Führung des Überfalls auf die Sowjetunion befasst. Er war nach 1945 von den Amerikanern interniert und musste in Nürnberg vor dem Kriegsverbrecherprozess aussagen. Er beriet die Amerikaner im Zeichen des Kalten Kriegs bei der Planung der Widerbewaffnung der neu gegründeten Bundesrepublik und wurde, nach einem Intermezzo bei der Organisation Gehlen, als Berater Adenauers und Leiter der militärischen Abteilung im Amt Blank eine der wichtigsten Figuren der Remilitarisierung, 1957 dann der erste Generalinspekteur der Bundeswehr. Speidel, ein an allen Fronten (Frankreich, Russland, Afrika) erprobter General, spielte nach 1945 gleichfalls eine Schlüsselrolle bei der Wiederaufrüstung der Bundesrepublik (Mitautor der „Himmeroder Denkschrift“, Berater Adenauers, Amt Blank, Abteilungsleiter im Bundesverteidigungsministerium, General der Bundeswehr). Der politische „Abschuss“ dieser beiden Hitler-Generäle in höchsten NATO-Positionen wäre, so sollte man denken, ein Bundesverdienstkreuz wert gewesen. Aber das wurde an die Generäle vergeben und nicht an Lorenz Knorr, der es auch in Zukunft nicht zu erwarten hat.
Der Abberufung von Heusinger und Speidel war folgendes vorangegangen: Knorr, langjähriger Funktionär der Falken und der SPD, hatte 1960 nach dem Godesberger Programm und dem endgültigen Einschwenken der SPD auf den NATO-Kurs die SPD verlassen und die DFU mitbegründet. Als deren Direktoriumsmitglied setzte er seine Agitation gegen die Remilitarisierung der Bundesrepublik und die Rehabilitierung alter Nazis fort. 1962 wurde er von Verteidigungsminister F. J. Strauß und den Bundeswehrgeneralen Foertsch, Heusinger, Kammhuber und Speidel sowie dem Admiral Ruge angezeigt wegen „Beleidigung“, weil er die genannten Generäle bei einer Veranstaltung 1961 in Solingen öffentlich als Massenmörder bezeichnet habe (S. 207). Die Einleitung eines Gerichtsverfahrens wurde in Hessen und in Bayern mit dem Hinweis auf Meinungsfreiheit abgelehnt. Jedoch fand sich in Nordrhein-Westfalen ein Oberstaatsanwalt, der die Anzeige in eine Anklage umsetzte. Knorr nahm diese politische Herausforderung an und drehte de facto den Spieß um. Er attackierte den anklagenden Oberstaatsanwalt (der hatte in Prag Todesurteile verhängt, stand auf der tschechischen Kriegsverbrecherliste und musste daher vor Prozessbeginn abgelöst werden), er stellte eine Dokumentation zu Kriegsverbrechen der Wehrmachtsgeneräle zusammen1, hielt international besuchte Pressekonferenzen ab und machte damit den über mehrere Instanzen gehenden Prozess zu einem politischen Forum mit beachtlicher politischer Wirkung.
Die Anzeige war wegen „Beleidigung“ erstattet worden (§185 STGB, der alte „Majestätsbeleidigungs“-Paragraph), nicht wegen „übler Nachrede“ (§186). Das sollte unterbinden, dass im Prozess der Wahrheitsbeweis angetreten werden konnte, also die Vergangenheit der Wehrmachtsgeneräle Gegenstand der Verhandlung würde. Hierin drückte sich schon eine Schwäche der Anklage aus, sie musste die Wahrheit fürchten. Knorr und seine Anwälte – Walther Ammann und Heinrich Hannover – wussten dies in eindrucksvoller Weise zu verhindern. Der Saarbrückener Strafrechtslehrer und spätere Innenminister Maihofer steuerte ein wichtiges Rechtsgutachten bei (S. 143). Der Prozess schlug Wellen bis in die großen Presseorgane und fand im Ausland Beachtung. Knorr erfuhr viel internationale Solidarität. Darüber wird in allen Details im vorliegenden Buch berichtet. Die Gerichte setzten sich jedoch in erster und zweiter Instanz – von Verteidigung wie Staatsanwaltschaft war Revision eingelegt worden – über alle Tatsachenbelege und Beweisanträge der Verteidigung hinweg. Sie interessierten die Gerichte nicht. Knorr wurde in beiden Instanzen zu Geldstrafen verurteilt.
Bezeichnend ist auch der weitere Verlauf: Das zweitinstanzliche Urteil gegen Knorr wurde aufgehoben, weil die Beweisanträge der Verteidigung nicht hätten abgelehnt werden dürfen. Knorr erstattete seinerseits Anzeige gegen Heusinger und Speidel wegen Anstiftung bzw. Beihilfe zum Mord (S. 203). Die Staatsanwaltschaft tat, wie Heinrich Hannover berichtet2, jedoch genau das, was Lorenz Knorr und seine Verteidiger erwartet hatten: Sie ließ die Ermittlungsverfahren gegen beide Generäle im Sande verlaufen. Zugleich wurde das nun doch zu brisante Beleidigungsverfahren gegen Knorr verschleppt und 1972 „wegen Geringfügigkeit“ eingestellt. Ende der sechziger Jahre war es offensichtlich inopportun, die ganze Angelegenheit noch einmal aufzurühren.
Parallel zum Generalsprozess kassierte Knorr 1963 eine – offensichtlich als Entlastungsangriff seiner Kontrahenten gedachte – Anzeige wegen Staatsgefährdung („Gefährdung der Sicherheit der BRD und gegen Verfassungsgrundsätze gerichtetes Auftreten“, S. 145ff). Es ging um an sich belanglose Äußerungen zu und über Vertretern des Verfassungsschutzes bei einer öffentlichen Veranstaltung. Einem erstinstanzlichen Freispruch folgte die Verurteilung in zweiter Instanz. Bei der anschließenden Revision vor dem 3. Senat des Bundesgerichtshofs wurden Knorr und seinen Verteidigern Dokumente zugespielt, aus denen hervorging, dass der Vorsitzende Richter des Senats SS-Richter ausgebildet hatte (und dies später verschwiegen hatte). Nach Intervention beim Justizministerium und Bundesverfassungsgericht wurde der 3. Senat ausgewechselt. Der neue Senat sprach Knorr 1964 frei und unternahm alles, um zu verhindern, dass die Angelegenheit in der Öffentlichkeit Aufsehen erregte.
Der Band, dem man eine bessere Lektorierung und Gliederung gewünscht hätte, enthält eine instruktive Einleitung zur Geschichte der Remilitarisierung und neben den unmittelbaren Prozessberichten und -dokumenten zahlreiche Reflexionen über die politische Entwicklung der Bundesrepublik in den fünfziger und sechziger Jahren, so u.a. zur Entwicklung der SPD, zur Herausbildung des „Bürgerblocks“ unter Adenauer und zu den eng begrenzten Möglichkeiten der Linken in dieser Periode (z.B. in einem Gespräch mit Bertrand Russel, S. 79ff.).
Beide Prozesse zeigen, in welch hohem Ausmaß auch in den sechziger Jahre alte Nazis in Militär und Justiz der Bundesrepublik eine Rolle spielten; sie lassen zugleich an den Reaktionen der Justiz erkennen, wie sich das politische Klima allmählich zu ändern begann. Dies ist nicht zuletzt so unerschrockenen Sozialisten wie Lorenz Knorr und seinen hartnäckigen politischen Anwälten Amman und Hannover zu verdanken. Sie haben damit unter ungleich schwereren Bedingungen der späteren Demaskierung der „sauberen Wehrmacht“ vorgearbeitet. Knorr feierte kürzlich seinen 90. Geburtstag. Der „Generalsprozess“ war sein vielleicht wirkungsvollster Beitrag zur Veränderung der Bundesrepublik.
André Leisewitz
1 Eine der Lieferanten der Dokumente war der US-amerikanische Ex-General Hugh Bryan Hester, 1945-1947 für die Versorgung im Rahmen der US-Militär-Verwaltung in Deutschland zuständig, ein Kritiker der Politik des Kalten Krieges.
2 Heinrich Hannover, Die beleidigten Kriegsverbrecher. Der Fall Lorenz Knorr (1963-1972), in: ders., Die Republik vor Gericht. 1954-1974. Erinnerungen eines unbequemen Rechtsanwalts, Berlin 1998, S. 129-141.