Editorial

September 2011

Die schwelende und immer wieder aufflammende Krise der Staatsschulden ist eine Fortsetzung der 2007 ausgebrochenen internationalen Finanzmarktkrise. War es zunächst Konsens, dass das Übergewicht und die Vermachtung der Finanzindustrie die wichtigste strukturelle Ursache der Krise war, so ordnet sich die Politik heute erneut willig den „Märkten“ unter. Bei der Reform der Finanzmärkte hat die Finanzindustrie die Federführung übernommen: Die Brandstifter wurden zu Feuerwehrleuten befördert. Gleichzeitig entsteht in weiten Teilen der Bevölkerung ein Gefühl der Dauerkrise und der Unsicherheit, das sich in politisch durchaus ambivalenten Formen der „Systemkritik“ äußert. Diesem Zusammenhang von Krise, sozialer Erosion und Krisenverarbeitung soll im vorliegenden Heft nachgegangen werden.

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Das am 21. Juli geschnürte Krisenpaket für das hoch verschuldete Griechenland zeigt, wie den Banken genehme ‚Lösungen’ der Schuldenkrise aussehen. Jörg Goldberg macht auf die Tatsache aufmerksam, dass der gestärkte Euro-Krisenfonds EFSF vor allem ein Disziplinierungsinstrument der starken Staaten – an der Spitze Deutschland – gegen die schwachen Mitgliedsländer ist. Andreas Fisahn sieht in den jüngeren Entwicklungen der EU ebenfalls einen tiefen Einschnitt. Die EU-Institutionen würden umgangen durch Vereinbarungen zwischen den Regierungen, bei denen die starken Länder ihre Interessen durchsetzen. Dies beinhalte die Tendenz zu einer autoritären Wirtschaftsregierung.

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Die sozialstrukturellen Verwerfungen, die sich unter dem Diktat des Finanzmarktkapitalismus herausgebildet haben, insbesondere das Wachstum des „prekären Sektors“, sind eine Herausforderung für die Klassentheorie. Klaus Dörre und Steffen Liebig entwickeln ein Konzept der „sekundären Ausbeutung“, das plausibel machen soll, wie und warum es unter dem Druck der „finanzkapitalistischen Landnahme“gelingen kann, in wachsenden Sektoren den für das Ausbeutungsverhältnis an sich gültigen Äquivalententausch de facto außer Kraft zu setzen und den Wert der Arbeitskraft drastisch zu senken. Die Autoren gehen als Arbeitshypothese von eine „Dreiteilung der Lohnabhängigenklassen“ aus: Einer Klasse von Lohnabhängigen mit hohen Qualifikationen, die zwar in Randbereichen von Prekarität bedroht sind, sich aber weitgehend „sekundärer Ausbeutung“ entziehen können; die in die Defensive geratene Klasse der qualifizierten Angestellten und Arbeiter, die Einbußen bei Einkommen und Arbeitsqualität zumindest noch in Schranken halten können; und die prekär und informell Beschäftigten, die sich „in sozialer Nähe zu einem Status der Fürsorge“ bewegen. Heute zu beobachtende Formen der Krisenverarbeitung, von Kollektivbewusstsein und Konkurrenz unter den Lohnabhängigen sind, so der Vorschlag von Dörre/Liebig, in diesem Rahmen zu untersuchen und zu interpretieren.

Zur Frage, ob und wie die vergangene Finanz- und Wirtschaftkrise in den Köpfen der Beschäftigten kapitalismuskritische Impulse freigesetzt hat, haben Richard Detje, Wolfgang Menz, Sarah Nies und Dieter Sauer im vergangenen Jahr in der IG Metall organisierte Betriebsräte und Vertrauensleute ausführlicher befragt. Die Ergebnisse sind differenziert: Als großer Gleichmacher und Erzeuger durchgängig kapitalismuskritischer Positionen hat die Krise offenbar nicht gewirkt. Vielfach bildete sie aber den bisherigen Höhepunkt einer oft schon lange virulenten Krisenerfahrung. Die am häufigsten anzutreffenden Reaktionen darauf sind Gefühle der Ohnmacht und auch der Wut, die jedoch seltsam adressatenlos scheinen, weil sie in den anonymen Shareholdern kein greifbares Gegenüber finden. Zugleich wird „der Politik“ durchgängig das Misstrauen aus- und die Legitimation abgesprochen. Aus diesem Gemisch kann, so die Schlussfolgerung der Autoren, durchaus auch eine kritische Haltung entstehen, in der sich Ohnmachtsgefühle und Wut zu sozialem Protest weiterentwickeln.

Guido Speckmann berichtet über Verbreitung und Ambivalenz von „antikapitalistischen Einstellungen“ am Beispiel von neueren Studien von Richard Stöß und der Friedrich-Ebert-Stiftung. In diesen Untersuchungen ging es – anders als bei der Befragung von Detje u.a. – um einen breiteren Bevölkerungsdurchschnitt. Es zeigt sich: Globalisierungs- und kapitalismuskritische Positionen haben sich offenbar bereits vor der Krise unter dem Eindruck des neoliberalen Sozialabbaus entwickelt und in der Krise noch eine Verstärkung erfahren. Allerdings kann solche „Systemkritik“ sowohl mit rechten wie linken Einstellungen verbunden werden. Hier demokratisch-emanzipatorische Potenziale zu fördern und rechte Einstellungen zurückzudrängen sieht Speckmann als wichtige Herausforderung für marxistische Kapitalismuskritik.

Werner Seppmann fragt nach dem Zusammenhang von Krisenerfahrung und Widerspruchsbereitschaft. Er hebt hervor, dass die jüngste Krise für Lohnabhängige lediglich den Gipfelpunkt einer seit drei Jahrzehnten andauernden latenten Krisentendenz bilde. Allerdings erwüchsen aus Krisenerfahrungen nicht spontan vorwärtsweisende Proteste: Hierzu sei politische Organisation nötig – insbesondere im Sinne eines politischen Mandats von Gewerkschaften.

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Frank Deppe und Werner Goldschmidt unterhalten sich in einem ausführlichen Gespräch über Deppes nunmehr in fünf Bänden vorliegende „Geschichte des politischen Denkens im 20. Jahrhundert“. Es geht um die zurückliegende politische Epoche, ihre politiktheoretischen Repräsentanten, um die großen Linien der internationalen politischen Kräfteverhältnisse und Klassenkämpfe in den drei Welten des 20. Jahrhunderts, um methodische Aspekte und um den Sozialismus im 21. Jahrhundert. Politiktheorie ist auch Gegenstand des Beitrags von Karl Hermann Tjaden, der sich mit dem Buch „Demokratie contra Kapitalismus“ von E. M. Wood auseinandersetzt. Tjaden lobt „eine ganze Reihe vorwärtsweisender [...] Befunde und Gedanken“, verweist jedoch auch auf die Vagheit und Allgemeinheit der normativen Schlussfolgerungen und auf einen auf Politik und Ökonomie reduzierten Blick bei der Reformulierung eines „historischen Materialismus“.

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Der Themenblock zur Medienkritik – Fortsetzung des Schwerpunktes aus Z 86 – wird eingeleitet von Halina Wawzyniak. Sie stellt in ihrem Beitrag den linken Klagen über einen Medienboykott die Forderung gegenüber, sich der neuen Online-Medien aktiv und selbstbewusst zu bedienen. Das Internet könne von der Linken viel wirkungsvoller genutzt werden als das bisher der Fall sei. Sie plädiert dafür, linke Inhalte über das Internet und netzpolitische Debatten, wie sie in Twitter, Youtube, Blogs oder Faceboook geführt werden, zu verbreiten und den Medienboykott dadurch zu umgehen.

Wawzyniaks Internetoptimismus wird von Marisol Sandoval allerdings mit etlichen Fragezeichen versehen. Die Aufhebung der Trennung von ProduzentInnen und RezipientInnen reicht nicht aus, um das Mediensystem emanzipatorisch zu gestalten. Der partizipative Charakter der Alternativmedien werde auch für repressive und z. B. rechtsextreme Inhalte genutzt oder z.B. kommerzialisiert. Außerdem benötige ein im Internet präsentes alternatives Online-Medium beträchtliche materielle Ressourcen. Hier könnten dann aber wieder die ökonomischen Sachzwänge des Kapitalismus als Bremse voll wirksam werden.

Rainer Rilling, stellt das LinksNet vor. Dieses netzpolitische Projekt existiert seit dem Jahr 2000 und bildet inzwischen ein linkspluralistisch angelegtes Medienportal, in dem sich derzeit immerhin 47 linke Zeitschriften mit insgesamt mehr als 5.000 Volltexten präsentieren.

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Weitere Beiträge: Gegen die unter dem Stichwort „neue Marx-Lektüre“ wieder belebte alte These, Friedrich Engels habe bei der Bearbeitung und Herausgabe entscheidender Teile des Marxschen „Kapital“ Marx nicht verstanden bzw. verfälscht, wendet sich Klaus Müller. Unter Bezug auf den MEGA-Bericht von Neuhaus/Hubmann in Z 85 weist er am Beispiel des ‚Gesetzes des tendenziellen Falls der allgemeinen Profitrate’ detailliert nach, wie eng und authentisch Engels sich bei der Herausgabe des wichtigen dritten Bandes des „Kapital“ an die Marx’schen Gedanken und Formulierungen gehalten hat.

Werner Röhr setzt sich mit dem Buch „Das Amt und die Vergangenheit“ der Historikerkommission zur NS-Vergangenheit des Auswärtigen Amtes auseinander. Für ihn widerlegt das Buch plausibel, dass das Amt „Hort des Widerstands“ war, wie seine alten Mitarbeiter nach 1945 behauptet und so eine kritische Aufarbeitung jahrzehntelang verhindert hatten.

Einen Einblick in das philosophische Denken von Mario Bunge – Materialist, aber kein Anhänger des Marxismus – gibt Richard Sorg. Im Mittelpunkt dieses ersten Teils steht Bunges Ontologie. Im nächsten Heft geht es um „Nagelproben für eine materialistische Weltsicht“.

Im Anschluss daran wird über Tagungen (Alexander Charlamenko, Gudrun Havemann) und über neuere Buchpublikationen der Linken berichtet.

In Z 88 sollen u.a. die Diskussionen über Klassen, Imperialismus und gesellschaftliche Alternativen weitergeführt werden.