Fred Schmid, China: Krise als Chance? Aufstieg zur ökonomischen Weltmacht, ISW-Report Nr. 83/84, Institut für sozial-ökologische Wirtschaftsforschung, München 2010, 67 S., 5 Euro
Dass China eine neue ökonomische Weltmacht ist, gilt heute fast als Gemeinplatz. Fred Schmid stellt in seiner bemerkenswerten kleinen Studie, gestützt auf die zugänglichen Sekundärquellen, diese Weltmacht in allen ihren ökonomischen Facetten dar. Dabei wird deutlich, dass der wirtschaftliche Aufstieg Chinas weniger als meist dargestellt ein reines Exportmodell war – der für ein so großes Land vergleichsweise hohe Exportanteil von 36 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (USA: 13 Prozent) erklärt sich vor allem aus der Rolle Chinas als „Werkbank“ – d.h. importierte Halbfertigwaren wurden bearbeitet und wieder exportiert (10). Im Ergebnis ist der Anteil der Exportwirtschaft an der volkswirtschaftlichen Wertschöpfung weit geringer, als es die Höhe der Exportquoten vermuten lässt.
Das am meisten hervorstechende Merkmal ist die extrem hohe Investitionsquote, die mit 44 Prozent des BIP mehr als das Doppelte z.B. der deutschen ausmacht (12). Die chinesische Entwicklung hat eine ausgeprägte industrielle Basis – gemessen an der Industrieproduktion ist China heute nur knapp hinter den USA die zweitgrößte Industriemacht der Welt (34). Obwohl das chinesische Wachstumsmodell bislang noch ausgesprochen ressourcenintensiv ist, vollziehen sich hierbei rasche Veränderungen: Die Bedeutung von Innovationen nimmt zu, die Ausgaben für erneuerbare Energien steigen sprunghaft an, das technologische Niveau der Produktion erhöht sich in großem Tempo. Trotz spektakulärem Wachstum muss aber festgehalten werden: „Trotz aller ökonomischer Erfolge bleibt China vorerst ein Entwicklungsland.“ (35)
Der Hauptwert der Studie liegt in ihrem Datenreichtum, der alle wichtigen Aspekte der chinesischen Wirtschaft von ihrer inneren Struktur bis zu den internationalen Expansionsbestrebungen abdeckt. Darüber hinaus werden auch einige interessante konzeptionelle Fragen angerissen, die allerdings durchaus diskussionswürdig sind. Eine der Thesen des Autors knüpft an das Fragezeichen im Titel an: Er unterteilt die Entwicklung Chinas in den letzten 60 Jahren in drei Etappen: Dem „Volkskommunen-Sozialismus“ der Mao-Periode 1949 bis 1978, der von Deng Xiaoping eingeleiteten Öffnungs- und Reformperiode bis etwa 2003 und dem von Hu Jintao versuchten Übergang zu einem eher wohlfahrtsstaatlichen und am Binnenmarkt orientierten Entwicklungsmodell (3). Dabei stellt die Weltwirtschaftskrise von 2008/2009 einen Einschnitt dar – die chinesische Führung reagierte auf den scharfen Einbruch des Außenhandels mit einem gewaltigen Konjunkturpaket, welches nicht nur der Krise gegensteuern, sondern auch das durch wachsende Ungleichgewichte sowohl der Einkommensverteilung als auch der regionalen Entwicklung gekennzeichnete Wirtschaftsmodell strukturell korrigieren sollte. Der Autor geht davon aus, dass dies mehr oder weniger gelungen ist. Tatsächlich ist es aber noch zu früh, darüber ein Urteil zu fällen – hier spielt wohl das Prinzip Hoffnung eine Rolle, wie das ISW im Editorial auch einräumt. An mehreren Stellen geht der Autor davon aus, dass Chinas Wirtschaft immer noch politisch steuerbar sei: „Die Entwicklung von Wirtschaft und Gesellschaft wird nicht dem spontanen Moment des Marktes überlassen, sondern erfolgt mittelfristig in Fünfjahrplänen.“ (60) Dass es daran Zweifel geben kann, ist dem Autor bewusst – wobei er die Alternativen zwischen „einer Art Staatskapitalismus“ bei anhaltender Wirksamkeit staatlicher Steuerung einerseits und der Auslieferung des Landes an das internationale Finanzkapital andererseits sieht (44). Dass China selbst eine expansive imperialistische Wirtschaftsmacht werden könnte, wird nicht angesprochen. Dafür gibt es aber durchaus Anzeichen: Chinesische Unternehmen werden zu globalen Playern (42ff.), wobei die Auslandsexpansion keineswegs immer zentralstaatlich gesteuert wird. Auch die innere Entwicklung der Wirtschaft entgleitet der planwirtschaftlichen Kontrolle immer mehr und droht sich zu verselbständigen, wie die jüngsten bislang wenig erfolgreichen Versuche belegen, die Inflation zu begrenzen und den Boom am Immobilienmarkt in den Griff zu bekommen. Hier vollziehen sich spontane ökonomische Prozesse wie in anderen kapitalistischen Ländern – endogen produzierte Krisen sind auch in China nicht mehr auszuschließen. Dann aber wäre China nicht nur nicht das notwendige alternative Entwicklungsmodell zum Konsumismus des Westens (62), es würde gerade wegen seiner gewaltigen Größe selbst zum weltwirtschaftlichen Risikofaktor.
Dies ist zugegebenermaßen heute noch reine Spekulation – derzeit steht die Hoffnung im Vordergrund, dass es China gelingen möge „zu einem neuen Wachstumsmodell überzugehen – zu einem mehr auf den Binnenmarkt orientierten und ressourcenschonenderen Produktion- und Akkumulationstyp“ (3). Nur dann würde es gelingen, die für die gesamte Menschheit bedrohliche Klimaveränderung zu begrenzen.
Fred Schmid und das ISW haben eine spannende und für das Verständnis der aktuellen weltwirtschaftlichen Veränderungen wichtige Studie vorgelegt, die zudem auch für den an Wirtschaftsfragen interessierten Laien gut verständlich geschrieben ist. Der niedrige Preis ist ein zusätzlicher Anreiz, mal reinzuschauen.
Jörg Goldberg