Buchbesprechungen

VR China 1949-2008

von Karl Unger zu Helmut Peters
Juni 2011

Helmut Peters, Die VR China: Aus dem Mittelalter zum Sozialismus – Auf der Suche nach der Furt, Essen 2010, Neue Impulse Verlag, 580 S., 19,80 Euro

Der Sinologe Helmut Peters, der als Wissenschaftler und Diplomat der DDR mehrere Jahre in Peking lebte, hat eine gewichtige Analyse der Entwicklung der VR China 1949-2008 vorgelegt. Sie besticht nicht nur, weil Peters im Gegensatz zur Mehrzahl der deutschen „China-Experten“ die chinesischen Quellen auswertet (obwohl man sich bei Mao Verweise auf die Belegstellen der deutschen Ausgaben (Berlin/Ost) bzw. Peking) gewünscht hätte), sondern auch durch den theoretischen Rahmen der Untersuchung. Peters begreift die Geschichte Chinas seit 1949 als Suche nach „der Furt“ von einer stark mittelalterlich geprägten und kolonial deformierten Gesellschaft zum Sozialismus. „Mittelalterlich“ ist zwar eine unscharfe Kategorie, hat aber den Vorteil, dass sie ein deutliches und umfassendes Bild eines bestimmten gesellschaftlichen Entwicklungsstandes vermittelt. Das ist wichtig, weil die nationalen Befreiungsbewegungen in den Ländern des Ostens bzw. der Dritten Welt von der Kommunistischen Internationale bzw. der kommunistischen Weltbewegung nach 1945 als bürgerlich-demokratische interpretiert wurden, die die „feudalen Reste“ gewissermaßen nebenbei überwinden könnten und würden. Die Geschichte Chinas hat dagegen gezeigt, „dass es sich erstens nicht nur um ‚Reste‘ des Mittelalters handelte, sondern um tief verwurzelte materielle und geistige Elemente der alten Gesellschaft. Sie hat zweitens bewiesen, dass diese Elemente nicht ‚im Vorübergehen‘ zu lösen sind, sondern sie den gesellschaftlichen Fortschritt über lange Zeit nach dem Sieg der Revolution behindern bzw. ihn verzerren können“ (73). Peters erinnert, dass Lenin nach der Krise 1920/21 die Einschätzung des Entwicklungsstandes der russischen Gesellschaft fundamental korrigiert hat. Die „grundlegenden Voraussetzungen der Zivilisation“ müssten geschaffen werden und es gelte „zuerst feste Stege zu bauen, die in einem kleinbäuerlichen Land über den Staatskapitalismus zum Sozialismus führen“ (LW 33/38). Dieser gesellschaftsstrategische Ansatz der NEP, der den Kapitalismus als „Segen gegenüber dem Mittelalter“ (Lenin) begreift, ist unter Stalin aufgegeben worden. Der Schwenk vom Kriegskommunismus zur NEP wurde als rein ökonomisches Manöver betrachtet und dargestellt. Das hatte, wie Peters hervorhebt, infolge des Vorbildcharakters der russischen Revolution und des Sowjetmarxismus wesentliche Auswirkung auch auf die KP Chinas.

Unter Mao Zedong hatte es „zwei Versuche, den Weg des Landes zum Sozialismus zu erkunden und zu beschreiten“ (356), gegeben. Der erste Versuch, dem eine differenzierte Einschätzung des gesellschaftlichen und ökonomischen Entwicklungsstandes zu Grunde lag und der in Maos Schrift „Über die neue Demokratie“ (1940) eine theoretische Fundierung hatte, wurde, bevor er eigentlich begonnen hatte, abgebrochen. Der zweite orientierte sich an den „feudalen Resten“ und der Stalinschen Sozialismus-Konzeption: „Damit verkörperte sich der Sozialismus unter den Bedingungen rückschrittlicher gesellschaftlicher Produktivkräfte auch für die KP Chinas in einer hochzentralisierten Wirtschaftsleitung, die alle Produktion und Reproduktion steuerte. Daraus ergab sich mit logischer Konsequenz, dass Sozialismus auch ein politisch hochzentralisierter und hierarchisch aufgebauter Machtapparat sein musste. Das Problem war, dass diese Macht praktisch ohne jegliche Kontrolle über alle drei Gewalten verfügte.“ (116) Mit dem Kurs der „drei roten Banner“ und zur Verwirklichung eines bäuerlichen Kriegskommunismus verlies die Partei schließlich den Boden für eine realistische und stabile Entwicklung des Landes. Die „Kulturrevolution“ kostete nach chinesischen Quellen 20 Mio. Menschen das Leben. Der materielle und finanzielle Schaden wird auf 500 Mrd. Yuan geschätzt. Nur die grundsätzliche Wende der KPCh danach bewahrte das Land „vor dem Verlust der sozialistischen Perspektive“ (394), verband das aber „mit dem Verschönen bzw. Verschweigen der negativen Folgen der Politik und Ideologie Mao Zedongs auf die gesellschaftlichen Prozesse seit 1953“ (395). Deng Xiaoping entwickelte an diesem Wendepunkt die Theorie, dass der Sozialismus nicht wie bei Lenin durch das „Ausnutzen“ des Kapitalismus, sondern durch das „Lernen“ von ihm zu entwickeln ist. Sie gilt heute in China als „die zeitgenössische Form des wissenschaftlichen Sozialismus“ und hat den Weg frei gemacht für die Integration in die kapitalistische Weltwirtschaft. Damit nahm aber, wie Peters anmerkt, „das ‚Lernen vom Kapitalismus‘ eine neue Qualität an. Es schloss nun auch die Bereiche außerhalb der Wirtschaft ein, um das ‚Modernste‘ des heutigen Kapitalismus aufzunehmen und zu ‚verdauen‘.“ (410)

In seiner materialreichen und detaillierten Studie verfolgt Peters die weitere Entwicklung der Volksrepublik mit Sympathie und Kritik. Erstere gilt vor allem dem 1989 verstorbenen Hu Yaobang, der als ZK-Vorsitzender den Beschluss über den „Aufbau der geistigen Zivilisation des Sozialismus“ verantwortete. Die von ihm geforderte „wagemutige Forschung und freie Debatte“ sowie das Gewähren von „akademischer und schriftstellerischer Freiheit“ waren dann doch nicht die Sache der Partei. Sein Nachfolger forcierte vielmehr die Wirtschaftsreform mit marktwirtschaftlichen Mitteln und je mehr China an der kapitalistischen Globalisierung partizipierte, desto stärker wurde der Einfluss der bürgerlichen Ideologie: „Während die KP Chinas in der Frage der politischen Reform deutliche Stoppschilder für diesen Einfluss gesetzt hatte, zeigte sie sich, ausgehend von dem Bestreben, die Produktivkräfte so schnell wie möglich zu entwickeln, gegenüber bürgerlichen Theorien im Bereich der Wirtschaft deutlich offener.“ (463) So fasste Generalsekretär Jiang Zemin 2001 unter dem Begriff „neue soziale Schichten“ unterschiedslos kapitalistische Unternehmer, Arbeiter und Angestellte. Weil die Leitungstätigkeit privater Unternehmer in der sozialistischen Gesellschaft produktive Arbeit ist und Wert schafft, gibt es keinen Klassenantagonismus mehr zwischen Kapital und Arbeit, weshalb in der KP Platz für alle ist. Peters vermutet als realen Kern hinter diesem theoretischen Unsinn, dass es der KP „in erster Linie um den ‚friedlichen Aufstieg‘ zu einer allseits gestärkten Weltmacht geht“ (469) und sieht die Gefahr der Beeinträchtigung sozialistischer Kräfte und Gedanken.

Als Ausgangspunkt für seine Einschätzung des Charakters der Volksrepublik heute nimmt Peters die Feststellung der KP, dass China ein Entwicklungsland mit niedrigem Einkommen ist. Nicht die absolute Größe des BIP spiegelt die Realität wieder, sondern die Pro-Kopf-Erzeugung; und da lag China 2008 im internationalen Durchschnitt auf Platz 106. Seit 1949 hat die VR China eine Reihe widersprüchlicher Versuche hinter sich, zum Sozialismus überzugehen, aber einen „armen Sozialismus“ kann es, wie Deng Xiaoping sagte, nicht geben. Helmut Peters Fazit lautet: „Die heutige chinesische Gesellschaft hat weder bereits sozialistischen Charakter noch ist sie eine bürgerliche Gesellschaft im marxistischen Verständnis. Sie befindet sich in ihrem historischen Transformationsprozess objektiv in einer Etappe, die dem Sozialismus vorausgehen kann.“ (561) Die größten Probleme bei der Suche nach der Furt zum Sozialismus liegen ohne Zweifel im Prozess der Aneignung und Auseinandersetzung mit der bürgerlichen Kultur: „Die VR China hat bisher jedoch selbst in Ansätzen keine neue Produktions- und Lebensweise, keine neue Kommunikationsweise entwickelt, die dem Kapitalismus überlegen ist. Sie folgt in all diesen Bereichen im Grunde dem westlich-kapitalistischen Vorbild. Vielleicht ist diese Erwartung angesichts noch nicht überwundener Armut und Rückständigkeit zu hoch angesetzt. Möglicherweise ist die Beibehaltung dieses Trends auf Dauer für die sozialistische Perspektive tödlicher als alles andere.“ (560)

Karl Unger