Robert Cohen, Exil der frechen Frauen. Roman, Rotbuch-Verlag, Berlin 2009, 624 S., 24,90 Euro
Während die Sieger die Geschichte schreiben, müssen die Verlierer nicht nur darum bangen, gänzlich aus der Erinnerung gelöscht zu werden, sondern in ihr nur den Platz des Antipoden, des Verbrechens, des Bösen, das schließlich durch den Aufschrei der unterdrückten Massen hinweggefegt wurde, zugewiesen zu bekommen. Die moralische Empörung über diese Form der Geschichtsschreibung durch die Sieger, wie man sie erst kürzlich in der Debatte um das unbedachte Wort des „Kommunismus“ beobachten konnte, wäre berechtigter, wenn nicht die Geschichte der Verlierer selbst durch ungeheure Verbrechen und ein für die eigene Bewegung kaum zu bewältigendes moralisches Versagen gekennzeichnet wäre. So gibt es keine Möglichkeit der moralisch reinen und aus der Rolle des Opfers geschriebenen Geschichte der kommunistischen Weltbewegung im 20. Jahrhundert. Es bleibt die Frage, wie wir uns einer Geschichte heute vergewissern können, die zwischen Menschheitshoffnung und Menschheitsverbrechen in wenig mehr als einem Jahrhundert Spuren hinterlassen hat, deren Tiefe und Auswirkungen für die Zukunft der Bewegung immer noch nicht abzusehen sind.
Die Hoffnungen, Sehnsüchte, das Wollen und die Opferbereitschaft von Millionen Menschen, die sich in den Kämpfen des 20. Jahrhunderts für die Möglichkeit einer anderen Welt eingesetzt haben, erscheinen aus heutiger Sicht manchen nur noch als eine ideologische Verblendung, bestenfalls als eine quasireligiöse Hingabe an eine falsche, respektive zwar gute aber nicht für diese Welt geschaffene Sache. Wie, warum, mit welchen Hoffnungen und Illusionen und vor allem mit welchen Konsequenzen und welcher Notwendigkeit sich Menschen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in diese Kämpfe gestürzt haben, kann nachvollziehbar vielleicht nur in Form von Literatur geschildert werden.
Der in den USA lebende Schweizer Germanist Robert Cohen unternimmt am Beispiel dreier Frauen aus der kommunistischen Weltbewegung den gewagten Versuch, ein Panorama der politischen und kulturellen Kämpfe dieser Zeit zu entwerfen, dessen Ergebnis zu den großartigsten literarischen Denkmälern des kommunistischen Widerstands, des politischen und kulturellen Exils und vor allem – des politischen und kulturellen Widerstands von Frauen gehört, das seit Peter Weiss‘ „Ästhetik des Widerstands“ erschienen ist. „Das Exil der frechen Frauen“ zeigt am Beispiel von drei Frauen, deutschen Kommunistinnen, Literatinnen, Funktionärinnen der Komintern, die ganze Widersprüchlichkeit zwischen antifaschistischem Kampf weltweit und der stalinistischen Entstellung ihres politischen Bezugspunktes, die diese Lebensentwürfe als großartig und gleichzeitig tragisch, als Hoffnung gebend und gleichzeitig so verzweifelt erscheinen lässt.
Im Frühjahr 1928 befreit die junge Olga Benario ihren Liebhaber, den KPD-Funktionär Otto Braun, aus dem Gefängnis in Moabit. Diese freche Tat veranlasst Ruth Rewald und Maria Greßhörner, aus der später Maria Osten wird, dazu, einen „Verein der frechen Frauen“ zu gründen und diese Frechheit zu ihrem eigenen Lebensmotto zu machen. Schon bald werden sie sie brauchen, denn der Faschismus treibt die Frauen ins Exil. Frankreich, Spanien, die Sowjetunion und Brasilien – in einem unerhörten und nicht enden wollenden Rhythmus reihen sich die Stationen des Exils aneinander, wechseln die Schauplätze, wird das Leben auch für die frechste Frau immer schwieriger und bedrückender. Organisch ist das Leben dieser Frauen mit den Kämpfen ihrer Zeit und mit der kommunistischen Bewegung verknüpft, die zum einzigen festen Haltepunkt für sie wird und sich doch mehr und mehr in ein Netz auflöst, dass eine Protagonistin schließlich selbst verschlingt. Drei reale Frauenleben werden von Robert Cohen literarisch verknüpft und zu einem Panorama linker, kommunistischer Handlungsmöglichkeiten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verwoben.
Olga Benario, die nach ihrer spektakulären Tat in die Sowjetunion geht und dort für die Komintern arbeitet, geht als Leibwächterin mit dem brasilianischen Revolutionär Carlos Prestes nach Brasilien, um dort 1935 den Aufstand zu wagen. Zusammen mit anderen GenossInnen der Komintern unterstützen sie die Aufstandsbewegung in Brasilien, die doch vor einem völlig anderen sozialen Hintergrund stattfindet, als es die Übertragung des bolschewistischen Modells nahelegt. Der Aufstand scheitert und führt zum Untergang der Gruppe, für den exemplarisch der Folterbericht von „Sabo“ Ewert steht, die zusammen mit Olga Benario zurück ins faschistische Deutschland deportiert wird. Über Ravensbrück führt der Weg Benarios nach Bernburg, wo sie als Jüdin ermordet wird. Sie ist es, die Prestes in Brasilien das Leben rettet und sie ist es, die mit ihrer im Nazigefängnis geborenen Tochter Anita ein Vermächtnis hinterlässt, dass ihre Geschichte bezeugt.
Maria Osten arbeitet für den Malik-Verlag von Wieland Herzfelde, bevor sie mit dem sowjetischen Schriftsteller und Journalisten Michail Kolzow zusammen nach Moskau geht. Als Schriftstellerin und Kulturarbeiterin ist sie entscheidend an der Exilzeitschrift „Das Wort“ beteiligt, knüpft und hält Kontakte zu den deutschen Exilschriftstellern, begleitet Feuchtwanger auf dessen Reise in die Sowjetunion 1936. Ob in Frankreich oder in Spanien während des Bürgerkrieges, in endlosen Reisen ist es Maria Osten, die die Stimmen der deutschen Exilierten sammelt. Schließlich wird sie, wie Kolzow, in den Strudel der stalinistischen Verfolgung gezogen, in dem sie allein und isoliert untergeht.
Schließlich Ruth Rewald, auch sie als Schriftstellerin von Jugendbüchern in der kommunistischen Bewegung und durch die Nazis ins Exil nach Frankreich getrieben. Sie ist Teil der Kulturbewegung im Exil, nimmt am großen Schriftstellerkongress 1935 in Paris teil und lernt berühmte Kollegen wie Isaak Babel, Walter Benjamin, Anna Seghers u.a. kennen. Schließlich geht auch Ruth Rewald nach Spanien, um hier direkt gegen den Faschismus zu kämpfen. Ihr Weg endet 1942, als sie als Jüdin in einem französischen Dorf verhaftet und schließlich nach Auschwitz deportiert wird.
Drei Frauen werden umgeben von sehr vielen berühmten Männern; und doch sind sie es, die die Perspektive des Romans wiedergeben. Sie sind freche Frauen, die sich nicht die Rolle des Opfers aufdrücken lassen, wie sie der Faschismus für sie vorgesehen hat, die handeln und die Entscheidungen für ihr Leben treffen. Und dennoch geht die Geschichte über sie hinweg und es bedarf ungeheurer Anstrengung, die Erinnerung an sie zu bewahren. Robert Cohen hat diese Anstrengung nicht gescheut und drei Frauenleben auf literarische Art miteinander verknüpft, die den Leser in einen endlosen, Grenzen und Systeme wechselnden Bann des Exils zieht. Bewegung und Reise sind es, die den Roman strukturieren. „Würden die Späteren diese Rastlosigkeit einmal verstehen? Nie Zeit haben. Nie irgendwo bleiben. Nie eine Sache vom Anfang bis zum Ende führen, nie eine Situation in aller Ruhe durchdenken können. Keine Atempause, auch nicht in den Beziehungen. Das Leben lief ab unter den Bedingungen einer unerbittlich sich beschleunigenden Zeit.“ (431)
Während die zeitlichen Ebenen des Romans die Diskontinuität der Leben spiegeln, werden mit wenigen Sätzen Ausblicke bis in die Gegenwart gegeben, womit die Ausläufer der erzählten Geschichte bis heute mit wenigen Strichen angedeutet werden. Die Drohung des Vergessens ist es, so scheint es, die den Autor antreibt und die hier gezeigte Geschichte kann vielleicht nur die Literatur angemessen darstellen: „So ist es gewesen. Bilder lügen nicht (sondern sagen mehr als tausend Worte). (Manchmal auch weniger.) Wer wissen will, wie es wirklich gewesen ist, kann in den Geschichtsbüchern nachlesen. Die Geschichtsbücher sind parteiisch? Die Darstellungen widersprechen sich? Fakten und Zahlen sagen auch nicht alles? So können wir nicht wissen, wie es wirklich gewesen ist? Jedem seine eigene Wahrheit? Aber die Toten sind tot (außer wir erinnern uns an sie).“ (367)
Mit Olga Benario, Ruth Rewald und Maria Osten zeigt Cohen drei Figuren, die mitten in den Kämpfen ihrer Zeit stehen, jedoch nicht die führenden Figuren dieser Kämpfe sind. Gerade deshalb stehen sie für so viele, die ähnliche Wege gegangen sind, die ähnliche Schicksale hatten und deren Geschichte immer mehr verblasst: „Die Quellen versiegen. Jene, von denen hier die Rede war, verschwinden wieder in der Geschichte, an der sie mitgewirkt haben und die über sie hinweggeht. Sie haben die Geschichte gemacht, sie und niemand anderes. Aber ihre Kräfte haben nicht ausgereicht. Das Resultat ihrer Anstrengungen ist, wie so oft in der Geschichte, ein anderes, als das von ihnen gewollte.“ (569) Der Wille, die Geschichte in die eigenen Hände zu nehmen ist es, der die Figuren in Cohens Roman auszeichnet. „Aber sie machten sie nicht aus freien Stücken, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen.“ (492) Und eben weil der Erzähler seinen Marx so gut kennt, kann er die Geschichte dieser Frauen in ihrer Widersprüchlichkeit erzählen, kann ihre blinden Flecken, ihre Selbsttäuschungen anführen, ohne sie zu denunzieren. Natürlich wollen sie an die Schuld der Angeklagten in den Moskauer Schauprozessen glauben, natürlich wollen sie an der Sowjetunion als Erfüllung aller Ideale festhalten, weil sie als exilierte jüdische Kommunistinnen (Rewald und Benario) angesichts der Drohung des Faschismus jeden Boden unter den Füßen verlören, ließen sie den Bruch, der gedanklich immer wieder aufblitzt, wirklich zu. Und so spielt, neben dem für das eigene Leben unumgänglichen Kampf gegen den Faschismus die Desillusionierung der mit der Sowjetunion und der bolschewistischen Revolution verbundenen Hoffnung einer besseren Gesellschaft eine zentrale Rolle. Als Kommunistinnen ist für alle drei Frauen die Sowjetunion und das sozialistische Experiment der natürliche Bezugspunkt. Und gerade in dem Moment, wo die Notwendigkeit eines solchen Bezugspunkts angesichts der faschistischen Bedrohung immer existentieller wird, verwandelt sich die Hoffnung in einen Albdruck, der den Frauen die letzte Sicherheit, den letzten Halt zu nehmen droht. Die nicht geringste literarische Leistung Cohens besteht darin, dieses Festhalten wollen an einer immer ferner rückenden Hoffnung und ihren Umschlag in eine Bedrohung an den Protagonistinnen gestaltet zu haben: „Unruhe erfasste sie aber bei den zahlreichen Zeitungsberichten über das Treiben der trotzkistischen Opposition und über den Widerstand der Kulaken gegen die Kollektivierung. Was ging da vor? War das Land in Gefahr? Es sollte zu Massenhinrichtungen von Kulaken gekommen sein. Was hatte sie sich darunter vorzustellen? Waren hunderte hingerichtet worden? Tausende? Mit den Feinden des Sozialismus wurde unnachgiebig verfahren, das war richtig. Das Land hatte keine Wahl, wem konnte das klarer sein als ihr, die vor den Nazis geflohen war und in ihren Artikeln Zeugnis ablegte vom faschistischen Terror in Spanien? Zehntausende?“ (405)
Robert Cohen hat sich als Germanist intensiv mit der Exilliteratur befasst. Der kulturelle Widerstand gegen den Faschismus wird von ihm an zahlreichen Figuren des Buches expliziert. Da sind nicht nur die internationalen Großschriftsteller wie Brecht, Malraux, Babel, Seghers und viele andere. Auch neue künstlerische Ausdrucksformen und ihre politisch-gesellschaftliche Bedeutung werden in den Gesprächen der Protagonistinnen, z.B. mit den Fotografinnen und Fotografen Gerda Taro, Robert Capa oder Tina Modotti, aufgezeigt. In Brasilien lernt Olga Benario den jungen Architekten Oscar Niemeyer und den Ethnologen Claude Lévi-Strauss kennen. Die Begegnungen verdeutlichen die Ausstrahlung einer noch aufstrebenden revolutionären Linken und die Bedeutung der Kultur für die angestrebte gesellschaftliche Veränderung. Cohen knüpft hier an Peter Weiss und die „Ästhetik des Widerstands“ an, zu der auch Cohen als Germanist gearbeitet hat. Sicher nicht zufällig trifft die Erzählerfigur aus der „Ästhetik des Widerstands“ für ein kurzes Gespräch über die Bedeutung der Kultur für die Linke in Barcelona mit Ruth Rewald zusammen.
Cohens Geschichte des kommunistischen Exils am Beispiel dreier Frauen gehört zu den bewegendsten, engagiertesten und differenziertesten Darstellungen linker Geschichte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Wer sich nach mehr als 600 Seiten schmerzhaft von den Protagonistinnen des Buches getrennt hat, wird nicht akzeptieren wollen, dass es sich um eine abgeschlossene Geschichte handelt.
Gerd Wiegel