Berichte

Sozialistisch-demokratische Programmatik heute

"30 Jahre Herforder Thesen", Braunschweig, 2./3. Oktober 2010

Dezember 2010

Anfang Oktober erinnerte eine Tagung in Braunschweig an ein fast vergessenes programmatisches Dokument, das eine Gruppe von „Marxisten in der SPD“ vor 30 Jahren veröffentlichte: die „Herforder Thesen“[1]. Es mögen wohl gut 30 gewesen sein, die sich aus diesem Anlass zusammengefunden haben; überwiegend Mitglieder der LINKEN., obwohl es doch ein programmatisches Dokument einer links-sozialdemokratischen Strömung zu besprechen galt. Doch viele derjenigen, die damals zur „Juso Linken“ gehörten und oft „Stamokaps“ genannt wurden, möchten heute nur ungern an ihre links-radikale Jugend erinnert werden. Und auch die heutigen Träger/innen der „Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft – spw“ blieben der Tagung leider fern. So kamen also überwiegend diejenigen „Herforder/innen“ zusammen, die mittlerweile den Weg in DIE LINKE. gefunden haben. Dabei haben diese Thesen – so der einhellige Tenor der Braunschweiger Tagung – auch heute noch einiges zu bieten, und zwar für die gesamte sozialistische Linke, in welchen Parteien auch immer sie organisiert ist.

Auch die Berliner Wirtschaftswissenschaftlerin Gretchen Binus war über die immer noch große Aktualität der Herforder Thesen erstaunt. Es sei ein Dokument, „das auch heute für eine Strategiediskussion zur Veränderung der herrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse von Bedeutung ist“. Die in den Herforder Thesen hervorgehobenen Strukturmerkmale des Kapitalismus:

- die Herausbildung großer multinationaler Monopolunternehmen,

- die ständig weiterreichende ökonomische Einbeziehung des Staates in den Wirtschaftsprozess und

- die fortbestehende, sich noch verschärfende und verallgemeinernde Krisenproblematik

prägten auch heute noch die ökonomische und politische Entwicklung der Gesellschaft. Auf die ökonomische Einbeziehung des Staates in den Wirtschaftsprozess eingehend stellte sie fest, dieses Verhältnis sei äußerst ambivalent, denn der Staat sei nach wie vor selbständig in seinem Handeln, auch gegenüber ökonomischen Prozessen. Der Staat fungiere in diesem engen Beziehungsgeflecht keineswegs nur als bloßer Vollstrecker von Konzerninteressen. Auch betonte sie, wie wichtig es sei, die Vergesellschaftung der Produktionsmittel in den Vordergrund einer sozialistischen Strategie zu stellen und eine „alternative Eigentumspolitik der LINKEN.“ zu formulieren.

Zuvor hatte Kurt Neumann, einer der Autoren der „Herforder Thesen“, an ihren Entstehungsprozess und die interessierte Aufnahme erinnert, die sie Anfang der 1980er Jahre gefunden hatten. In groben Strichen zeichnete er den Weg vom Hamburger Strategiepapier der Jusos (1971) bis zu den „Herforder Thesen“ nach und wies auf die große Offenheit der Autoren für Anregungen aus den damaligen Debatten der europäischen Linken hin. Für ihn stand fest, dass die „Herdorfer Thesen“ auch ein gutes „Rüstzeug zum Eingreifen in die Programmdebatte der LINKEN.“ sein können.

Die Berliner Journalistin Daniela Dahn hatte in einem Artikel in der von ihr (mit)herausgegebenen Wochenzeitung „der Freitag“[2] die Frage „Wem gehört das Staatseigentum?“ gestellt und unter anderem auf den Unterschied zwischen „Staatseigentum“ und „Volkseigentum“ hingewiesen. Ihre Schlussbemerkung, „täten linke Parteien nicht gut daran, solange der Staat nur Handlanger und Befehlsempfänger der Wirtschaft ist, ‚Staatseigentum’ als anzustrebendes Ziel ganz zu streichen?“, provozierte den niedersächsischen Bundestagsabgeordneten der LINKEN. und Mitinitiator des Braunschweiger Treffens Diether Dehm so sehr, dass er sie zu einem Streitgespräch eingeladen hatte. Hier erwiderte er ihr – ganz in der Tradition der „Herforder Thesen“ –, Staaten mit parlamentarischen Demokratien seien nie schlicht und umstandslos allein Handlanger und Befehlsempfänger der Kapitaleigentümer. Ein Ansatz linker Politik sei es darum, „mittels demokratisch erlangter Staatsmacht die Macht des Kapitaleigentums einzuschränken und letztlich zu überwinden“. Wer die Deutsche Bank demokratisieren wolle, der müsse sie zunächst in Staatseigentum überführen. „Gegen Staatseigentum zu sein, hieße aber“ – so Dehm – „diesen ersten Schritt zu hemmen.“

Der Jurist und wissenschaftliche Mitarbeiter der Konföderalen Fraktion der Vereinten Europäischen Linken/Nordische Grüne Linke des Europäischen Parlaments Andreas Wehr erinnerte in seinem Vortrag über Klasse und Klassenbewusstsein in den „Herforder Thesen“ an deren klare Antwort auf die Brechtsche Frage „Wer ändert die Welt?“: „Entscheidend für eine sozialistische Umwälzung ist eine Arbeiterbewegung, in der klassenbewusste Positionen vorherrschen und die [...] zu einheitlichem anti-kapitalistischem Handeln befähigt ist.“

Dabei blieben die Thesen aber nicht stehen. Auch beeinflusst durch die traumatischen Erfahrungen des chilenischen Militärputsches 1973 betonten sie zugleich die Notwendigkeit, die Zustimmung „anderer, in ihrer objektiven Klassenlage nicht an das Monopolkapital, gebundener Klassen und Schichten zu erreichen“. Wehr hob in seinem Vortrag weiter hervor, dass Lohnabhängigkeit auch eine „Unsicherheit der Lebensstellung“ bedeute – ein Aspekt, der 1980 kaum wahrgenommen wurde, heute jedoch wieder zu einer bitteren Realität geworden ist. Zugleich sei es jedoch auch „modisch geworden, von einem steten und unaufhaltsamen Individualisierungsprozess zu sprechen, der das traditionell kollektive und auf Solidarität gerichtete Bewusstsein der Ausgebeuteten nahezu vollständig hat verschwinden lassen“. Diese Abgesänge an Arbeiterklasse und Klassenbewusstsein erteilte Weher eine Absage. Stattdessen forderte er dazu auf, „die Klassenverhältnisse historisch zu denken“, in dem Auf- und Abstieg der Arbeiterbewegung einen Ausdruck des anhaltenden Ringens um die Einsicht in die Ausbeutungsverhältnisse zu sehen, denn – so die Position der Herforder Thesen – „die Entwicklung und Festigung von Klassenbewusstsein in der Arbeiterklasse erfolgt weder gradlinig noch ohne Rückschläge“.

Die Vorträge und Diskussionen verdeutlichten, dass die „Herforder Thesen“ auch heute noch einen Bezugspunkt für sozialistische Strategie- und Programmdiskussionen bieten. Es wäre zu wünschen, dass sich an der weiteren Diskussion auch (wieder) linke Sozialdemokraten/innen beteiligten. Die „Herforder/innen“ wollen den Diskussionsstrang jedenfalls nicht erst wieder in 10 Jahren aufgreifen, sondern sich schon im nächsten Frühjahr wieder treffen und über konkrete Impulse für die Programmdiskussion der LINKEN. beraten.

Hans Günter Bell

[1] Herforder Thesen. Zur Arbeit von Marxisten in der SPD, Sonderheft 2 der Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft – spw, Berlin, 1980. Download unter http://www.sozialistische-linke.de/veranstaltungen/konferenzen.

[2] Daniela Dahn: Wem gehört das Staatseigentum? Von falschem Sozialismus und richtiger Vormundschaft. Zur Debatte über Vergesellschaftung; in: Freitag, 27.05.2010. (http://www.freitag.de/positionen/1021-wem-geh-rt-das-staatseigentum)