Buchbesprechungen

Der alte Engels und wir

von Martin Hundt zu MEGA I/30
Juni 2011

Karl Marx/Friedrich Engels, Gesamtausgabe (MEGA). Erste Abt.: Werke, Artikel, Entwürfe, Bd. 30: Friedrich Engels, Werke, Artikel, Entwürfe, Mai 1883 bis September 1886, 2 Bände, bearbeitet von Renate Merkel-Melis, Akademie Verlag, Berlin 2011, 1154 S. 178 Euro

Der Band enthält die Schriften aus den ersten drei Jahren nach Marx’ Tod; er ist chronologisch der erste von insgesamt drei, die Engels’ Schaffen von 1883 bis 1895 aufnehmen und die nun alle in der MEGA vorliegen.

Engels hatte fast 40 Jahre mit Marx zusammengearbeitet. Mitte 1883 war neu festzulegen, was für den Rest seines Lebens am wichtigsten zu tun war. Seine Grundüberlegung, wie wir aus Briefen an Bebel, Kautsky und J. Ph. Becker wissen, lautete: die Bände 2 und 3 des Kapitals herauszugeben sowie eine Biografie von Marx in Verbindung mit einer Geschichte der sozialistischen Bewegung von 1843 bis 1872, d.h. bis zum Ende der I. Internationale, zu schreiben. Seine eigene Arbeit an der Dialektik der Natur stellte er zurück. Zusätzlich kam dann, ebenfalls als wissenschaftliche Testamentsvollstreckung, noch hinzu, aus Marx’ Exzerpten den Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats1 zu schreiben.

Den ersten Teil seiner Selbstverpflichtung, der ihm wesentlich mehr Kraft abverlangte, als zunächst geglaubt, hat er erfüllt, den zweiten nur in Ansätzen. Aktuelle politische Anforderungen, aber auch eigene neue Überlegungen traten hinzu. Engels hat doch noch einige Studien zur Naturtheorie betrieben (seine Exzerpte über Elektrolyse und Atomtheorie sind im MEGA-Bd. IV/31 nachzulesen), er hat sich der Geschichte des Christentums gewidmet, vor allem aber mit dem Gedanken gespielt, eine Deutsche Geschichte zu schreiben, in der der Bauernkrieg von 1525 der Angelpunkt2 und die Reformation die „Revolution N° 1“ sein sollte (S. 41).

Es war ein Riesenumfang an Arbeit, die der alte Engels von 1883 bis 1886 leistete (und mit 63 bis 66 Jahren war man damals älter als Gleichaltrige heutzutage): Außer dem umfangreichen Briefwechsel veröffentlichte er, über das im vorliegenden Band Zusammengefasste hinaus, Bd. 2 des Kapitals, korrigierte und revidierte die erste englische Ausgabe des 1. Bandes, begann die Arbeit an Bd. 3 und verfasste den Ursprung .... Engels’ Wirken in jenen drei Jahren füllt also etwa vier MEGA-Bände!

Was bringt I/30 Neues? An Texten kaum etwas, was über das aus MEW Bekannte hinausgeht, nämlich drei halbseitige Notizen. Aber im Anhang die Aufzeichnung eines Gesprächs mit German Lopatin, sechs Artikel anderer Autoren (Kautsky, Aveling, Laura und Eleanor Marx) die unter seiner Mitwirkung entstanden, sowie eine Reihe von Übersetzungen, die von Engels (u.a. in Zusammenarbeit mit Florence Kelley Wischnewetzky) angefertigt oder redigiert wurden. Insgesamt wird also, neben dem für ein tieferes inhaltliches Verständnis äußerst wichtigen historisch-kritischen Erschließen der bekannten Texte hinaus, auch ein wesentlich umfangreicheres Bild seines Schaffens möglich.

Ein bedeutender Teil dessen, was Engels damals veröffentlichte, war einer Zeit gewidmet, die drei bis vier Jahrzehnte zurücklag. Es waren Vorworte zu Veröffentlichungen von Marx aus den Jahren 1847 bis 1852, Erinnerungen an Freunde aus dieser Zeit des „Ausgangs der klassischen deutschen Philosophie“, an Feuerbach, den Vormärz und die Revolution von 1848. Kramte er also nach Art alter Männer in der Vergangenheit? Ganz im Gegenteil, er zeigte, wie hochaktuell diese Vergangenheit war, die im jungen deutschen Kaiserreich fast niemand mehr kannte, und schlimmer noch: Man wollte offiziellerseits nichts mehr von Hegel und vom „tollen Jahr“ wissen.

Zeitgenossen von heute, die eine Vorstellung davon haben, wie die Erinnerung an die DDR unter einem Berg parteilicher „Enthüllungen“ und der Unterschlagung wesentlicher Gesichtspunkte „delegitimiert“ wird, können nachfühlen, was in den 1880er Jahren über die Zeit 40 Jahre zuvor offiziellerseits publiziert und gelehrt wurde. Engels’ Bestreben, die Erinnerung an Feuerbach als wirkungsmächtigem Junghegelianer und an die „ruhmvolle Jugendzeit“ der internationalen Arbeiterbewegung zu bewahren, gewinnt so ungeahnte Aktualität, wird – kritisch zu übernehmendes – „Lehrmaterial“.

Von theoretischer Aktualität in diesem Sinne sind vor allem der „Feuerbach“, die Marxschen Feuerbach-Thesen in Engels’ Redaktion und die Skizze zur Geschichte des Bundes der Kommunisten. Und das wirft – wie sich zeigt – auch für ihre historisch-kritische Edition Probleme auf.

Der „Feuerbach“ ist keine „systematische Darstellung der Grundlagen des dialektischen und historischen Materialismus“ (MEW, Bd. 21, S. XII), war von Engels auch niemals als solche gedacht. Er wollte „nur“ eine „unabgetragne Ehrenschuld“ einlösen, was ihm nicht in vollem Maße gelang, u. a. weil er außer dem rezensierten Buch des dänischen Philosophen Starcke nur seinen Kenntnisstand der 1840er Jahre zugrunde legte. Im vorliegenden MEGA-Band wird in den Erläuterungen an einigen Stellen erstmals gezeigt, welche Fehleinschätzungen deshalb hier und da vorkamen.

Mit Feuerbach stand aber das Verhältnis zur Philosophie Hegels überhaupt zur Debatte, wie Engels auch selbst schrieb, und damit – was er leider nicht thematisierte – zum Junghegelianismus, der eine wirkungsmächtige Bewegung gewesen war, zu dessen besten Vertretern eben Feuerbach, Marx und Engels gehört hatten. In diesem Zusammenhang erhebt sich die seltsamerweise bisher nicht gestellte Frage, warum Engels Marx’ Ökonomisch-philosophische Manuskripte von 1844, die den Kulminationspunkt des Junghegelianismus sowie dessen theoretische Überwindung bedeuteten, nicht veröffentlichte? Mehr editorische Schwierigkeiten als die Bände 2 und 3 des Kapitals konnten sie ihm doch nicht bereiten.

Marx’ Feuerbach-Thesen in der Redaktion von Engels hätte man sich im MEGA-Bd. I/31 gewünscht, denn sie sind Teil der Einleitung zur ersten Buchausgabe des Ludwig Feuerbach... von 1888. Sie werden nun, eine etwas kühne Lösung, in der historisch-kritischen Edition, im Variantenverzeichnis (S. 792-794) abgedruckt, wobei sich die Seitenzahlen auf Bd. IV/3 der MEGA beziehen, was die Benutzung doch etwas erschwert.

Bekanntlich gibt es bereits eine eigene Literatur zur Frage, ob Engels’ Einfügung des Wortes „aber“ den Sinn der berühmten 11. These wesentlich verändert habe. Im Kern wurde er tatsächlich nicht verändert, aber ohne das „aber“ kann die These als Resümee von Feuerbach verstanden werden, mit ihm jedoch mehr als Gegensatz zu ihm. Alle nun nachlesbaren rund 50 „Varianten“ sind zwar, da ist der Bearbeiterin des Bandes zuzustimmen (siehe Einführung, S. 592), vorwiegend dem Wunsch entsprungen, den in junghegelianisch-philosophischer Sprache verfassten und mit großer Sicherheit in dieser Form nicht zur Veröffentlichung bestimmten Marxschen Arbeitstext von 1845 dem Arbeiter-Leser von 1888 lesbar zu machen. Wenn Engels aber in der 3. These, in der es um den Wandel der gesellschaftlichen Umstände und der menschlichen Tätigkeit geht, der „nur als revolutionaire Praxis ... verstanden werden kann“, „revolutionair“ durch „umwälzend“ ersetzte und zudem das Wort „Selbstveränderung“ (des Menschen) strich, war das ein gravierender inhaltlicher Eingriff.

Nachdem Engels schon 1881 in einem Nachruf auf Bruno Bauer auf die Entstehung des Christentums eingegangen war und sich nach 1886 noch mehrfach dazu äußern sollte, ist diese Thematik im vorliegenden Band nur mit zwei Notizen, über die Entstehung des Christentums und The Book of Revelation, vertreten. Eine Erläuterung S. 630 nimmt Bezug auf eine Veröffentlichung Bauers von 1877, die Engels aber sicher nicht kannte.

Hier eröffnet sich eine schwierige Frage: Wie weit soll man den edierten Text aufgrund heutigen Wissens korrigieren und kommentieren? Der vorl. Band gibt Erläuterungen, die im Ludwig Feuerbach... und auch bei einigen Artikeln inhaltlich korrigieren, jedoch ist diese in der MEGA-Edition noch etwas neue Form nicht konsequent durchgeführt. Auch bei Angaben zur Geschichte des Bundes der Kommunisten geschah es nur punktuell. Die hier auftauchenden Probleme sind aber nicht in Erläuterungen, sondern nur in der Einführung darstellbar bzw. wenigstens anzudeuten. Denn diese Skizze ist in einigen Grundzügen fehlerhaft und von persönlichen Antipathien (so gegenüber Born und Bürgers) geprägt. Es fehlt eine Darstellung der Programmdiskussion von 1847, in der Engels eine hervorragende Rolle gespielt hatte, die er also genau kannte und deren eines wichtiges Ergebnis, die von ihm selbst verfassten Grundsätze des Kommunismus, unveröffentlicht in seinem Schreibtisch lagen. Die taktische Wende des Bundes vom Mai 1848 ist nicht klar erfasst, es war historisch nicht gerechtfertigt, die Arbeiterverbrüderung abzubürsten, die Dezemberansprache von 1850 als unwichtig abzutun und die Zeit der Kölner Zentralbehörde gänzlich zu ignorieren. Wie auch die Skizze zur Neuen Rheinischen Zeitung verstand Engels wohl den Text zur Bundesgeschichte vorwiegend unter dem selbstauferlegten Gesichtspunkt, eine politische Marx-Biografie zu schreiben, was seine Darstellungsweise etwas erklärt, die Mängel aber nicht entschuldigt.

Wie bei der MEGA gewohnt, zeichnet sich auch der vorl. Band durch vorzügliche editorische Qualität aus. Eine Kleinigkeit: Im Literaturregister (S. 1139) ist eine Arbeit von Jakov Rokitjanski nicht genannt, die im Apparat zweimal zitiert wurde.

Martin Hundt

1 Diese Arbeit erschien 1990 als Bd. I/29 der MEGA.

2 Engels konnte nicht wissen, dass auch Alexander von Humboldt den Deutschen Bauernkrieg als den Angelpunkt der deutschen Geschichte betrachtete, wie er im Mai 1843 gegenüber Julius Fröbel äußerte.