3. Theoretische Ansätze eines
feministischen Geschlechterbegriffs
Im Kontext der gegen Ende der 1960er Jahre aufkommenden so genannten Neuen Frauenbewegung wird ausgehend von den USA ein feministischer Diskurs in vielen Sprachen und Disziplinen geführt, darunter auch in Zweigen der Sozialwissenschaften. In den deutschsprachigen Diskussionen nimmt der Begriff Geschlecht generell eine prominente Position ein: ziemlich einhellig wird ihm die Funktion eines „Zentralbegriffs“ zugesprochen. (Becker-Schmidt/Knapp 2003, 7, 9) Frevert merkt zu dieser Diskussion an: „die Neue Frauenbewegung [setzt] das Postulat der Gleichheit in bislang unbekannter Radikalität auf die politische Tagesordnung. Die davon inspirierte sozialwissenschaftliche Diskussion verweist in der Folge alle Relikte biologistischer Geschlechtskonstruktionen ins Reich der Ideologie und erhebt die Begriffe ‚Frau’ und (später) ‚Mann’ auch offiziell in den Rang sozialer Kategorien. Inoffiziell sind sie das [...] immer schon gewesen – auch und gerade im hochideologischen 19. Jahrhundert, das so hervorragend verstanden hat, seine politischen und sozialen Zielvorgaben für Frauen und Männer hinter angeblichen Prärogativen der ‚Geschlechtsnatur’ zu verbergen.“ (Frevert 1995, 60) In dieser feministischen Theoriediskussion wird, nach Becker-Schmidt, an der Ausformulierung eines „‚feministischen’“ Geschlechterbegriffs gearbeitet, der als „eine Form kritischer Theorie“ zu kennzeichnen ist (Becker-Schmidt in Becker-Schmidt/Knapp 2003, 7) und der mit biologistischen „androzentrischen Denkmuster[n] und Phantasmen über Männlichkeit und Weiblichkeit“ aufräumen soll. (Becker-Schmidt in Becker-Schmidt/Knapp 2003, 15; vgl. Gildemeister/Robert 2008, 15) Vorstellungen wie die des biologisch-klassifikatorischen Geschlechterbegriffs, dass Frauen wegen ihres Körpergeschlechts eine gegenüber Männern untergeordnete gesellschaftliche Stellung einnähmen, werden zurückgewiesen. Solchen Ansichten, die als „Naturalisierung des Begriffs ‚Geschlecht’“ interpretiert werden, wird programmatisch entgegengehalten, dass die Geschlechter „innerhalb einer Gesellschaft [...] als soziale Größen“ miteinander zu tun hätten. (Becker-Schmidt in Becker-Schmidt/Knapp 2003, 29, 39) Die Geschlechter-Dualität bzw. Zweigeschlechtlichkeit und das Geschlechterverhältnis seien keine natürlichen Gegebenheiten, vielmehr sei von der Zweigeschlechtlichkeit als „einer sozialen Konstruktion“ auszugehen.[1] (Gildemeister/Wetterer in Knapp/Wetterer 1992, 202) Im übrigen wird das vorgenannte begriffliche Instrumentarium des biologisch-klassifikatorischen Geschlechterkonzepts übernommen und für die eigene Theoriebildung eingesetzt. Im Folgenden werden die eingangs kurz vorgestellten Ansätze zur Formulierung einer feministischen Geschlechtertheorie dargestellt.
In den feministischen Ansätzen zur Theorie eines Geschlechterbegriffs treten die hergebrachten Begriffe nun mit dem programmatischen Attribut „sozial“ auf. So werden in dem gesellschaftstheoretischen Ansatz die Geschlechter als „soziale Größen“ bezeichnet (Becker-Schmidt in Becker-Schmidt/Knapp 2003, 38f; vgl. 47); in dem sozialkonstruktivistischen wird „‚Geschlecht’“ als „Ergebnis einer Differenzierung [verstanden], die sozial erst hervorgebracht werden muss“ (Gildemeister/Robert 2008, 17); und in dem marxistisch orientierten werden „Geschlechter“ als „im historischen Prozess sozial geformt“ bezeichnet. (Haug 2001, 493) Wie der biologisch-klassifikatorische trifft der feministische Geschlechterbegriff unter der Kategorie Geschlecht eine Unterscheidung zwischen den Individuen einer gesellschaftlichen Population letztlich entsprechend ihrem Körpergeschlecht. So bilden nach Haug (marxistisch orientierter Ansatz) die „je historisch vorfindlichen Männer und Frauen“ Geschlechter. Dazu wird ausgeführt: „Die Komplementarität bei der Fortpflanzung ist die natürliche Basis, auf der im historischen Prozess sozial geformt wird, was als ‚natürlich’ zu gelten hat. In dieser Weise kommen die Geschlechter als Ungleiche aus dem Gesellschaftsprozess, wird ihre Nicht-Gleichheit zur Grundlage weiterer Überformungen und werden G[eschlechterverhältnisse] fundamentale Regelungsverhältnisse in allen Gesellschaftsformationen.“ (Haug 2001, 493) Nach Becker-Schmidt (gesellschaftstheoretischer Ansatz) „gehören die einzelnen Menschen, die in einer Bevölkerung zusammengefasst sind“, „je nach der Art und Weise ihrer Vergesellschaftung“ neben „sozialen Gruppen, Schichten, Klassen“ auch „sozialen Geschlechtern“ bzw. einer „männlichen“ oder „weiblichen Genus-Gruppe“ an, die als Resultat „geschichtliche[r] Entwicklungen“ und „gesellschaftliche[r] Dynamiken“ verstanden werden. (Becker-Schmidt in Becker-Schmidt/Knapp 2003, 56ff, vgl. 39) Nach Gildemeister/Robert (sozialkonstruktivistischer Ansatz) reicht die Kategorie Geschlecht im Sinn „einer vordefinierten Klasse von Personen (Frauen, Männer) ersichtlich nicht aus. ‚Geschlecht’ erscheint [...] vielmehr als ein Ergebnis mehrschichtiger und aufeinander verweisender sozialer Prozesse“. Dies sind Vorgänge, „in [... denen] erst Menschen zu Frauen und Männern werden“. (Gildemeister/Robert 2008, 17). Aus „konstruktionstheoretische[r ...] Perspektive [gibt es, was die Differenzierung der Geschlechter angeht] ‚den Unterschied’ als solchen“ nicht; es gibt keine „‚weibliche[n]’ und ‚männliche[n]’ Formen einer Spezies. [...] Was die Kategorie Geschlecht bezeichnet, muss und kann aus den Analysen der Prozesse und Kontexte ihrer Herstellung erst geschlossen werden.“ (Gildemeister/Robert 2008, 341f)
Im Übrigen unterscheiden sich die feministischen Theorieansätze voneinander auch in ihren Begründungen (bzw. ihrer Nichtbegründung) der These von der gesellschaftlichen Bedingtheit der Geschlechter und des Geschlechterverhältnisses. Aus sozialkonstruktivistischer Sicht ergibt sich, wie gesagt, der soziale Charakter des Geschlechts daraus, dass es „ein Ergebnis mehrschichtiger und aufeinander verweisender sozialer Prozesse [ist]. Es wird dabei zu einer (im Sinne des Wortes) basalen, das Soziale spezifisch dimensionierenden Kategorie. Als solche ist sie im gleichen Maße nicht nur Ergebnis [,] sondern zugleich auch Ausgangspunkt und Medium der kontinuierlichen Vorgänge zu ihrer Herstellung und Konstitution. Dies lässt sich [...] verstehen als ein Wirkungszirkel.“ Den Anfang dieses Zirkels bilden „kleine Unterschiede [, die] nicht zuletzt durch Praktiken des Unterscheidens große[...] Folgen zeitigen.“ Was die beiden Geschlechter angeht, bestehen diese kleinen Unterschiede in den unterschiedlichen physischen Körpergeschlechtern der Menschen-Individuen. So formulieren Gildemeister/Robert: „Was in unserer Gesellschaft die Geschlechtlichkeit, die ‚Kategorie des Geschlechts’ ausmacht [..., so] bezieht sie sich zunächst, zumindest dem Anschein nach eindeutig, auf biologische Tatbestände, die zudem zumeist sichtbar sind.“ (Gildemeister/Robert 2008, 12f, 17) Aber „die Perspektive der ‚sozialen Konstruktion’“, so erläutert Gildemeister an anderer Stelle, „lenkt die Aufmerksamkeit sytematisch darauf, dass ‚Geschlecht’ in einem sehr grundsätzlichen Sinn sinnhaft strukturiert ist [...]. Es wird daher betont, dass dem biologischen Geschlechtsunterschied für sich genommen sozial nur eine sehr eng umgrenzte Bedeutung zukommt.“ (Gildemeister 2005, 74f) Aus der Sicht des in umfassenderem Sinn gesellschaftstheoretisch operierenden Ansatzes, der sich in der Tradition der Kritischen Theorie insbesondere Adornos verortet, werden, wie gesagt, „die Geschlechter“ als „soziale Größen“ charakterisiert, die aus der „Vergesellschaftung“ der „einzelnen Menschen“ hervorgehen. Dabei wird unter Gesellschaft ein komplexes Beziehungs- oder „Relations“gefüge von „Elementen“ verstanden, in dem „die Elemente, die Relata [...], [...] wie Größen in einer Gleichung in Beziehung treten“: „Die einzelnen Menschen, die in einer Bevölkerung zusammengefasst sind, bilden nicht einfach ein Agglomerat von Monaden. Je nach der Art und Weise ihrer Vergesellschaftung gehören sie sozialen Gruppen, Schichten, Klassen an, die aufeinander bezogen sind. [...] Zur Bevölkerungsstruktur gehört die Relationalität der Genus-Gruppen.“ (Becker-Schmidt in Becker-Schmidt/Knapp 2003, 39, 56) Dem marxistisch orientierten Ansatz von Haug scheint eine derartig ausdrückliche Begründung der sozialen Eigenschaften bzw. Bedingtheit der Geschlechter nicht erforderlich zu sein. Seine Kennzeichnung des Begriffs Geschlechterverhältnis als „natürlich-gesellschaftliches Verhältnis“ sowie die ausdrückliche Feststellung: „Geschlechter [...] sind (wiewohl sozialgeformt und gleichsam überbaut) auch etwas Natürliches“, machen deutlich, dass sich dieser Ansatz in diesem Punkt grundlegend von den beiden anderen abhebt. (Haug 2001, 499; Haug 2008, 331)
Kommen wir nun zur Betrachtung des Begriffs Geschlechterverhältnis. Der feministische Geschlechterbegriff stellt (sich) ebenso wie der biologisch-klassifikatorische die Geschlechter nicht als isolierte, sondern als in einem Geschlechterverhältnis miteinander verbundene Einheiten vor. Dieser Begriff steht in dem marxistisch orientierten wie in dem gesellschaftstheoretischen Ansatz im Zentrum der Theoriebildung. In dem sozialkonstruktivistischen Ansatz nimmt dagegen der Begriff Zweigeschlechtlichkeit, der den des Geschlechterverhältnisses allerdings einbegreift, diesen Platz ein. (vgl. Gildemeister/Robert 2008, 343)
Der gesellschaftstheoretische Ansatz operiert mit dem Terminus Relationalität, der als eine „zentrale“ Kategorie „der Erforschung von Geschlechterverhältnissen“ herausgestellt wird, da er über die „Bezogenheiten zwischen den Geschlechtern“ wichtige Auskünfte zu geben vermöge: So zum einen über „die Elemente, die Relata [...], die [...] zueinander in Beziehung treten [..., in diesem Fall also] Frauen und Männer, die als Genus-Gruppen aufgefasst werden“; zum anderen über die gesellschaftlichen und historischen „Kontexte, innerhalb deren die Genus-Gruppen [...] in ein Wechselverhältnis“ treten; und zum dritten über „die Verhältnisbestimmungen [...], die kennzeichnend für eine Relation sind.“ Diese Bezogenheiten werden unter dem Terminus Konnexion gefasst. Von Konnexionen wird gesagt, sie könnten Auskunft etwa darüber geben, ob das Verhältnis zwischen den Genus-Gruppen symmetrisch oder asymmetrisch, egalitär oder disparitär ist. (Becker-Schmidt in Becker-Schmidt/Knapp 2003, 38ff) Weiter heißt es, dass Konnexionen die verschiedenen „sozialen Sektoren“ wie Familie, Rechtssystem, Arbeitsmarkt etc. durchziehen, wobei „gleichgerichtete Konnexionen über die Grenzen von privaten und öffentlichen Räumen hinweg ein[en] institutionelle[...n] Zusammenhang, ein[en] Nexus entsteh[...]en“ lassen, an dem sich „die gesellschaftliche Stellung von Frauen und Männern“ ablesen lässt. (Becker-Schmidt in Becker-Schmidt/Knapp 2003, 41, 46) Der Terminus Relationalität soll schließlich auch „die Beziehungsstruktur zwischen den Genus-Gruppen im Sinne eines sozialen Verhältnisses“ aufzeigen, „in das die Geschlechter eingespannt“ sind: „‚Relationalität’ gibt dann nicht nur den Maßstab ab, mit dem die Positionen und Aufgabenfelder für die sozialen Geschlechter abgesteckt werden. Sie ist in diesem Kontext ein Medium von Herrschaft, das Konstellationen der gesellschaftlichen Abhängigkeit stiftet. Wir können auch sagen: ‚Relationalität’ hat eine strukturgebende Funktion, indem sie Interdependenzen innerhalb des sozialen Statusgefüges schafft. Menschen, die nach bestimmten Kriterien zu sozialen Gesamtheiten zusammengefasst sind, oder Sphären, die arbeitsteilig den gesellschaftlichen Reproduktionsprozess gewährleisten, werden auf dialektische Weise miteinander verkoppelt: Kein Element einer Relation hat eine eigene Identität, es ist immer auch das Nicht-Identische des anderen; keines hat als selbständiges eine soziale Stellung in der Gesellschaft, sondern jedes gewinnt sie erst aus der Entgegensetzung zum anderen. ‚Relationalität’ in diesem sozialwissenschaftlichen Verständnis ist das Konstituens eines sozialen Verhältnisses, in dem die Verteilung von Eigentum und Arbeitsformen, Positionen und Macht geregelt ist.“ (Becker-Schmidt in Becker-Schmidt/Knapp 2003, 47f, 61) Das gesellschaftliche Verhältnis selbst wird, was die dominierenden Gegenwartsgesellschaften angeht, als „Antagonismus“ gekennzeichnet und als Ergebnis eines Ineinandergreifens unterschiedlicher gesellschaftlicher Vorgänge begriffen, wie „polarisierende Unterscheidung, diskriminierende Bewertung, disparitäre Behandlung und ungleiche Positionierung der Menschen qua Geschlecht“. Es sind dies Vorgänge, die in der „Ordnung des gesellschaftlichen Gesamtgefüges“ sowie in einer „androzentrischen“, „männerbündischen Strukturierung der sozialen Welt“ angelegt sind. (Becker-Schmidt in Becker-Schmidt/Knapp 2003, 60, 61) Bezüglich der Auswirkungen dieses – neuzeitlichen – Geschlechterverhältnisses auf die gesellschaftliche Stellung der Frauen im Unterschied zu derjenigen der Männer wird hervorgehoben, dass Frauen einer „doppelten Vergesellschaftung“ unterlägen, die durch zwei Orientierungen gekennzeichnet sei: einerseits Haushalts- und Kinderversorgung, andererseits Erwerbsarbeit. Sie seien im „Vergleich mit Männern [...] in Haushalt und Kinderversorgung“ „übermäßig eingespannt“, aber „nicht angemessen honoriert“, dagegen in der Erwerbsarbeit quantitativ unterrepräsentiert und durchschnittlich auf geringer dotierte Arbeitsplätze verwiesen. (Becker-Schmidt in Becker-Schmidt/Knapp 2003, 57) Die theoretische Kernaussage dieser Überlegungen zum Geschlechterverhältnis lautet: „Das Geschlechterverhältnis ist ein ideelles Gebilde, eine symbolische Ordnung und ein Sozialgefüge, das eine materielle Basis hat. Die beiden Konstruktionen sind nicht identisch, sie verweisen aber aufeinander. Sie stützen sich wechselseitig ab, haben eine gemeinsame Sozialgeschichte und sind beide durch übergreifende Gesellschaftsformationen vermittelt.“ (Becker-Schmidt in Becker-Schmidt/Knapp 2003, 61)
Der marxistisch orientierte Ansatz kennzeichnet „Geschlechterverhältnisse“ als „fundamentale Regelungsverhältnisse in allen Gesellschaftsformationen“. Das Geschlechterverhältnis wird mit „sexueller“ oder „Komplementarität bei der Fortpflanzung“ begründet, welche „Naturform der Säugetiere“ sei. (Haug 2001, 493, 521) Die Protagonistin dieses Ansatzes lässt sich von den Schriften der Gründerväter der Marx-Engelsschen Gesellschaftheorie inspirieren und insistiert auf einer gegenseitigen Verflochtenheit von Geschlechterverhältnissen und Produktionsverhältnissen. (Haug 2001, 519) Insbesondere zwei Aussagen von Friedrich Engels und Karl Marx dienen als „Ausgangsbasis für eine Theorie des G[eschlechterverhältnisses]“. Zum einen ist das die gemeinsame Feststellung der beiden (in ihren Texten zur „Deutschen Ideologie“), dass „‚die Produktion des Lebens, sowohl des eigenen in der Arbeit wie des fremden in der Zeugung, [...] als ein doppeltes Verhältnis [erscheint] – einerseits als natürliches, andererseits als gesellschaftliches Verhältnis –, gesellschaftlich in dem Sinne, als hierunter das Zusammenwirken mehrerer Individuen verstanden wird’“. Zum anderen ist es aber insbesondere eine Aussage von Engels (Vorwort zu „Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats“), in der er feststellt, dass „die Produktion und Reproduktion des unmittelbaren Lebens“ von „doppelter Art“ sei: „Einerseits die Erzeugung von Lebensmitteln, von Gegenständen der Nahrung, Kleidung, Wohnung und den dazu erforderlichen Werkzeugen; andererseits die Erzeugung von Menschen selbst, die Fortpflanzung der Gattung“. Dass Engels „beides ‚Produktionen’“ nennt, macht Haug zum Dreh- und Angelpunkt ihrer Überlegungen zum Geschlechterverhältnis. (Engels 1962, 27f; Haug 2001, 499, 507; vgl. Haug 2008, 310-322) Ihre diesbezüglichen theoretischen Leitgedanken lassen sich wie folgt zusammenfassen: nämlich, dass „die unterschiedlichen Produktionsweisen in der Geschichte immer auch als Geschlechterverhältnisse zu untersuchen“ sind; dass „die Produktion des Lebens im Gesamt der Produktionsverhältnisse geregelt ist“; dass „Geschlechterverhältnisse [daher] als Produktionsverhältnisse [zu] denken“ sind; dass die „Praxen, die die Geschlechter als Geschlechter auszeichnen, [... keine] Nebensächlichkeit [...] für den Zusammenhang der Produktionsverhältnisse“ sind; dass vielmehr „alle Praxen in der Gesellschaft durch Geschlechterverhältnisse bestimmt sind, einen Geschlechtersubtext haben“, weil nämlich „die Doppeltheit der gesellschaftlichen Produktion, [...] einerseits Leben zu produzieren, andererseits Lebensmittel“, dies vorgibt; dass „die herrschaftliche Ausprägung der Verhältnisse der komplementären Geschlechter“ wohl daher komme, „dass sich die Entwicklung der Produktivkräfte, Fortschritt, Anhäufung von Reichtum auf den Lebensmittelproduktionsbereich beziehen, der darum der relevantere scheint und der sich [...] den der Produktion des Lebens als Voraussetzung und Resultat unterworfen hat“; und schließlich, dass „herrschaftliche Geschlechterverhältnisse [...] Unterwerfung der Frauen“ bedeutet, aber „Herrschaft nicht bloß einseitig als Tat der Oberen und Beherrschtwerden nicht bloß als Passivität“ zu „denken“ sind. (Haug 2008, 322f, 326, 332) Wie schon der gesellschaftstheoretische Ansatz von Becker-Schmidt, so führt auch der marxistisch orientierte von Haug das, was die gesellschaftliche Unterordnung von Frauen gegenüber Männern genannt wird, auf gesellschaftliche Arbeitsteilung zurück. Allerdings ist hier das Konzept der Arbeitsteilung genereller gefasst. So heißt es bei Haug: „Arbeitsteilung birgt [...] die Möglichkeit, dass ‚der Genuss und die Arbeit [...] verschiedenen Individuen zufallen’ [...]; sie ist damit zugleich Voraussetzung von Herrschaft [...]. Zwei einander überlagernde Herrschaftsarten bestimmen den Fortgang der Geschichte: die Verfügung einiger über die Arbeitskraft vieler in der Lebensmittelproduktion und die Verfügung der (meisten) Männer über die weibliche Arbeitskraft, Gebärfähigkeit und den sexuellen Körper der Frauen in der ‚Familie’.“ (Haug 2001, 500) Hinsichtlich der Frauen „heute“ und ihrer gesellschaftlichen Stellung wird ausgeführt, dass „die Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern auf eine teuflische Weise festgeschrieben [sei]. Der Bereich des Lebens [gemeint: „Lebensproduktion“] wird vom Standpunkt der gesellschaftlichen Lebensmittelproduktion [her gesehen] randständig und mit ihm diejenigen, die ihn in erster Linie bevölkern.“ (Haug 2008, 44)
Der sozialkonstruktivistische Ansatz, zumindest die hier referierte Version, hat sein Augenmerk mehr auf die Differenz(ierung) der Geschlechter als auf deren Verhältnis gerichtet. Das eine wie das andere sind Aspekte der sozialen Konstruktion der Zweigeschlechtlichkeit, die ineinander greifen. Die Zweigeschlechtlichkeit wird von Gildemeister/Robert als „zweigeschlechtliches Klassifikationssystem und in Verweisung auf Harald Garfinkel als „‚institutionalized moral fact’“ charakterisiert.[2] Dabei wird betont, dass es sich um einen „moralischen Tatbestand“ und „keinen ‚natürlichen’“ handle. (Gildemeister/Robert 2008, 16; vgl. auch 341f) „Über [... diesen moral fact werde] alles, was von dem strikt zweigeschlechtlichen Modell abweicht, zu etwas ‚abnormalem’, ‚pathologischem’ oder eben ‚unnatürlichem’ gemacht“. Die Zweigeschlechtlichkeit diene der „Ordnungsbildung“ und die Geschlechterdifferenzierung „als tradiertes und wirkmächtiges ‚Superschema’ für die Organisation von sozialen Interaktionen“. (Gildemeister/Robert 2008, 15f, 344) Was die Frauen angeht, wird festgestellt, dass die Zweigeschlechtlichkeit bzw. die Geschlechterdifferenzierung eine „asymmetrische Geschlechterordnung“ impliziere, die „auf Dienstbarkeit und Subordination von Frauen beruh[t]“. (Gildemeister 2005, 77; vgl. 76 sowie Gildemeister/Robert 2007, 343f) Wenngleich den ProtagonistInnen des hier referierten sozialkonstruktivistischen Ansatzes sich das „zweigeschlechtliche Klassifikationssystem“ als ein Phänomen darstellt, das mit Fragwürdigkeit befrachtet ist, und sie auf „kritische Theoretisierungen“ verweisen, die es als „‚fiktiv’“ ansehen, gehen sie selber den theoretischen Unklarheiten nicht nach. Sie stellen vielmehr in apodiktischen Sätzen fest: „dass in der alltäglichen Praxis Personen nicht dem einen oder anderen Geschlecht zugewiesen werden, wenn sie die entsprechenden Eigenschaften und Verhaltensweisen unter Beweis gestellt haben, sondern dass umgekehrt ihnen diese Eigenschaften vorab unterstellt werden und ihr Verhalten dann nach Maßgabe ihrer Geschlechtszugehörigkeit bewertet wird. Insofern gibt es kein ‚einfaches’, objektivierbares Verhalten einer Person in sozialen Situationen, vielmehr bilden Verhalten, Bewertung und Reaktion darauf eine untrennbare Einheit. In dem Maße aber, in dem wir diese ‚dichotome Optik’[...] erwerben, sind wir zugleich auch von ihr erfasst: In einer Welt, in der die Polarisierung von zwei Geschlechtern allgegenwärtig ist, gibt es keine Chance für eine Selbstverortung jenseits der Geschlechtskategorien. Wohin wir auch kommen, in welche Situation wir uns auch begeben, wir sehen stets nur Frauen und Männer, Mädchen und Jungen und – wir stellen uns selbst in einen Bezug dazu.“ (Gildemeister/Robert 2008, 15f)
4. Kritische Kommentierung der feministischen Ansätze zu einem Geschlechterkonzept
Kommen wir nach der Darstellung der Ansätze zu einem feministischen Geschlechterkonzept nun zu ihrer kritischen Kommentierung. Diese hat, das ist voraus zu schicken, das begriffliche Instrumentarium als solches, mit dem diese Ansätze arbeiten, zum Gegenstand. Nicht beabsichtigt ist eine ins Detail gehende Auseinandersetzung mit den theoretischen Ausführungen der drei Ansätze, die sich in dem ein oder anderen Punkt auch, wie wir gesehen haben, stark voneinander unterscheiden. Die Kommentierung befasst sich zum Ersten allgemein mit dem begrifflichen Instrumentarium, das die drei Ansätze als spezifisch feministisches im Gebrauch haben; zum Zweiten noch einmal gesondert mit den Begriffen Geschlecht und Geschlechterverhältnis/Zweigeschlechtlichkeit; zum Dritten schließlich mit den Andeutungen eines feministischen Politikkonzepts.
Zum Ersten: Als spezifisch feministisches begriffliches Werkzeug für die Ausarbeitung eines sozialwissenschaftlichen Geschlechterkonzepts können die oben (am Schluss des Teils über den biologisch-klassifikatorischen Geschlechterbegriff) genannten Termini Geschlecht, Mann, Frau, Geschlechterverhältnis, Geschlechter-Dualität bzw. Zweigeschlechtlichkeit angesehen werden. Das feministische begriffliche Instrumentarium ist, soweit es in der vorliegenden Betrachtung zur Diskussion steht, seiner Herkunft nach dem herrschenden Sprachgebrauch entnommen, der vom biologisch-klassifikatorischen Geschlechterdenken geprägt ist. Diese Herkunft wird nicht bedacht, und es findet keine Prüfung der übernommenen Terminologie auf ihre Brauchbarkeit hin statt. Zwar werden die Termini Mann und Frau als klassifikatorische Begriffe (Becker-Schmidt und Gildemeister/Robert) gesehen, doch wird die Bedeutung dieser Eigenschaft nicht beachtet. Eine Klassifikation ist, um sie mit den Worten Vaihingers zu erläutern, „eine künstliche Einteilung“: „sie substituiert den noch unbekannten einzig richtigen Gebilden provisorisch solche, denen keine Wirklichkeit unmittelbar entspricht“; auf diese Weise bildet sie „fiktive Klassen“. Ob die Kategorien Mann/Männer und Frau/Frauen wegen ihres Klassifikations bzw. des Kollektivcharakters der so gebildeten Klassen nun methodisch als „künstliche Einteilung“ oder als „abstraktive (neglektive) Fiktionen“ zu betrachten sind, auf jeden Fall gehören sie in dieser Verwendung zu den abstrakten und fiktionalen Allgemeinbegriffen, die, wie bereits in Teil 1 erläutert, keinen Gegenstand in der außersprachlichen Wirklichkeit haben. (Vaihinger 1924, 16, 18) Das Gleiche gilt für den Begriff Geschlecht und nicht minder auch für die beiden anderen Begriffe, das Geschlechterverhältnis und die Geschlechter-Dualität oder Zweigeschlechtlichkeit. Die feministischen Ansätze zur Formulierung einer Geschlechtertheorie operieren mit diesen Begriffen als wären es reale, als hätten sie einen Bezug zu realen Gegenständen bzw. als hätten sie gegenständlich-reale Inhalte. Da die Herkunft des begrifflichen Werkzeugs der feministischen Ansätze, insbesondere die Genese der Geschlechterbegriffs – die hellsichtig machen würde – nicht bedacht werden, sind diese Ansätze auch nicht gefeit dagegen, in die aufgezeigten ideologischen Fallen zu laufen. Dass die ungeprüft übernommenen fiktionalen Allgemeinbegriffe solche Fallen stellen, wird nicht wahrgenommen. In wie weit diese dies tatsächlich tun, ist oben bei der Diskussion des genealogischen und des biologisch-klassifikatorischen Geschlecht(er)begriffs ausführlich erörtert worden und braucht daher an dieser Stelle nicht wiederholt zu werden[3].
Zum Zweiten: Wie wir sahen, ist in den von Frevert untersuchten lexikalischen Quellen von zwei Geschlechtern, einem weiblichen und einem männlichen die Rede, von denen zum einen gesagt wird, sie seien aus einer „Entzweiung der Gattung“ hervorgegangen und zum anderen, sie bildeten ein Geschlechterverhältnis. Die phantastische Vorstellung einer einheitlichen Zweiheit bzw. zweiheitlichen Einheit der Geschlechter oder auch Zweigeschlechtlichkeit ist eine Erfindung des biologisch-klassifikatorischen Geschlechterkonzepts. Waren diese Begriffe in den lexikalischen Quellen bei Betrachtungen über die Geschlechterbeziehungen und -differenzen im Familienkontext in Gebrauch, so werden sie in den feministischen Theorieansätzen als Instrumente für die Formulierung theoretischer Konzepte benutzt, die jene Beziehungen und Differenzen in einem gesamtgesellschaftlichen Kontext zum Gegenstand haben. Es ist oben festgestellt worden, dass der biologisch-klassifikatorische Geschlechterbegriff eine ideologische Interpretation der bürgerlichen Familie darbietet, die kurz gesagt die Ansicht propagiert, starke Männer müssten schwache Frauen beschützen. In den gesamtgesellschaftlichen Kontext transponiert, erweitern sich in den feministischen Konzepten der Umkreis der Institutionen, die Muster der sozialen Beziehungen und die praktischen Funktionen der Akteurinnen und Akteure, die mit den Begriffen Geschlecht, Geschlechterverhältnis und Zweigeschlechtlichkeit – und selbstverständlich auch Mann und Frau – ins Auge gefasst werden. Dies wird bei allen drei Theorieansätzen deutlich. Der Blick auf die Gesellschaft als ganze ändert freilich nichts am Fortbestehen der ideologischen Kaschierung gesellschaftlicher Gewaltverhältnisse, die für den genealogischen und biologisch-klassifikatorischen Geschlecht(er)begriff kennzeichnend ist. An diesem Dilemma kommt das feministische Unternehmen, die übernommenen Begriffe theoretisch auf eigene Weise auszuformulieren, nicht vorbei. Darum verwundert nicht, dass diese Theorieansätze bei der Bestimmung ihrer zentralen sozialen Sachverhalte letztlich mit natürlichen Gegebenheiten aufwarten, also soziale Vorgänge in natürlichen fundieren oder jene mit diesen vertauschen. So greift der gesellschaftstheoretische Ansatz (Becker-Schmidt) bei der Bestimmung des Geschlechterbegriffs auf die „Bevölkerungsstruktur“ zurück, der sozialkonstruktivistische Ansatz (Gildemeister/Robert) bei der Bestimmung der Zweigeschlechtlichkeit als moral fact auf physische „kleine Unterschiede“ und der marxistisch orientierte Ansatz (Haug) bei der Bestimmung des Geschlechterverhältnisses auf die natürliche „Komplementarität bei der Fortpflanzung“. Damit verstoßen diese Ansätze nicht nur gegen die von ihnen selbst postulierte Programmatik (s. o.: Teil 3, 2. Abs.) der Theoriebildung. Sie führen auch die ideologischen Täuschungen fort, die an den vorangegangenen Geschlecht(er)konzepten aufgezeigt wurden. Im Unterschied zu diesen erfährt der Zuschnitt der phantastischen Zweigeschlechtlichkeit dabei eine Ausweitung auf die Gesellschaft als ganze. Konnte sich dieses Geschlechterverhältnis in der stammväterlichen Singularität des männlichen Geschlechts, die das genealogischen Geschlechterkonzept propagierte, noch nicht als gesellschaftliches, sondern nur als familiales, wenn auch schon mit einem globalen Anspruch ausgestattetes, Verhältnis zu Wort melden; so kündigte sich sein gesamtgesellschaftlicher Anspruch bereits in der zitierten Beschreibung des biologisch-klassifikatorischen Geschlechterbegriffs an, das Geschlechterverhältnis „berühre die tiefsten und wichtigsten Grundlagen der ganzen gesellschaftlichen Ordnung“. Voll ausformuliert wird dieser Ordnungsanspruch nun in den Ansätzen der feministischen Geschlechtertheorie. Damit tritt zugleich auch der ideologische Charakter dieses Phantasmas voll entfaltet zutage: es hat nunmehr die Funktion, die gesellschaftlichen Gewaltverhältnisse in ihrer Gesamtheit kaschierend festzuschreiben – nicht nur diejenigen der patriarchalen Familie. Zur Erläuterung: Mit dem gerade verwendeten Begriff gesellschaftliche Gewaltverhältnisse ist ein Geflecht institutioneller Verfügungsgewalten über die gesellschaftlich beanspruchten Naturpotentiale einschließlich derjenigen der Menschen selber gemeint, durch das deren Lebensweise maßgeblich gestaltet ist und das sich dahingehend auswirkt, dass Muster der Ausbeutung und Desinformation in alle gesellschaftlichen Bereiche in die Praxis des Lebensalltags eingelassen sind. Als institutionelle Verortungen dieser Verfügungsgewalten lassen sich in den Gegenwartsgesellschaften benennen: der bürgerliche Staat (staatliche Gewalt), die kapitalistische Ökonomie (ökonomische Gewalt), die bürgerlich-patriarchale Familie (patriarchale Gewalt). Mit diesen Institutionen in Zusammenhang stehen Instanzen der Wissensverwaltung und Meinungsbildung (perzeptorische Gewalt) wie Schule und Kirche, Wissenschaft und Massenmedien, etc., deren Wirken dem jener Institutionen mehr oder weniger in Einklang steht. Diese Institutionen haben, wie oben für die patriarchale Familie angedeutet, allesamt eine lange Tradition, deren Anfänge in die mesopotamischen Stadtstaaten und – deren lange Genese mitgezählt – noch weiter zurückreichen. Allerdings ungewollt betreiben die feministischen Ansätze eine Interpretation der Gesellschaft, die die realen institutionellen Gewaltverhältnisse nicht aufdeckt, vielmehr durch die Fiktion einer Geschlechterbeziehung kaschiert, die Zweiheit (Zweigeschlechtlichkeit) und Einheit (Geschlechterverhältnis) in einem sein soll. Diese Fiktion verunmöglicht auch die adäquate Wahrnehmung der spezifischen gesellschaftlichen Stellung der Menschen weiblichen Körpergeschlechts unter den Bedingungen institutioneller gesellschaftlicher Verfügungs- oder Zwangsgewalt. Diese Spezifik ergibt sich mit der patriarchalen Familie und den sie flankierenden Institutionen der Ehe und der Prostitution, die auf die Ausbeutung des besonderen Fortpflanzungsvermögens der Frauen ausgerichtet sind. Durch sie werden diese generell auf ein gesellschaftliches Verhältnis sexuell-prokreativer Dienstbarkeit festgelegt. Einem solchen Verhältnis ist nicht mit Begriffen wie Geschlechterklassen oder Genusgruppen beizukommen, noch ist es als ein Herrschaftsverhältnis zwischen Individuen unterschiedlichen Körpergeschlechts zu begreifen. Auch die Apostrophierung als ein Verhältnis der „Dienstbarkeit und Subordination“ von Frauen greift noch zu kurz. (Gildemeister 2005, 77; vgl. auch Engels 1962, 75: „Dienstbotin“)
Zum Dritten: Die Neue Frauenbewegung habe, wie wir von Frevert hörten, „das Postulat der Gleichheit in bislang unbekannter Radikalität auf die politische Tagesordnung“ gesetzt. (Frevert 1995, 60) Mit dem Gleichheitspostulat wird Rekurs genommen auf die Ziele der Alten oder Ersten Frauenbewegung im letzten Drittel des 19. und ersten des 20. Jahrhunderts. Dieser Bewegung ging es „vor allem um Frauenrechte: um das Recht auf Bildung, das Recht auf einen Beruf, um gleiche Staatsbürgerrechte, vor allem das aktive und passive Wahlrecht, auch um juristische Gleichberechtigung im bürgerlichen wie im Strafrecht.“ (Schenk 1992, 104f) Diesen Forderungen der bürgerlichen Frauenbewegung stand die sozialistische Frauenbewegung eher distanziert gegenüber und setzte mehr auf den gemeinsamen Kampf der Arbeiterklasse. Eine feministische Strömung hat es in dieser Phase der Frauenbewegung nicht gegeben. Die feministische Theorie, die sich als eine „wissenschaftliche Strömung“ neben anderen in der Neuen Frauenbewegung formiert, umfasst, nach Becker-Schmidt, ein „interdisziplinäres Feld feministischer Theoriebildung“, das „durch ein gemeinsames Band zusammengehalten [wird]: das wissenschaftlich-politische Interesse an der Verfasstheit von Geschlechterverhältnissen und die Kritik an allen Formen von Macht und Herrschaft, die Frauen diskriminieren und deklassieren.“ „Das Adjektiv ‚feministisch’ [hebt] den politischen Impetus dieser wissenschaftlichen Strömung hervor und kennzeichnet sie als eine Form kritischer Theorie.“ (Becker-Schmidt in Becker-Schmidt/Knapp 2003, 7) Der Begriff „feministisch“ ist wohl eine Erfindung des „Frühsozialisten Charles Fourier zu Beginn des 19. Jahrhunderts“. (Schenk 1992, 107; vgl. 21f) Er diene heute, wie es bei Becker-Schmidt heißt, dazu, „die Emanzipationsbestrebungen von Frauen zu beschreiben“ und er „verweise“ „auf ein Moment historischer Kontinuität, das auch für das Selbstverständnis feministischer Wissenschaftlerinnen in der Gegenwart bedeutsam ist.“ (Becker-Schmidt in Becker-Schmidt/Knapp 2003, 7) Die obige Feststellung Freverts deckt den politischen Impetus der gesellschaftskritischen feministischen Theorieansätze zumindest nicht voll ab. In der Neuen Frauenbewegung sind heute zwei Politikkonzepte und -richtungen zu konstatieren, die eher auseinanderfallen als sich gegenseitig ergänzen: einerseits die in der Traditionslinie des Gleichheitspostulats stehende Politik der Gleichstellung unter dem Label des Gender Mainstreaming und andererseits die feministischer gesellschaftskritischer Theorie verpflichtete Politik der „Gleichberechtigung der Geschlechter“ unter dem Label „feminist politics“ oder „Feministische Politik“; einerseits eine Strategie der „top down“ Gleichstellung unter dem Schirm staatlicher und überstaatlicher Instanzen, andererseits eine Strategie der Formierung eines „frauenbewegten Subjekts“, eines bewegungsbereiten „Wir“ von unten. (Wetterer/Saupe 2004, 4f; Dackweiler 2004, 51; Haug 2008, 22) Die Fraktion der Neuen Frauenbewegung, die auf die Politik des Gender Mainstreaming setzt, baut auf die Taktik, nationale und supra-nationale staatliche Institutionen und Gremien zu gesellschaftlich immer umfassenderen Gesetzgebungen zur Gleichstellung von Frauen Männern zu mobilisieren. Dies bedeutet zwangsläufig auch, sich auf staatliche Gewalt zu verlassen. Auf Staatsgewalt zu bauen, ist allerdings ein bedenkliches Konzept, macht man/frau sich dabei doch gleichzeitig zum/r Gefangenen dieser Gewalt. Die feministische gesellschaftskritische Strömung in der Neuen Frauenbewegung, umfasst zwar unterschiedliche theoretische Ausrichtungen. Doch wird man sagen dürfen, dass diese Ansätze der gemeinsame politische Impetus auszeichnet, auf Emanzipation zu setzen, nicht auf Gleichstellung – womit, konsequent verfolgt, auch das Setzen auf abstrakte Gleichheit ein Ende finden würde. Gemeinsam ist ihnen auch die Vorstellung einer „Zukunft“, „in der die Geschlechtszugehörigkeit ihre soziale Bedeutung ganz und gar verloren hat“ bzw. „die Abschaffung der Geschlechter“ erfolgt. (Wetterer/Saupe 2004, 4; Haug 2008, 298) Diese Strömung scheint sich also nicht auf institutionelle Gewalten zu verlassen. Sie ist demgegenüber auf eine Politik orientiert, die von den Frauen selber ausformuliert und deren praktische Ausführung von ihnen selber dirigiert werden sollen. Wie wichtig die Differenz zwischen den beiden Politikkonzepten auch ist, sie haben beide das Problem, dass sie zum einen mit abstrakten Termini operieren, insbesondere dem Geschlechterbegriff, aber auch denen der Gleichheit und der Emanzipation. Zum anderen hängen sie illusorischen Vorstellungen an: Die einen der Illusion der Gemeinschaftlichkeit, wenn sie sich auf die staatliche Gewalt verlassen, die anderen dem Revolutionsmythos, wenn sie auf ein „frauenbewegtes Subjekt“, ein „Wir“ hoffen. Mir scheint, dass solange an solchen Illusionen sowie an dem abstrakten Geschlechterbegriff als theoretischer „Zentralkategorie“ festgehalten wird, auch eine Politik im genuinen Interesse der Frauen nicht zu realisieren ist.
Nachbemerkung
Jawohl – das Abstraktum Geschlecht täuscht! Es gibt eine Fiktion als Wirklichkeit aus. Ein Akt symbolischer Gewalt, der die Wahrnehmung „hinters Licht führen“ soll, kaschiert faktische reale Gewaltverhältnisse. Analoges vollbringt der Schimpanse: Mit der gestischen Fiktion des davongelaufenen Konkurrenten, den es nicht gibt, und mit der er die Wahrnehmung seiner realen Konkurrenten auf eine falsche Fährte setzt, reproduziert er auf symbolische Weise den Akt der Inbesitznahme der Banane, auf die er sich gesetzt hat.
Literatur
Bauer, Robin, 2006: Grundlagen der Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsforschung. In: Ebeling, Smilla/Schmitz, Sigrid, Hrg.: Geschlechterforschung und Naturwissenschaft, Einführung in ein komplexes Wechselspiel, Wiesbaden, S. 247-280
Becker-Schmidt, Regina/Knapp, Gudrun-Axeli, 2003: Feministische Theorien zur Einführung, Hamburg
Dackweiler, Regina–Maria, 2004: Was bewegt wen und wie bringt das ein „Wir“ in Bewegung? In: Zeitschrift für Frauenforschung und Geschlechterstudien 22, 2/3, S. 51–64
Engels, Friedrich, 1962: Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats. Im Anschluß an Lewis H. Morgans Forschungen. MEW 21, Berlin [DDR]
Frevert, Ute, 1995: „Mann und Weib, und Weib und Mann”, Geschlechter-Differenzen in der Moderne, München
Gildemeister, Regine, 2005: Gleichheitssemantik und die Praxis der Differenzierung: Wann und wie aus Unterscheidungen Unterschiede werden. In: Vogel, Ulrike, Hrg.: Was ist männlich – was ist weiblich? Aktuelles zur Geschlechterforschung in den Sozialwissenschaften, Bielefeld, S. 71-88
Gildemeister, Regine/Robert, Günther, 2008: Geschlechterdifferenzierungen in lebenszeitlicher Perspektive, Interaktion – Institution – Biografie, Wiesbaden
Haug, Frigga, 2001: Geschlechterverhältnisse. In: Historisch-kritisches Wörterbuch des Marxismus, Bd. 5, Berlin, Sp. 493-531
Haug, Frigga, 2008: Die Vier-in-einem-Perspektive, Politik für Frauen für eine neue Linke, Hamburg
Knapp, Gudrun-Axeli/Wetterer, Angelika, Hrg.: TraditionenBrüche, Entwicklungen feministischer Theorie, 1992
Schenk, Herrad, 1992: Die feministische Herausforderung, 150 Jahre Frauenbewegung in Deutschland, München
Vaihinger, Hans, 1924: Die Philosophie des Als Ob. System der theoretischen, praktischen und religiösen Fiktionen der Menschheit auf Grund eines idealistischen Positivismus, herausgeg. v. Dr. Raymund Schmidt, Leipzig
Wetterer, Angelika/Saupe, Angelika, 2004: Einführung in den Themenschwerpunkt „Feminist politics“ oder „Gender Mainstreaming“: Über getrennte Diskurse und separierende Begriffe. In: Zeitschrift für Frauenforschung und Geschlechterstudien 22, 2/3, S. 3-8
* Der erste Teil mit den Abschnitten 1 und 2 erschien in Z 85, März 2011, S. 158ff. (Anm. d. Red.).
[1] Auf den Konstruktivismus als erkenntnistheoretisches Konzept brauch hier nicht weiter eingegangen zu werden. Lediglich verwiesen sei auf die Ausführungen dazu von Bauer 2006, 251f.
[2] Gudrun-Axeli Knapp zufolge wird die Konstruktion des „symbolischen Systems der Zweigeschlechtlichkeit“ auf „‚axiomatisches Wissen’“ über die physische Geschlechtsausstattung der menschlichen Körper zurückgeführt. (Knapp in Becker-Schmidt/Knapp 2003, 76)
[3] Vgl. hierzu Teil I in Z 85 (Anm. d. Red.).