Die neoliberale Wende in der Bundesrepublik ist schon seit geraumer Zeit Gegenstand von Untersuchungen zur Geschichte der Bundesrepublik. Ihr Beginn wird meist mit der Übernahme der Regierungsgewalt durch Helmut Kohl 1982 datiert. In der Darstellung des Prozesses der Neoliberalisierung der bundesdeutschen Wirtschaft und Gesellschaft spielt der Anschluss der DDR an die Bundesrepublik nur eine untergeordnete Rolle. Er wird meist als Erweiterung des Wirkungsbereichs des Neoliberalismus in der Fläche behandelt und die Privatisierung der ostdeutschen Industrie durch die Treuhandanstalt (THA) unter Vereinheitlichung der ordnungspolitischen Strukturen abgehandelt. Bei dieser Art Betrachtungsweise geht zwangsläufig unter, dass die Privatisierung der ostdeutschen Industrie ein Ereignis von gesamtdeutscher Bedeutung war und auf den Prozess der Deregulierung der Wirtschaft in der Bundesrepublik stabilisierend und beschleunigend wirkte. Voraussetzung für diese Einsicht ist die Feststellung, dass der Neoliberalismus in der Bundesrepublik nicht statisch gesehen wird, sondern als Prozess.
1. Entstaatlichung der Wirtschaft - Merkmal der Durchsetzung neoliberaler Strukturen in der Bundesrepublik von 1982-1989
1981, wenige Monate bevor Helmut Kohl Kanzler wurde, auf dem Hamburger Bundesparteitag hatte die CDU die Losung ausgegeben, „die soziale Marktwirtschaft erneuern“. In der ein halbes Jahr später gestarteten „Sieben-Punkte-Offensive für eine neue Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik“ hatte sie neben der „Verminderung der leistungshemmenden Steuer- und Abgabenbelastung“ sowie der „Flexibilisierung und Dezentralisierung des Arbeitsmarktes“ die Privatisierung staatlicher Betriebe gefordert. Diese Zielsetzung bekräftigte sie in den 1985 verabschiedeten „Stuttgarter Leitsätzen“. Die Deregulierung in Form der Entstaatlichung – hier im engeren Sinne verstanden als Politik der Umwandlung der Staatsbetriebe in marktwirtschaftlich agierende Unternehmen bzw. ihrer Veräußerung an private Eigner – setzte Mitte der 80er Jahre ein. Zu dieser Zeit gab es noch 84 direkte und 958 mittelbare Unternehmensbeteiligungen des Bundes. Im März 1985 verabschiedete das Kabinett ein Privatisierungskonzept, das 13 Unternehmen für die Privatisierung vorsah. (Zohlnhöfer 2001:49, 167) Bis 1990 wurden diese Unternehmen dann auch privatisiert bzw. teilprivatisiert. Der Stromkonzern VIAG AG z. B. 1987/88, die staatlichen Anteile an der Lufthansa 1987/89, die 20 % Bundesanteile an der Volkswagen AG 1988. Die Salzgitter AG ging 1989 an die Preussag (Weimer 1998: 323-4; Fülberth 2007: 212). Parallel zum Abbau von Staatsbetrieben vollzog sich – ausgelöst durch den „Neue Heimat-Skandal“ – die Privatisierung bzw. Kommerzialisierung der wichtigsten bis dahin in Gewerkschaftseigentum befindlichen gemeinwirtschaftlichen Unternehmen (Schneider 1989: 359).
Der Mitte der 80er Jahre eingeleitete Privatisierungsprozess vollzog sich – im Vergleich zu der zeitlich parallel vorgenommenen Privatisierung durch Margaret Thatcher in Großbritannien (Pollard 1998: 318f.) – langsam. Diese Kennzeichnung trifft nach Ansicht des Heidelberger Politologen Zohlnhöfer für den gesamten, unter der Kanzlerschaft Kohls eingeleiteten Deregulierungsprozess zu, den er als „ausgesprochen moderat“ bezeichnet (Zohlnhöfer: 170). Das, wie es scheint, zögerliche Herangehen war aber keineswegs mangelnder Zielklarheit geschuldet, was sich an der „Sieben-Punkte-Offensive“ der CDU und dem von Otto Graf Lambsdorff verfassten „Wirtschaftskonzept“ ablesen lässt, in dem die „Verfolgung einer strikt marktorientierten Politik“ im Mittelpunkt aller Forderungen stand. (Lambsdorff 1994: 14). Dass sich der Neoliberalismus in der Bundesrepublik verglichen mit dem Thatcherismus in Großbritannien und den Reagonomics in den USA vergleichsweise moderat entwickelte, war in erster Linie dem Widerstand geschuldet, die der neoliberalen Politik der Bundesregierung insbesondere im Bereich der Arbeitsmarktpolitik entgegengesetzt wurde. Der DGB rief 1982 als Gegenkonzept zum CDU-Programm zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit eine neue Offensive für die Mitbestimmung aus. Im Oktober 1985 gab es eine ganze „Protestwoche“ gegen die neoliberale Politik der Regierung Kohl (Schneider 1989: 370). Wenn der gewerkschaftliche Widerstand nicht die Intensität der Auseinandersetzungen der britischen Gewerkschaften mit der Regierung Thatcher erreichte und auch in der zweiten Hälfte der 80er Jahre deutlich nachließ (Fülberth 2007: 213), so war er doch für den bis 1987 von Norbert Blüm geleiteten Arbeitnehmerflügel innerhalb der CDU Anlass genug, sich gegen die vom Vorsitzenden der Arbeitsgruppe Arbeit und Soziales der Unionsfraktion, Heimo George, vorgelegten Forderungen nach Beschleunigung der Deregulierung auszusprechen. Es gab also unmittelbare Interessengegensätze zwischen dem Arbeitgeber- und dem Arbeitnehmerflügel der CDU. Wenn sich in der Auseinandersetzung die ein moderates Vorgehen befürwortenden Arbeitnehmerausschüsse gegenüber Kohl durchsetzten, dann vor allem deshalb, weil sie sich auf die eher ablehnende Haltung der Wählerschaft gegen allzu forsche neoliberale „Offensiven“ berufen konnten. So ist es zu erklären, dass eine 1987 von der Bundesregierung eingesetzte „Deregulierungskommission“ nur zögerlich vorging und sich bis März 1990 Zeit für die Ausarbeitung ihrer Vorschläge ließ, womit klar war, dass die Verwirklichung dieser Vorschläge aller Wahrscheinlichkeit nach erst in der nächsten Legislaturperiode (1990-1994) in Angriff genommen werden würde (Zohlnhöfer 2001: 168,173).
In diese Entwicklungen platzten mit dem Herbst 1989 die Demonstrationen und der Regierungswechsel in der DDR und damit auch die Aussicht auf eine schrittweise Annäherung der beiden deutschen Staaten auf politischem, ökonomischem und ordnungspolitischem Gebiet, die seit Beginn des Jahres 1990 eine weitere Annäherung beider deutscher Staaten und ihre letztendliche Vereinigung wahrscheinlich werden ließ.
2. Deutsche Einheit und Privatisierung der Industrie in Ostdeutschland – Vorstellungen und durch die Treuhandanstalt geschaffene Tatsachen
Wenn auch bis Ende 1989 noch kein Politiker ernsthaft an eine in naher Zukunft bevorstehende Vereinigung beider deutscher Staaten gedacht hatte, so herrschte doch bis Ende Januar/Anfang Februar 1990 bei allen maßgeblichen Kräfte, d. h. bei der DDR-Regierung unter Hans Modrow und in den Vereinigungen der Bürgerbewegung im Osten sowie bei der Regierung Kohl und den im Bundestag vertretenen Oppositionsparteien (SPD und Grüne) im Westen Übereinstimmung darüber, dass in die DDR-Wirtschaft marktwirtschaftliche Strukturen einzuführen seien, um sie angesichts der zerfallenden osteuropäischen Wirtschaftsgemeinschaft RGW auf dem Weltmarkt wettbewerbsfähig zu machen. Unterschiedlich waren die Auffassungen jedoch darüber, wie weit die auf Deregulierung der Wirtschaftslenkung und Kommerzialisierung bzw. Privatisierung des Volkseigentums zielenden Reformen in der DDR gehen sollten.
Von Seiten der Bürgerbewegungen in der DDR gingen die meisten Vorstellungen in Richtung eines „dritten Weges“ bzw. einer Mischwirtschaft zwischen Plan und Markt (Rochtus 1999: 201-232). Einen ganz ähnlichen Standpunkt machte sich im Laufe des Januar 1990 auch die Regierung Modrow zu Eigen. In ihrem am 1. Februar 1990 vom DDR-Ministerrat gebilligten „Regierungskonzept zur Wirtschaftsreform in der DDR“ hieß es zur Frage des Eigentums in der Wirtschaft: „Neben dem Volkseigentum soll im Interesse der Entwicklung einer marktwirtschaftlichen Produktionsweise eine Vielfalt weiterer Eigentumsformen entstehen“. Neben „gesellschaftlichem Eigentum“ wurden gleichberechtigt genossenschaftliches und Privateigentum genannt (DDR-Ministerrat: 5).
Hinter dem Reformprojekt stand auch die Wirtschaftselite der DDR, die Generaldirektoren der großen Kombinate. Einer ihrer Sprecher, Friedrich Workuka vom Kombinat Robotron in Dresden, äußerte sich bereits Ende November 1989 in einem Spiegel-Interview zur Frage „wie eine sozialistische Marktwirtschaft zu gestalten ist. … Ich sehe eine Vielzahl von Möglichkeiten, nicht nur im Meinungspluralismus, sondern auch im Wirtschaftspluralismus. Der überwiegende Anteil der Produktionsmittel ist gesellschaftliches Eigentum. Das setzt natürlich bestimmte Maßstäbe und bestimmte Zeichen“. (Der Spiegel 48/1989: 117, 120)
Auch in der Bundesrepublik wurde um die Jahreswende 1990 über Eigentumspluralismus unter marktwirtschaftlichen Zeichen in der DDR diskutiert. Die Wirtschaftsweisen vertraten z. B. in einem Ende Januar 1990 veröffentlichten Sondergutachten „Zur Unterstützung der Wirtschaftsreform in der DDR“ die Auffassung: Marktwirtschaft in Ostdeutschland, „das bedeutet nicht die Überführung der DDR in eine ‚staatsfreie Wirtschaft’. ... Für geraume Zeit kann hingenommen werden, dass der Staat in manchem Bereich unternehmerisch tätig bleibt.“ (Sachverständigenrat: 5)
Demgegenüber hatte der Vorstandssprecher der Deutschen Bank, Alfred Herrhausen, der wenig später einem Sprengstoffanschlag der RAF zum Opfer fiel, bereits Mitte November 1989 kategorisch erklärt: „Ich halte eine Mischung aus Planwirtschaft und Marktwirtschaft für undenkbar“. (Der Spiegel 47/1989: 28) Im Spannungsfeld zwischen geballtem Wirtschaftswissen und geballter Wirtschaftsmacht entschied sich die Bundesregierung – ungeachtet eines dramatischen, allerdings nicht öffentlichen Protestes des Sachverständigenrates (Küsters/Hofmann 1998: 778f.) – für die Wirtschaftsmacht.
Als nach der Entscheidung der Bundesregierung der Kabinettsausschuss „Deutsche Einheit“ am 7. Februar 1990 seine Arbeit aufnahm, waren alle Träume vom Eigentumspluralismus ausgeträumt (Roesler 2006: 211). Die Mitte März gewählte DDR-Regierung de Maiziere wurde, kaum dass sie sich konstituiert hatte, mit einem Vertragswerk konfrontiert, das in Artikel 1 bestimmte: „Grundlage der Wirtschaftsunion ist die Soziale Marktwirtschaft als gemeinsame Wirtschaftsordnung beider Vertragsparteien“. Sie wird insbesondere bestimmt durch Privateigentum, freie Preisbildung und grundsätzlich volle Freizügigkeit von Arbeit, Kapital, Gütern und Dienstleistungen.“ Lediglich in einem Zusatz wurde dem Gemeineigentum eine gewisse Rolle eingeräumt. „Die gesetzliche Zulassung besonderer Eigentumsformen für die öffentliche Hand oder andere Rechtsträger am Wirtschaftsverkehr (sei) nicht ausgeschlossen, soweit private Rechtsträger dadurch nicht diskriminiert werden“ (Staatsvertrag 1990: 12).
Die Treuhandanstalt, die nach den Reformvorstellungen der Regierung Modrow in der eigentumspluralistischen Wirtschaft der DDR für Reorganisation und den Schutz des Volkseigentums zuständig sein sollte, wurde zum 1. Juli 1990, dem Tag der Wirtschafts- und Währungsunion, in eine Privatisierungsanstalt umgewandelt. Dieser „gesetzliche Auftrag“ sollte auf drei Wegen erfüllt werden – durch Privatisierung, Sanierung bzw. Stilllegung (THA 1990: 1). Die – wie es der für die Treuhandanstalt „aufsichtsführende“ Finanzminister Theo Waigel in der Debatte zum Bundeshaushalt 1992 formulierte – „unentgeltliche Überlassung beträchtlicher Vermögenswerte an Kommunen und öffentliche Einrichtungen“, blieb allerdings eine Nebenstrecke der Entwicklung der Eigentumsverhältnisse und auf Versorgungsbetriebe beschränkt (THA-Informationen 6/1991: 5). Alles andere Volkseigentum wurde entweder privatisiert oder – wenn sich kein Käufer fand – liquidiert.
Die THA betrieb die Entstaatlichung mit großen Nachdruck und vergleichsweise hohem Tempo. Bis Ende 1994 war der Privatisierungsprozess nahezu abgeschlossen. Von den 13.815 Betrieben (zunächst 8.500, später durch Aufspaltung angewachsen), über die die Treuhand bei ihrer Auflösung Ende 1994 Rechenschaft ablegte, waren 1.588 – nur kleinere Unternehmen – restituiert, d. h. an ihre Eigentümer, deren Unternehmen 1972 der Verstaatlichung anheim gefallen waren, zurückgegeben worden. Nur 265 Unternehmen wurden über den Weg Kommunalisierung nicht privatisiert. Der Stilllegung fielen 4.763 Unternehmen anheim. Es handelte sich um Unternehmen bzw. Unternehmensteile für die die THA nach eigenen Angaben keine privater Käufer gefunden hatte. Der Vorschlag der Wirtschaftsweisen von Anfang 1990, diese Unternehmen „auch für einen längeren Zeitraum“ in Staatsregie weiter zu betreiben, wurde in keinem einzigen Fall aufgegriffen (THA 1994: 03). An Tempo und Gründlichkeit der Entstaatlichung der Wirtschaftsunternehmen übertraf Ostdeutschland alle anderen Transformationsländer in Mittel- und Osteuropa. Ende 1994 war tatsächlich bis auf 65 Betriebe mit knapp 20.000 Beschäftigten der Privatisierungsplan der THA termingemäß erfüllt. Privatisiert waren damit (gemessen an den Beschäftigten in der Industrie) 97,2 % der früheren VEB (THA 1994: 03). Im Jahre 1995 lag im Vergleich dazu der Anteil des privaten Sektors in der tschechischen Industrie und in der Slowakei sowie im verarbeitenden Gewerbe Ungarns bei zwei Drittel, in der polnischen Industrie bei 55 % und in Slowenien, Rumänien und Bulgarien unter bzw. um die 20 % (Hunya1997: 277). Diese Länder hielten sich im Transformationsprozess prinzipiell, jedoch nicht sklavisch, an das westeuropäische Vorbild. Für die Ex-DDR galt jedoch generell mit dem Grundsatz der Übernahme der Sozialen Marktwirtschaft das westdeutsche Vorbild ohne Abstriche – allerdings nicht auf dem Gebiet der Eigentumsumwandlung. Denn hinsichtlich des Anteils privater bzw. privatisierter Unternehmen hatte Ostdeutschland 1994 nicht nur eine Reihe von westeuropäischen Ländern mit bemerkenswertem Staatseigentum in der Wirtschaft wie Österreich und Frankreich überholt, sondern selbst die (alte) Bundesrepublik. Dieses Ergebnis lässt sich nicht einfach mit der oft – und richtig – als 1: 1-Übertragung bezeichneten Übernahme westdeutscher ordnungspolitischer und rechtlicher Verhältnisse im Ergebnis der Wirtschafts- Währungs- und Sozialunion erklären. Die „Totalprivatisierung“ der ostdeutschen Wirtschaft, dieses „Überholen ohne Einzuholen“ auf neoliberalem Kurs bedarf weiterer Erklärung.
3. Die Funktion der Treuhandprivatisierung im bundesdeutschen Entstaatlichungsprozess
Was bedeutete die seit dem Herbst 1989 immer mehr in Richtung deutsche Einheit gehende Entwicklung in der DDR für den neoliberalen Kurs der Bundesregierung? Bis zum September 1989 war er insofern durchaus gefährdet gewesen, als auf Grund schlechter Umfrageergebnisse für Kanzler Kohl und mit einem für die CDU desaströsen Ergebnis der Europawahlen vom Juni 1989 (37,8 %) führende CDU-Funktionäre eine Fortsetzung der schwarzgelben Koalition nach den Wahlen vom Herbst 1990 als fraglich ansahen. Nachdem es dem Kanzler auf dem Bremer Parteitag der CDU im September 1989 gelungen war, einen Erfolg seiner innerparteilichen Gegner, darunter auch Norbert Blüm, zu verhindern (Baring/Schöllgen 2002: 232f., 235f.), konnte die deutsche Einheit das nächste Hindernis für den neoliberalen Kurs werden. Nicht nur das Verhalten der Wirtschaftsweisen deutet darauf hin, dass sich unter den Eliten der Bundesrepublik die Stimmung zu verbreiten begann, man müsse im Interesse der zu erwartenden deutschen Einheit und der zu erwartenden schrittweisen Annäherung der DDR-Wirtschaft an die Marktwirtschaft selbst bei der Verfolgung eines radikal marktwirtschaftlichen Kurses innehalten, um den zwar grundsätzlich marktwirtschaftlich orientierten, sich aber noch nicht völlig vom „dritten Weg“ verabschiedet habenden Reformern in der DDR ordnungspolitisch entgegenzukommen. Dafür hatte die Regierung Kohl allerdings kein Verständnis und entwickelte bereits Anfang Februar 1990 eine Gegenstrategie, die darin bestand, in der DDR nicht nur auf die Übernahme der seit 1982 in der BRD entwickelten neoliberalen Strukturen zu dringen, sondern die Vereinigungseuphorie, die die Gegner des neoliberalen Kurses in der Bundesrepublik – von den Arbeitnehmerausschüssen der CDU über die Gewerkschaften bis hin zur SPD – weitgehend lähmte, zu nutzen um im Osten Deutschlands in kurzer Zeit jene Verhältnisse zu schaffen, deren Durchsetzung in der Bundesrepublik noch unvollendet war, um auf diesem Wege der Deregulierung der Wirtschaft im Westen neue Impulse zu geben.
Diese vor allem von Finanzminister Waigel vertretene Strategie fand ihren kompaktesten Ausdruck in dem vermutlich im Auftrag der Regierung Kohl verfassten und als Sonderdruck des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung im März 1990 verbreiteten Gutachten „Vorteile der wirtschaftlichen Einheit Deutschlands“. Das am Institut für Wirtschaftspolitik der Universität Köln von Professor Hans Willgerodt erstellte Gutachten „Vorteile der wirtschaftlichen Einheit Deutschlands“ hatte offensichtlich zwei Funktionen. Einmal sollte es die – auch von den Wirtschaftsweisen vorgetragenen – Bedenken gegen eine allzu rasche und allzu radikale Währungs- und Wirtschaftsunion zerstreuen, in dem es für die ostdeutsche Wirtschaft eine „gerade zu Beginn der Reform zu erwartende Produktivitätssteigerung“ vorhersagte (Willgerodt 1990: 44). Zweitens sollte es mit allen ordnungspolitischen Vorstellungen abrechnen, die darauf abzielten, eine weitere Deregulierung der Wirtschaft in der Bundesrepublik zumindest solange aufzuhalten, bis der Osten ordnungspolitisch mit dem Westen gleichgezogen hätte.
In diesem Sinne hieß es bei Willgerodt: „Wenn die Absicht bestehen sollte, für die Lenkung des gesamtwirtschaftlichen Prozesses eine Art drittem Weg’ zwischen Markt und Plan zu suchen, so wäre ein solcher Versuch zum Scheitern verurteilt. Er würde nur dazu führen, dass beide Systeme funktionsunfähig werden“ (Willgerodt 1990:1f.).
Im Gutachten wurde nicht nur die Auffassung vertreten, dass es nicht geschehen dürfe, dass im Osten mit Rücksicht auf seine planwirtschaftliche Vergangenheit Kompromisse im Sinne einer „Mixed Eoconomy“ gemacht werden – auch nicht auf Zeit. Das Gutachten plädierte auch dafür, die angestrebten marktradikalen Lösungen im Osten, sobald sie einmal etabliert seien, als Vorbild für die (alte) Bundesrepublik zu betrachten. Willgerodt empfahl in diesem Sinn: „Bei einigen auch in der Bundesrepublik nicht oder nicht ausreichend liberalisierten Bereichen wie dem Verkehrswesen, den Versicherungen und der Telekommunikation sollte die DDR sogar über die Rückständigkeit der Bundesrepublik hinweggehen und sich unmittelbar an den Ländern der EG orientieren, die auf dem jeweiligen Gebiet den höchsten Liberalisierungsgrad erreicht haben“ (Willgerodt 1990: 34).
Da niemand sicher sein konnte, dass die im Herbst 1990 anstehenden Bundestagswahlen eine schwarzgelbe Mehrheit ermöglichen würden, galt es für die Regierung Kohl, die auslaufende Legislaturperiode dafür zu nutzen, so rasch und so viel Transformation in Richtung radikaler marktwirtschaftlicher Verhältnisse in Ostdeutschland wie möglich auf den Weg zu bringen. Diesem Zeitdruck hatte sich die Regierung de Maizière zu beugen. Thilo Sarrazin, einer der Architekten der Transformationskonzeptes der Regierung Kohl, erinnert sich: „Es gab keine Zeit mehr für irgendwelche Zwischenschritte… Vielmehr musste es darum gehen, den Vertragsabschluss (über die Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion – J. R.) zu sichern.“ (Deutschland Archiv 3/2001: 421, 423)
In dem Sinne, möglichst viele Tatsachen noch vor den Bundestagswahlen 1990 zu schaffen, kann man auch die Entscheidungen vom Frühsommer 1990 über die administrative Anbindung der Privatisierungsbehörde interpretieren. Die THA wurde weder dem Parlament noch der Regierung direkt verantwortlich gemacht. Anders als in vielen osteuropäischen Transformationsländern, wo es z. B. in Polen eine Sejmkommission und ein Ministerium „für Eigentumsumwandlung“ gab (Zehn Jahre 1999: 64, 183), fand eine entsprechende Verankerung der Treuhandanstalt in den politischen Strukturen der BRD nicht statt. Das Bundesfinanzministerium galt nur als „Aufsichtsbehörde“, die darüber zu wachen hatte, dass die THA ihren „gesetzlichen Auftrag“, so rasch wie möglich die an sie als „Zwischeneigentum“ übertragenen VEB zu privatisieren, gerecht wurde. Sich auf ihren „gesetzlichen Auftrag“ beziehend definierte die THA unter Detlef Rohwedder ihre Stellung so: „Wir sind eine Anstalt öffentlichen Rechts. Das Gesetz gibt uns unseren Auftrag. Niemand kann uns von außen im Einzelfall Weisungen erteilen oder uns zu einer bestimmten Entscheidung zwingen. Wir sind keine Behörde, nicht Teil eines Ministeriums des Bundes und auch keine staatliche Verwaltung“ (THA 1991: 5). Das sollte wohl auch heißen: Im Falle eines vorstellbaren Regierungswechsels geht die Privatisierung in Ostdeutschland weiter wie bisher.
Die Wahlen vom Dezember 1990 brachten der CDU mit 36,7 % noch weniger Stimmen als in den Europawahlen vom Juli – und selbst das nur wegen eines überdurchschnittlichen Anteils an CDU-Wählern in den neuen Bundesländern. Zusammen mit der FDP (11 %) reichte es aber für eine weitere Regierung Kohl (Lehmann 2002: 443f.).
Der hohe ostdeutsche Anteil an CDU- und FDP-Wählern in den DDR-Wahlen vom März und der korrespondierend geringe Anteil an Wählern der PDS bzw. den Parteien der Bürgerbewegung hat zu der Auffassung beigetragen, dass die Ostdeutschen mit der D-Mark und ihrem mehrheitlichen Bekenntnis zur „Sozialen Marktwirtschaft“ auch den Neoliberalismus der Regierung Kohl akzeptiert hätten. Dabei wird übersehen, dass sich in den ersten vier bis fünf Monaten des Jahres 1990 in den VEB die Herbstrevolution fortsetzte und dort von unten Strukturen geschaffen worden waren, die den Absichten der Regierung Kohl zuwiderlaufen mussten. Dazu gibt es – speziell was die Entwicklung ab Februar 1990 betrifft – bisher kaum Untersuchungen. Selbst die Tatsache, dass in einer großen Zahl von VEB die Leiter Rechenschaft über ihre Tätigkeit ablegen mussten und bei unbefriedigendem Ergebnis von den Belegschaften abgewählt wurden, ist wenig erforscht, weswegen es im folgenden bei Einzelbeispielen bleiben muss.
Parallel zu den in den Monaten Februar bis Mai stattfindenden „Vertrauensabstimmungen“ über Betriebsleitungen begannen sich diejenigen ostdeutschen Belegschaftsvertreter (Betriebsgewerkschaftsleitungen bzw. Betriebsräte), die sich zuvor durch Neuwahlen legitimiert hatten, mit der Eigentumsfrage auseinander zu setzen. Im Stammbetrieb des Kombinats Kohlekraftwerke in Jänschwalde (Lausitz) z. B. verbot die „geschäftsführende BGL“ Mitte Februar zunächst einmal der Kombinatsleitung, „ohne mehrheitliche Zustimmung der Belegschaft die Verhandlungen über unser Eigentum ohne Belegschaftsvertreter zu führen.“ Anfang März verfasste die geschäftsführende BGL einen Aufruf an die Arbeiter und Angestellten der Kombinatsbetriebe, in dem es hieß: „Es hat jeder von uns Anspruch auf einen Teil des Volkseigentums entsprechend seiner Arbeitsjahre! Wir fordern nicht mehr und nicht weniger, als dass uns das in Form von Anteil- und Besitzscheinen bestätigt wird!“ (VEAG-Archiv, unpag.).
Als der VEB Jenapharm in eine AG umgewandelt werden sollte, verlangte die neu gewählte Betriebsgewerkschaftsleitung, dass der Belegschaft eine Stammeinlage von 25 Prozent übereignet werde (Mühlfriedel 2000: 111).
Im Thüringer Büromaschinenwerk Sömmerda (BWS), einem Betrieb mit 13.000 Beschäftigten, entwickelten Funktionäre der „gewendeten“ IG Metall Ost gemeinsam mit Vertretern der bundesdeutschen IG Metall aus Hessen im Februar und März 1990 ein Eigentumskonzept, das nach dem Willen seiner Initiatoren als „Sömmerdaer Modell“ überall im Osten Deutschlands Schule machen sollte. Das auch von der Betriebsleitung des BWS befürwortete Projekt sah die Umwandlung des Büromaschinenwerkes in eine Aktiengesellschaft vor, deren Anteile zu 75 % in die Hände der Belegschaft übergehen sollten. Die restlichen 25 % sollten an westdeutsche Unternehmen privatisiert werden. Eine Klausel im Modell sah vor, die Mehrheit der Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat auch bei Aktienverkauf durch Belegschaftsmitglieder gegen die Folgen „feindlicher Übernahmen“ abzusichern. Im Mai 1990 organisierten der DGB Hessen und die IG Metall des Bezirks Erfurt eine Konferenz, zu der Betriebsgewerkschaftsleitungen der Thüringer VEB eingeladen wurden, um die im BWS gefundene Eigentumslösung zu propagieren.
Auf diese Weise wurden auch die Verfechter des neoliberalen Kurses in der Bundesrepublik aufmerksam und nahmen Stellung. Fritz Heinz Himmelreich, der damalige Hauptgeschäftsführer der Bundesvereinigung Deutscher Arbeitgeberverbände, wandte sich gegen das Sömmerdaer Modell als „völlige Entmachtung der Eigentümer, wer immer diese in Zukunft auch sein mögen“, und warnte vor einer „syndikalistischen Wirtschaftsordnung“ im Osten. Der FDP-Vorsitzende Graf Lambsdorff sah im Sömmerdaer Modell die Basis für einen neuen „Funktionärsklüngel“ und eine entscheidende Behinderung für die im Osten dringend notwendige „Neuordnung der Kapitalströme“. Das „Handelsblatt“ meinte, dass „betriebs- wie gesamtwirtschaftlich gesehen“ die „Mängel und Risiken“ des Eigentumskonzeptes des BWS „gravierend“ seien und sprach die Hoffnung aus, „dass dieses Modell nicht Schule macht“. (Zitiert in: Schüle 1995: 342f.). Der von Betriebs- und Belegschaftsleitung des BWS gestellte Antrag auf Umstrukturierung des BWS nach dem Konzept „Sömmerdaer Modells“ wurde von der Regierung de Maiziére gemäß den Vorgaben der Bundesregierung für die Umgestaltung der Treuhandanstalt in eine Privatisierungsbehörde in einem Akt vorauseilenden Gehorsams abgelehnt.
5. Schluss
Die Treuhandanstalt hat ihre „zentrale Aufgabe“ in Ostdeutschland den „Aufbau einer leistungs- und wettbewerbsfähigen modernen Wirtschaft, die Arbeitsplätze sichert und neue schafft,“ (THA 1990: 1) zu fördern, ordnungspolitisch einseitig interpretiert und geholfen, den neoliberalen Kurs der Kohl-Regierung bezüglich der Entstaatlichung der Wirtschaft auch in Osten Deutschlands durchzusetzen und damit Impulse für das weitere Voranschreiten der Deregulierung in den alten Bundesländern zu geben. In der Ex-DDR wurde bald sichtbar, dass ideologisch gefärbte Grundsätze um jeden Preis durchgesetzt wurden. Die einseitige Orientierung der Treuhand auf den Verkauf an „marktwirtschaftlich erfahrene“ Käufer aus dem Westen – nur ein Bruchteil des betrieblichen Volkseigentums wurde auf dem Weg des Management Buy-Out, nur eine Handvoll Betriebe wurden auf dem Weg des Employee Buy-Out privatisiert – führte u. a. dazu, dass sich während des beschränkten Privatisierungszeitraums für 3.718 Betriebe keine Käufer fanden. Diese Betriebe durften aber nicht – wie etwa der Steinkohlenbergbau an Ruhr und Saar – als staatlich subventionierte Unternehmen (weiter) existieren. Zu den Bundestagswahlen 1994 sollte der „ordnungspolitische Fremdkörper“ THA mit Zwischeneigentum nicht mehr existieren. Die Totalprivatisierung der ostdeutschen Wirtschaft entsprechend neoliberalen Normen wurde dadurch zur Privatisierung „um jeden Preis“. Den von der THA eingesammelten Veräußerungserlösen von 37,0 Mrd. DM standen so Ausgaben von 199,7 Mrd. DM gegenüber. Für das Manko hatte der deutsche Steuerzahler aufzukommen (Bundesanstalt 1995: 2,9, 11, 14). Höher noch als für die Bevölkerung im Westen war der Preis für die Verwirklichung neoliberaler Grundsätze in der Wirtschaft im Osten. Er bestand in einer bis heute nicht überwundenen Deindustrialisierung, die dazu führte, dass die Arbeitslosenquote in den neuen Ländern in den 90er Jahren auf fast 20 % stieg und bis heute fast doppelt so hoch ist wie in den alten Bundesländern. (Institut der deutschen Wirtschaft 1996,Tab. 20; 2001: 15.)
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