Teile dieses Aufsatzes beruhen auf dem Beitrag des Autors zu dem von ihm und Gerhard Löhlein herausgegebenen Sammelband „Entfesselte Wirtschaft – Gefesselte Demokratie“ (Nomen-Verlag, Frankfurt a. M. 2009).
Vielen gilt der SPIEGEL als das, als was er sich selbst bezeichnet: ein Nachrichtenmagazin. „SPIEGEL-Leser wissen mehr“ lautet die Werbeparole. In der Tat deckte und deckt das Wochenblatt so manches auf, was unter der Decke gehalten werden soll. In einem Interview hat sein Chefredakteur, Georg Mascolo, vor kurzem wieder den Verrat von Geheimnissen, das Whistleblowing, als journalistischen Auftrag benannt (Frankfurter Rundschau, 5.4.2011). Schaut man aber genauer hin, welche Geheimnisse der SPIEGEL verrät, so sind es meist Hinterzimmer-Geschichten aus dem politischen Betrieb, skandalöse Einzelfälle aus dem Bereich der Wirtschaftskriminalität und ähnliche Affären.
Die wirklich wichtigen Geheimnisse verrät der SPIEGEL nicht. Über das Geheimnis der Mehrwertproduktion, die ganz normale Ausbeutung, erfährt der Leser so gut wie nichts. Statistiken und Schaubilder, in denen die wachsende Kluft zwischen Armut und Reichtum, Gewinnen und Löhnen – national wie international – deutlich wird, sind im SPIEGEL äußerst selten zu finden. An solcher Art Aufklärung hat er wenig Interesse. Sie könnte die Anzeigenkunden vergrätzen, von denen er wie alle bunten Blätter lebt. Fast die Hälfte seiner Seiten enthält Werbung. Die Frage ist, was stärker auf das Bewusstsein und vor allem auf das Unbewusste der Leserschaft wirkt: Der redaktionelle Teil oder die hübschen Bilder von den Waren, die man sich kaufen soll, und vom Lifestyle, der angesagt ist.
Während der sogenannten Finanzkrise erschien der SPIEGEL mit einem Titelblatt, auf dem im Hintergrund schemenhaft Arbeiter zu sehen waren, davor einmontiert ein Aufsteller mit dem Foto eines Arbeitslosen aus den 30er Jahren des vorigen Jahrhunderts, der ein Schild umhängen hatte: „Ich suche Arbeit jeder Art!“ Die Schlagzeile dazu: „Wiederholt sich die Geschichte doch?“ (Nr. 18/2009) Blätterte man um, fiel der Blick auf ein schickes Auto: „Der neue Toyota Verso 7-Sitzer. Träume gemeinsam erleben.“ Und auf der Rückseite dieses Heftes kam einem ein smarter junger Mann entgegen, unten rechts war nur das Marken-Logo zu lesen: „BOSS“. Wer setzte das denn schon in Beziehung zur Titelseite und dachte sich etwas dabei? Nur wenn alles schön getrennt wahrgenommen werden kann oder prismatisch wie durch Spiegelscherben, passiert nichts und brennt nichts an.
Zur Machart des SPIEGEL hat Hans Magnus Enzensberger zu den Zeiten, als er noch ein linker Intellektueller war, bereits alles gesagt: „Die Ideologie des SPIEGEL ist eine skeptische Allwissenheit, die an allem zweifelt, außer an sich selbst. Eine Kritik, die keinen anderen Ansatz besitzt als diesen imaginären Hebelpunkt, macht sich vornherein zur Magd der Ereignisse. Sie schränkt sich auf die pure Taktik ein und gesteht, noch ehe sie geübt wird, ein, dass sie nichts aus den Angeln heben wird. Zwar gibt sie vor, die Welt verändern zu wollen, doch weiß sie nicht, zu welchem Ende. Ihr Ziel ändert sich mit den taktischen Erfordernissen, die sich ebenfalls ändern, noch während die Story in den Satz geht. Insofern ist sie blind: ein Surrogat echter Kritik.“ („Die Sprache des Spiegel“, 1957)
Enzensberger ging damals noch weiter. Er warf dem SPIEGEL vor, seine Leserinnen und Leser nicht zu orientieren, sondern sie zu desorientieren. Die Zeitschrift sei „eine Bildzeitung für den gehobenen Bedarf“. Nimmt man aus jüngster Zeit die Fälle Sarrazin und Guttenberg, so ist dieses Urteil nach wie vor belegbar. In einer gleichsam konzertierten Aktion mit BILD druckte der SPIEGEL Passagen des kulturpessimistischen und rassistischen Machwerks von Thilo Sarrazin ab, gerade als es herauskam. Da nützte es wenig, dass er auch Gegenstimmen zu Wort kommen ließ. Je mehr ein emotionaler Medienhype einmal angefacht ist, desto wirkungsloser erscheint die Stimme der Vernunft. „Deutschland schafft sich ab“ wurde zum Bestseller, der immer noch auf den entsprechenden Listen steht.
Ähnlich ging es mit dem Wirtschafts- und späteren Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg. Zunächst stellte ihn der SPIEGEL parallel zu BILD als Deutschlands fabelhaftesten und beliebtesten Politiker dar. Er inszenierte ihn auf dem Titel bzw. ließ ihn sich dort selbst inszenieren. Erst als der Freiherr als Lügenbaron entlarvt war – nicht von den investigativen Journalisten des SPIEGEL, sondern von dem Juraprofessor Andreas Fischer-Lescano und der Internet-Initiative GuttenPlag – schoss das seinerzeit von seinem Gründer Rudolf Augstein pathetisch als „Sturmgeschütz der Demokratie“ bezeichnete Magazin nach. Es zeigte nun Guttenberg auf der Titelseite als betrügerischen Märchenerzähler vor brav lauschenden Kindern.
Darin unterschied es sich von der Haltung der Bildzeitung, die gut rechtspopulistisch bis zum Schluss Guttenberg mit dem Argument verteidigte, ein hervorragender Politiker müsse keine akademische Leuchte sein. Schließlich habe jeder schon einmal getäuscht und in der Schule abgeschrieben. Die Blätter für die gebildeten Stände – von der FAZ bis zum SPIEGEL – mochten sich dem, eingedenk ihres Klientels, nicht anschließen. Letzterer nutzte die Affäre sogar zum Distinktionsgewinn. Er brachte eine Geschichte über BILD als „Brandstifter“ heraus, die nichts Neues enthielt, aber mit vielen Streichhölzern illustriert war. Dies wiederum wurde ihm von der taz und vom kritischen SPIEGELblog als scheinheiliges Manöver angekreidet, weil er tatsächlich selbst viel dazu beigetragen hatte, Guttenberg zu popularisieren.
Das Doppelgesicht des SPIEGEL
Der SPIEGEL hat ein Doppelgesicht. Da ist einerseits der Anspruch, über Fakten und ihre Hintergründe zu berichten. Das geschieht auch, wobei, wie Enzensberger seinerzeit schrieb, wenig Erkenntnis herausspringt, aber beim Leser das Gefühl des Bescheidwissens erzeugt wird. Da in einer Ausgabe auf 150 Seiten etwa 50 Artikel erscheinen, entsteht scheinbar ein differenziertes und aktuelles Bild der Welt. In Wirklichkeit aber ist es der immer gleiche Eindruck, dass ein Ereignis das andere ablöst, dass es immer eine Geschichte gibt, die erzählt werden kann, dass es immer auf die Personen ankommt, die in den Geschichten ihre Rollen spielen.
Der Begriff dafür heißt Infotainment – die unentwirrbare Mischung aus Information und Unterhaltung. Am besten sind Geschichten, die sich dem Genre Krimi annähern. Sie suggerieren dem Leser und der Leserin, dass sie der Wahrheit auf die Spur kommen können, dass ihnen die Frage beantwortet wird, wer der Täter war. Auch Geschichten aus dem Geheimdienstmilieu sind beliebt. Schon lange hat der SPIEGEL den Ruf, über besondere Kanäle zu diesem Milieu zu verfügen.
Ein leichter Hauch von Verschwörungstheorie liegt über dem Blatt. Verschwörungstheoretisches Denken ist das Gegenteil von sozialwissenschaftlicher oder gar marxistischer Analyse. Wer dafür anfällig ist, konstruiert sich die Welt als Wille und Vorstellung. Er folgt der offenbar unausrottbaren Sehnsucht, doch noch bestätigt zu bekommen, dass die Menschen ihre Geschichte selbst machen, auch wenn es nur wenige Große sind, die das können. Dies entspricht der bürgerlichen Mär vom autonomen Individuum.
Geschichtliche und aktuelle Ereignisse sollen keine Zufälle, keine Unfälle und vor allem kein Resultat struktureller, systemischer Konstellationen oder gar von Klassenkonflikten sein. Dabei liegt im französischen Wort für Aktiengesellschaft, „société anonyme“, mehr Wahrheit über die Verhältnisse und ihre Triebkräfte, als sich diejenigen träumen lassen, die unablässig bemüht sind, Hinter- oder Dunkelmänner dingfest zu machen. Magazine wie der SPIEGEL unterstützen ihren Drang.
Auf der anderen Seite erfüllt das Blatt dem Leser und der Leserin nicht nur den Wunsch, zu den Faktenkennern und Bescheidwissern zu gehören. Es gibt seinen unendlichen Geschichten immer auch eine Tendenz mit. Nicht selten kommt sie im Titelbild besonders kräftig zum Ausdruck. So wurde in den 90er Jahren die Kampagne gegen eine weitere Zuwanderung nach Deutschland, gegen die „Wirtschaftsflüchtlinge“, im SPIEGEL (wie in BILD) durch das Kollektivsymbol vom „vollen Boot“ visuell unterstützt. Zu sehen war beispielsweise auf dem Titel eine gezeichnete überfüllte Arche Noah mit den Farben der Bundesrepublik. Oder der Ansturm von „Ausländern“ auf das Tor in einem Zaun. Dies als Foto, das digital nachbearbeitet, sprich gefälscht worden war, um die Angst vor der Überflutung durch Fremdländische zu schüren.
Das angebliche Scheitern der multikulturellen Gesellschaft visualisierte der SPIEGEL mit einer jungen Migrantin, welche die türkische Flagge so schwenkte, dass sie wie die rote Fahne der Kommunisten aussah. Einmontiert waren kopftuchtragende Mädchen in einer Koranschule und türkische Jungen mit einer Schlag- und Würgewaffe in der Hand. Die Titelgeschichte dazu im Inneren des Heftes las sich dann differenzierter. Aber der Tenor blieb: Die multikulturelle Gesellschaft sei praktisch gescheitert, die nach Deutschland Eingewanderten blieben oft unter sich, bildeten Parallelgesellschaften und pflegten ihren muslimischen Glauben, der mit der demokratischen Moderne nicht so recht kompatibel sei.
Damit bewegte sich der SPIEGEL nicht nur im Mainstream des Alltagsbewusstseins der Bundesdeutschen, sondern er trieb es – als Leitmedium für die Bildungselite – weiter nach rechts. Eben als „Bildzeitung für den gehobenen Bedarf“ (Enzensberger). Hätte er hier das Panier der Aufklärung ergriffen und wenigstens die sozialwissenschaftlichen Erkenntnisse über die reale Entwicklung der Migration dargestellt, so hätte er sich Verdienste um das erworben, was heute als „Integration“ der Eingewanderten gefordert und gefördert werden soll. Integration kann immer nur ein wechselseitiger Prozess sein, in dem die Fremd- und Selbstzuschreibungen relativiert werden.
Es versteht sich, dass der seinerseits schon ideologisch belastete Begriff der multikulturellen Gesellschaft, wenn er dazu benutzt wird, das angebliche Scheitern des mit ihm Gemeinten zu bezeichnen, seine Verhüllungsfunktion noch einmal erfüllt. Sie besteht in der Ethnisierung und Kulturalisierung gesellschaftlicher Verhältnisse. Indem die kulturellen Unterschiede zwischen „Einheimischen“ und „Fremden“ ständig betont oder gar als die einzig wichtigen dargestellt werden, können die Gegensätze und Unterschiede zwischen den Klassen und Schichten, die ebenfalls eine kulturelle Dimension haben, mehr oder weniger weggezaubert werden.
„Multikulti ist tot“, sagt heute die Kanzlerin. Andere in ihrer Partei fordern eine wurzelechte deutsche oder abendländische Leitkultur. Es handelt sich dabei um ein Schattenboxen, das davon ablenken soll, dass die herrschende Kultur sowieso immer die Kultur der Herrschenden ist und Deutschland längst zum Einwanderungsland geworden ist. Zum Glück gibt es inzwischen auch Gegentendenzen zu diesem Diskurs: Nach dem Jahresgutachten 2011 führender deutscher Migrationsforscher erkennen fast zwei Drittel der Befragten einer repräsentativen Umfrage „die Risiken, die darin liegen, dass zu viele Menschen aus Deutschland auswandern. 60 Prozent wünschen sich mehr Zuwanderung Hochqualifizierter, fast die Hälfte spricht sich für die verstärkte Aufnahme von Flüchtlingen aus.“ (Frankfurter Rundschau, 14.4.2011)
Mit der Rede von den sich bildenden Parallelgesellschaften der Migranten geriet aus dem Blick, dass es längst eine Parallelgesellschaft der Reichen und Mächtigen gibt, die sich sozial separiert hat. Sie lebt in eigenen Wohnvierteln oder auf herrschaftlichen Anwesen. Die Anzeichen einer Selbstghettoisierung in „gated communities“ sind zu besichtigen. Ihre Kinder gehen auf Privatschulen, sie trifft sich in privilegierten Clubs und bei speziellen Anlässen. Ihr Bewusstsein ist von Unverständnis und Empathielosigkeit gegenüber den unter ihr Stehenden geprägt, wenn sie nicht gerade Spendengalas und Charity-Events veranstaltet, um ihr Gewissen zu erleichtern.
Mit Ausnahme der Boulevardpresse, die vollkommen unkritisch über sie berichtet, wird in den Printmedien, auch im SPIEGEL, kaum je über diese Parallelgesellschaft an der Spitze der sozialen Pyramide geschrieben. Über ihre Integrationsunfähigkeit und -unwilligkeit schon gar nicht. Dafür aber ständig über die Integrationsprobleme der Eingewanderten und ihrer Kinder an den Rändern der Gesellschaft. Dieser verschobene Blick hat selbstverständlich seinen Sinn. Die Botschaft heißt: Reg dich über die da oben nicht auf – dafür gibt es die Muslime.
Der SPIEGEL in der Krise – ein Zerrspiegel
Seitdem Altkanzler Helmut Schmidt 1997 in der ZEIT einen „neuen, ungebändigten, weltweit spekulativen Raubtier-Kapitalismus“ beklagt hatte, wurde diese Metapher zu einem der beliebtesten Sprachbilder in den Medien. Es ersparte ihnen die Analyse der Ursachen, Formen und Folgen einer immer hektischer werdenden spekulativen Kapitalverwertung bzw. dessen, was „finanzmarktgetriebener Kapitalismus“ genannt wurde. Zugleich simulierte die Metapher vom „Raubtierkapitalismus“ eine besonders kritische Haltung, weil sie sich scheinbar anschloss an frühere linke Redeweisen vom „Wolfsgesetz“ der kapitalistischen Konkurrenz und an die Fotomontagen von John Heartfield, der in den 20er Jahren des vorigen Jahrhunderts den Imperialismus als zum Krieg treibende und von ihm profitierende Bestie dargestellt hatte.
In Wirklichkeit handelt es sich bei der im letzten Jahrzehnt inflationär gewordenen Rede vom „Raubtierkapitalismus“ um eine unklare, emotionalisierende Begriffsbildung. Sie koppelt oder vermengt Soziales und Biologisches miteinander und ist dazu geeignet, alle möglichen Ressentiments zu fördern. Deshalb kann auch die Neue Rechte sich dieses Begriffsbild zunutze machen, um der von ihr abgelehnten Globalisierung ihren nationalen Kapitalismus oder Pseudo-Sozialismus als Lösung der heutigen wirtschaftlichen und sozialen Probleme entgegen zu setzen.
Besonders der SPIEGEL tat sich bei der Propagierung der Metapher hervor. So brachte er 2005 die Titelgeschichte „Der neue Raubtierkapitalismus. Mit Gier und Größenwahn in die Pleite“. Das Titelblatt zeigte, für die Zeitschrift nichts Ungewöhnliches bei gesellschaftlich bewegenden Themen, ein suggestives Horrorbild. Aus einem vollkommen dunklen Hintergrund schauten grün glimmende Augen den Betrachter an. Selbstverständlich stand in den Pupillen das Dollarzeichen. Denn eines war von vorneherein klar: Nicht die ehrliche deutsche Unternehmerschaft war schuld an den sich abzeichnenden atemberaubenden Entwicklungen, sondern, wie es eine unselige deutsche Tradition will, das „angelsächsische Finanzkapital“.
So tönte es auch aus dem Mund vieler Politiker, keineswegs nur der Rechten. Der SPD-Vorsitzende Franz Müntefering verglich Hedgefonds und andere spekulative Kapitalanlagen mit Heuschrecken, die um eines kurzfristigen Profits willen ins Land einfallen und nach getaner Arbeit wieder verschwinden. Zugleich hatte die seit 1998 amtierende rot-grüne Bundesregierung die – vorzugsweise in den USA und in England beheimateten, aber selbstverständlich auch mit „deutschem“ Kapital arbeitenden – Hedgefonds überhaupt erst zugelassen. Mit der Agenda 2010 und anderen „Reformen“ hatte sie dafür gesorgt, dass der Neoliberalismus auch in Deutschland endgültig den vorher so genannten rheinischen Kapitalismus ablösen konnte.
Der SPIEGEL brachte weitere Raubtiere auf seine Titelseite. 2005 wurde die Beutelschneiderei der Ärzteschaft durch eine Äskulap-Natter in Gestalt einer Würgeschlage illustriert, der die Geldscheine schon aus dem nimmersatten Rachen fielen. Parallel dazu steuerten Redakteure wie Gabor Steingart das Blatt ins neoliberale Fahrwasser. Und auf den Werbeseiten nicht nur des SPIEGEL fanden sich Anzeigen wie die der Deutschen Bank, auf der in das Gesicht eines dynamischen Jungbankers das Auge einer Raubkatze einmontiert war.
Als die Krise schließlich ausbrach, die spekulativen Blasen platzten, dominierten zwei Schuldzuweisungen: Schuld waren einmal die „Anderen“, d.h. die USA mit ihrem aufgeblähten Immobilienmarkt, den dazu gehörenden faulen Krediten und deren Verbriefung in „Giftpapieren“, die – wie passend – vorzugsweise von „jüdischen“ Banken wie Lehman Brothers und Goldman Sachs auf die Märkte lanciert worden seien. Inzwischen ist längst klar geworden, dass die Deutsche Bank dabei führend mitgemacht hat.
Noch verbreiteter und beliebter war die andere Schuldzuschreibung: Die Krise als Folge allgemein-menschlicher Eigenschaften wie Habsucht und Gier. Diese Erklärung hatte noch dazu den Vorteil, dass selbst die kleinen Sparer, die sich spekulative Finanzprodukte von ihren Hausbanken hatten andrehen lassen, mitverantwortlich gemacht werden konnten. Die Mystifizierung und Psychologisierung der Krisenursachen war ein Programm, dem sich auch und vor allem die Medien verschrieben, allen voran der SPIEGEL.
Was bedeutete es, dass er auf einem Titelblatt (Nr. 40/2008) ausgerechnet der New Yorker Freiheitsstatue die Fackel ausgehen ließ? Statt der Flamme von Aufklärung und demokratischer Selbstbestimmung sah man ein blakendes Rauchfähnchen. Text dazu: „Der Preis der Überheblichkeit. Eine Wirtschaftskrise verändert die Welt“. Man verwechsle dies nicht mit linker Bildpolemik, welche die Freiheitsstatue mit einem Totenkopf zeigt, um den Verrat an den bürgerlichen Werten durch imperialistische Kriegsführung zu symbolisieren. Ihr das Licht auszublasen hat dagegen einen Zug von Häme oder Überheblichkeit. Am schlimmsten wäre es, wenn sich die Macher des Titelblatts überhaupt nichts dabei gedacht hätten, außer wie sie ein möglichst viel Aufmerksamkeit erregendes Bild finden könnten.
Ein Kapitel für sich waren in der Krise die Wendehälse und Zeitgeistsurfer, die plötzlich so taten, als seien sie schon immer für „mehr Staat“ gewesen, um die verrückt spielenden Märkte zu zähmen. Der eben noch neoliberale SPIEGEL-Redakteur Gabor Steingart setzte sich nun an die Spitze einer scheinkritischen Bewegung gegen die Geldzockerei: „Und dann ist da noch die Religionsgemeinschaft der Enthemmten, die sich vor allem in Amerika großer Beliebtheit erfreut. Diese Menschen bekennen sich zu vorsätzlicher Sorglosigkeit, lustvoller Verschwendung und allgegenwärtiger Gier“ (Nr. 40/2008). Sogar Marx zitierte er mit der berühmten, in Wahrheit von einem englischen Gewerkschafter stammenden Sentenz, dass das Kapital „einen Horror vor der Abwesenheit von Profit oder sehr kleinem Profit“ habe und ab einer bestimmten Gewinnmarge zu jedem Verbrechen bereit sei.
Zur Erklärung der Krise hätten besser andere Stellen gepasst, die außer in kleinen linken Journalen selbstverständlich nirgendwo zitiert wurden, auch nicht in der Frankfurter Rundschau, die vollmundig titelte: „Die Pleite des Kapitalismus“, eine Karikatur von Karl Marx mit erhobener Faust daneben, und das alles auf rotem Grund (9.10.2008): „Da nicht die Befriedigung der Bedürfnisse, sondern Produktion von Profit Zweck des Kapitals, so muß beständig ein Zwiespalt eintreten zwischen den beschränkten Dimensionen der Konsumtion auf kapitalistischer Basis, und einer Produktion, die beständig über diese ihre immanente Schranke hinausstrebt.“ (Das Kapital, Bd. 3, S. 267) Und: „Der letzte Grund aller wirklichen Krisen bleibt immer die Armut und Konsumtionsbeschränkung der Massen gegenüber dem Trieb der kapitalistischen Produktion, die Produktivkräfte der Gesellschaft so zu entwickeln, als ob nur die absolute Konsumtionsfähigkeit der Gesellschaft ihre Grenze bilde.“ (a. a. O., S. 501)
Diese Sätze weisen auch darauf hin, dass der wirtschaftspolitische Kurs des Abbaus von Sozialleistungen und der Lohnminderung die Krisentendenz verschärft hat und dringend korrigiert werden müsste, um sie zu entschärfen. In den Medien fanden sich nur vereinzelt Artikel und Kommentare, die auf solche Zusammenhänge verwiesen. Stattdessen griff der SPIEGEL lieber noch einmal zur Keule des Antiamerikanismus, als er den Titel „Kapitalverbrechen“ mit einem Ausschnitt aus einer Dollarnote illustrierte, der das Bild George Washingtons zeigt, dessen Schädel gerade von einer Kugel durchbohrt wird (Nr. 47/2008). Eine Anspielung darauf, dass in den USA die Colts so locker sitzen, dass es auch Präsidenten erwischen kann? Oder darauf, dass die „Dollarisierung“ der Welt mit Gewalt und Verbrechen verbunden war und ist?
In jedem Fall der Versuch einer Ethnisierung des Kapitals und des Kapitalverbrechens, weil es hier wieder ausschließlich mit den USA assoziiert wurde. Auch eine Ablenkung davon, dass Kapital nicht gleich Geld ist, sondern ein soziales Verhältnis anzeigt: Das zwischen Produktionsmittelbesitzern und Lohnabhängigen, die nichts zu verkaufen haben als ihre Arbeitskraft, und den Unternehmern durch ihre Leistung den Mehrwert verschaffen – ob er nun in Dollar, Pfund, Euro, Yen oder Rubel gemessen wird.
Die Titelgeschichte „Das Kapital-Verbrechen“ rekonstruierte die Krise als Krimi. Ereignisse, Handlungsabläufe und andere Indizien wurden minutiös aneinander gereiht, als ob daraus irgendwelche Erkenntnisse zu gewinnen wären, wenn es nicht darum geht, dass der Mörder immer der Gärtner ist. Solche Künste wollen gelobt sein. Folgerichtig wurde die Titelgeschichte von der Jury des renommierten Henri-Nannen-Preises als beste Dokumentation des Jahres 2008 ausgezeichnet.
Auf der Titelseite des SPIEGEL, in der dies als Hausmitteilung stolz berichtet wurde, prangte hässlich eine ausgequetschte Zitronenhälfte (Nr. 20/2009). Die Schlagzeile „Das Prinzip Gier“ machte aus der schon wie die Zitrone seit Beginn der Krise ausgepressten Verlegung ihrer Ursachen in die Psyche ein Prinzip. Der Untertitel verhielt sich dazu nur scheinbar paradox: „Warum der Kapitalismus aus seinen Fehlern nichts lernen kann.“ Denn die Antwort darauf war ja schon vorgegeben: Eben wegen der Gier.
Wer dennoch einen Artikel erwartete, der zur Sache und in die Tiefe gehen würde, hatte sich getäuscht. SPIEGEL-Autor Cordt Schnibben beschrieb nur zutreffend Situationen und Symptome, ließ gut pluralistisch Keynesianer ebenso wie Konservative zu Wort kommen, aber selbstredend keinen Marxisten. Als Abhilfe fiel ihm ein, dass man in ökologische Projekte investieren könnte und es dringend tun müsste, weil „der Weltkapitalismus auch an seine natürlichen Grenzen“ stößt: „Der grüne Kapitalismus ist nicht nur politisch korrekt, dort liegen die Märkte der Zukunft“. Die Krise als Chance also. Ansonsten sei „die ideologische Hülle der Marktwirtschaft zerstört“, sie stehe „nackt da, ein kaltes Gespenst, dem Gespött ausgeliefert“. Sollten wir Mitleid mir ihr bekommen?
Schnibbens Fazit im Vorfeld der Bundestagswahl 2009: „Den Wählern ist der unverhüllte Blick zu empfehlen, die Gewöhnung daran, dass die Krise die gewöhnliche Bewegungsform des Systems ist, dass es eine riskante Gesellschaftsordnung ist und das jeder ganz schnell zu den Verlierern zählen kann, nein, nicht jeder.“ Fürwahr ein Trost für die potenziellen Verlierer: Findet euch mit den Verhältnissen ab, die ihr dank des SPIEGEL mehr oder weniger durchschaut habt.
Wie der SPIEGEL mit dem wachsenden Bürgerprotest
umgeht
Wenn dann aber doch der Druck im Kessel steigt, die Menschen sich nicht mehr alles gefallen lassen und beginnen, ihre Sache selbst in die Hand zu nehmen, ist der SPIEGEL sofort zur Stelle, um die Ansätze der Gegenwehr zu ironisieren und abzufälschen. Am 30.8.2010 erschien der Titel: „Die Dagegen-Republik. Stuttgart 21, Atomkraft, Schulreform: Bürgeraufstand gegen die Politik“. Merke: Bürger, die beginnen, selbst Politik zu machen, sind nach dieser verdrehten und verdrehenden Logik gegen die Politik.
Illustriert war das mit der „fetten Henne“, dem in seiner ursprünglichen Gestalt aus den Zeiten des beginnenden Wirtschaftswunders stammenden Adler, der an der Stirnseite des Bundestages prangt. Dort, wo sein Herz schlagen würde, wenn er nicht aus Blech wäre, klebte eine beim Wurf zerplatzte Tomate. Rote Spritzer drumherum, so dass man auch einen Herzschuss imaginieren konnte. Ein ironisches Spiel mit dem Phantasma der linken Gewalt, das immer dann beschworen wird, wenn es darum geht, die Polizei präventiv aufzurüsten.
Die Titelgeschichte im Inneren des Heftes begann mit einem über beide Seiten gehenden Breitbandfoto von einer Demonstration gegen das Projekt Stuttgart 21. Ganz groß darin ein Transparent: „Bei Abriss. Aufstand.“ So weit, so gut. Nun hätte der SPIEGEL darüber informieren können, welche Interessen hinter dem städtebaulichen Gigantismus des Projekts stecken. Zum Beispiel darüber, dass es nicht nur um einen neuen Bahnhof geht, sondern auch um die freien Flächen, die durch die Verlegung der Gleise unter die Erde entstehen. Die können lukrativ bebaut werden und haben die Phantasie von Investoren und Stadtkämmerern geweckt. Oder er hätte darüber aufklären können, wie der kommunal- und landespolitische Filz und die Netzwerke der Entscheider und Profiteure bei diesem Unternehmen geknüpft sind.
Nichts davon war in dem Artikel zu finden. Auf welcher Seite der SPIEGEL bei dem Konflikt um Stuttgart 21 steht, wurde schon durch dessen Überschrift deutlich: „Volk der Widerborste“. Widerborste gelten als schwierige, unangenehme Menschen. Oft sind sie in ihrer Kindheit geschädigt worden und neigen aufgrund ihrer frühen Erfahrungen von Gewalt und Unterdrückung dazu, aus Prinzip dagegen zu sein, auch wenn es ihnen selbst und anderen nichts bringt.
Der SPIEGEL ging aber in seiner subtilen Diffamierung des Bürgerprotests noch einen Schritt weiter: „Das ist gerade die Hauptkampflinie im Land: Bürger gegen Politiker. Auf den ersten Blick ist das eine gute Entwicklung. Die Demokratie lebt, die Menschen mischen sich ein, machen mit. Aber das heißt nicht, dass eine bessere Gesellschaft dabei herauskommt. Viele Proteste richten sich gegen Projekte in den Bereichen Verkehr und Energie und damit auch gegen eine Modernisierung des Landes.“
Es sei die Frage, ob sich beim Bürgerprotest der Staatsbürger zeige, der das Allgemeinwohl im Blick hat, oder „ist es das Individuum, der Egoist, der es nicht ertragen kann, wenn sich seine saturierten Lebensverhältnisse zu Gunsten der Gesellschaft ändern sollen? Dann wäre das kein Fortschritt, dann würde das gelten, was Franz Josef Strauß zu sagen pflegte: vox populi – vox Rindvieh“.
Dass der SPIEGEL hier ausgerechnet Franz Josef Strauß mit seiner die „dumpfe Masse“, die er ständig ansprach und agitierte, verachtenden Aussage zitierte, ist kein Zufall. Strauß war der wohl korrupteste und gefährlichste Politiker, den die alte Bundesrepublik hervorgebracht hat. Er hofierte nicht nur Faschisten wie den chilenischen Diktator Pinochet, er war an wirtschaftskriminellen Machenschaften in großem Stil beteiligt, was ihm ein Millionenvermögen einbrachte. Ihn zum Kronzeugen gegen bürgerschaftliches Engagement zu machen, zeigt, wie tief der SPIEGEL seit den Zeiten gesunken ist, in denen er die Affären des CSU-Politikers aufgedeckt und angeprangert hat.
In dem Artikel wurden auch Fakten genannt wie die erfreuliche Entwicklung, dass Bürgerbegehren und Volksbegehren von Jahr zu Jahr zunehmen. Der Verein „Mehr Demokratie“ wurde vorgestellt, der sich für eine Erweiterung der Möglichkeiten direkter Demokratie einsetzt. Über den Trend zur Aufstellung von „Bürgerhaushalten“ in Städten und Gemeinden wurde sachlich berichtet.
Aber die Tendenz des Ganzen kam spätestens an der Stelle wieder deutlich zum Vorschein, wo entgegen aller Logik behauptet wurde, dass der wachsende Protest „auch ein Zeichen von nachlassendem Zusammenhang“ sei. Dabei wurde auf die abnehmende Beteiligung an Vereinen, Gewerkschaften und Parteien verwiesen. Dass in dieser Situation der Bürgerprotest einen neuen Zusammenhalt gegen die Vereinzelung und die Unterwerfung unter den „stummen Zwang“ der Verhältnisse stiften könnte, kam den Autoren des Artikels nicht in den Sinn.
Ihre Sorge: „Damit könnte auch die Bereitschaft sinken, ein Opfer für die Gesellschaft zu bringen“. Man muss sich das auf der Zunge zergehen lassen: Nach all den Notopfern der arbeitenden oder unverschuldet arbeitslosen Bevölkerung für die Sozialisierung der Verluste, die durch die Krise entstanden sind, sorgt sich der SPIEGEL darum, dass die Opferbereitschaft durch Protestaktionen nachlassen könnte.
Fazit
Mag sein, dass diese Anmerkungen dem SPIEGEL nicht ganz gerecht geworden sind. Manchmal finden sich auch gute und wichtige Popularisierungen wissenschaftlicher Erkenntnisse in seinen Heften. So zum Beispiel, wenn die Ergebnisse neurobiologischer Forschung dahingehend zusammengefasst werden, dass die These einer einfachen genetischen Vererbung von menschlichen Eigenschaften unhaltbar geworden sei. Manchmal erfüllt die Zeitschrift wie kein anderes Medium in Deutschland ihre Whistleblower-Funktion. Manchmal sind die Gespräche und Essays lesenswert, die sie bringt. Aber diese Goldkörner wiegen nicht die Massen von Geröll auf, aus denen sie aufblitzen.
Nehmen wir nur den Titel „Circus Krone. Vom Sinn und Wahnsinn der britischen Monarchie“ (Nr. 16/2011). Seitenlange Klatschgeschichten und eine Charakterisierung des Thronfolgers Charles als „exzentrischer Brüter mit esoterischen Ticks“. Da lobt man sich das Magazin von Greenpeace, in dem der „grüne Prinz“ und seine Öko-Projekte mit Sympathie portraitiert werden (Nr. 2/2011).
Auf den SPIEGEL trifft zu, was Peter Hacks über die Medien gesagt hat: „Die Medien lügen mit wahren Bildern und Geräuschen. Daß sie lügen, das ist ja bekannt und ein Gemeinplatz. Alle wissen, daß die Medien lügen, aber alle sind entschlossen, das, was sie wissen, nicht zu glauben: sie fahren fort, sich nach den Medien zu richten, so als lögen die nicht… Wie Motten in ihren beliebigen Bahnen eine Lampe umschwirren, umschwirren die Wahrheiten, Teilwahrheiten und Nichtigkeiten der Medien in einem ungeordneten Für und Wider die Wirklichkeit und tauchen sie in ein unbestimmtes Licht. Hinter dem Schleier der Medien-Maja hört, was ist, zu sein auf; die Dinge verlieren ihre stoffliche Beschaffenheit…
Aber tatsächlich ist es keinesfalls das Nichts, das hinter dem Schein steckt. Es ist nach wie vor die Welt, und sie wird hinter dem Schein versteckt gehalten.“ („Unter den Medien schweigen die Musen“, 1989/90)