Diskussion - Kritik - Zuschriften

Zu den Zuschriften von Dieter Boris und Peter Römer

Antwort auf die kritischen Äußerungen zu meinem Artikel „Was machen wir mit dem Klassenbegriff?"

Dezember 2010

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Vorab möchte ich noch einmal kurz wiederholen, worum es mir in meinem Artikel „Was machen wir mit dem Klassenbegriff?“ ging. Während der letzten Zeit habe ich den Eindruck gewonnen, dass die soziale Polarisierung der Gesellschaft innerhalb der Linken hier und da Illusionen über eine „Neubildung der Klassen“ und damit auch über die Konstituierung eines neuen politischen Klassensubjekts auslöst. Anhaltspunkte für diesen Eindruck fand ich unter anderem auch in Beiträgen renommierter linker Autoren, auf die ich dann in meinem Artikel eingegangen bin. Dort habe ich mich bemüht, meine These zu begründen und zu belegen, warum die gegenwärtige Krise des Kapitalismus zwar zu einer immer tieferen Spaltung der Gesellschaft führt, dass aber aus den damit einhergehenden Prozessen sozialer Fragmentierung, Prekarisierung, Verarmung und Exklusion zumindest für absehbare Zeit nicht auf eine Rekonstruktion sozialer Klassen, geschweige denn auf das geschichtliche Wiederauftauchen eines zur Überwindung des Kapitalismus berufenen Klassensubjekts geschlossen werden darf.

Diese These ist auf Kritik gestoßen. Im Folgenden möchte ich mit einigen Punkten auseinandersetzen, die sich in den Repliken von Dieter Boris (DB)[2] und Peter Römer (PR)[3] finden.

1. In seinem sachlich gehaltvollen, sehr differenziert argumentierenden und zu einem gründlichen Durchdenken der eigenen Argumente anregenden Beitrag wirft mir DB vor, die „sozio-ökonomische Dimension“ des Klassenbegriffs „weitgehend ausgeblendet“ zu haben und der zentralen Bedeutung kapitalistischer Mehrarbeit und Ausbeutung nicht die notwendige Aufmerksamkeit zukommen zu lassen. Das kann ich nicht nachvollziehen, weil ich in diesem Punkt keinen Gegensatz zwischen uns entdecken kann. Wie DB hege auch ich nicht den geringsten Zweifel, dass der heutige Kapitalismus auf dem Privateigentum an Produktionsmitten, dem Warencharakter der Arbeitskraft und der Aneignung unbezahlter Mehrarbeit, also auf Ausbeutung, beruht.

Der eigentliche Dissens zwischen uns liegt also nicht hier, sondern vielmehr darin, dass DB annimmt, dass Kapitalismus immer mit der Reproduktion sozialer Klassen einhergeht, oder anders formuliert, dass sich Kapitalismus sozialstrukturell immer in der Form sozialer Klassen konstituieren wird und deren Existenz immer schon, unabhängig von allen empirischen Umbrüchen, Verschiebungen und Neuformierungen, vorausgesetzt werden kann. Lässt sich überhaupt eine ökonomisch definierte Klasse vorstellen, die sich dann, gleichsam in einem zweiten Schritt, zu einer sozialen Klasse wandelt? Das Problem, das damit aufgeworfen wird, erinnert an die kritische Auseinandersetzung von Nicos Poulantzas mit der ja auch die hier geführte Diskussion latent beeinflussenden Unterscheidung zwischen „Klasse an sich“ und „Klasse für sich“. Poulantzas hatte seinerzeit darauf hingewiesen, dass es ein idealistischer Fehlschluss sei, von einer ökonomisch bestimmten Klasse „a priori“ auszugehen, die sich dann später auf der politischen und ideologischen Ebene in eine „Klasse für sich“ transformiere (vgl. Poulantzas 1975: insbesondere 55 - 96).

Was – über ökonomische Merkmale hinaus – eine soziale Klasse ist, bleibt bei DB offen. Damit bekommt seine Argumentation contra voluntatem gelegentlich jenen ökonomistischen Bias, der schon in den sechziger und siebziger Jahren die Grenzen marxistischer Klassenanalysen, wie etwa der IMSF-Studie „Klassen- und Sozialstruktur der BRD“, sichtbar gemacht hat. Auf der Grundlage dieser und anderer marxistisch inspirierter Studien ließ sich allerdings die dann tatsächlich folgende sozialstrukturelle Entwicklung nur sehr bedingt erklären. Eine größere Erklärungskraft und prognostische Leistungsfähigkeit wäre nur dann möglich gewesen, wenn der Klassenbegriff nicht nur ökonomisch, sondern auch soziologisch – und das heißt unter bewusster Einbeziehung der „relativen Autonomie des Sozialen“, also des sozialen Habitus, der sozialen Milieus und Lebensstile, der Interaktionsformen, der Konsumgewohnheiten, kultureller Standards, Deutungsmuster und Wertorientierungen – konzipiert und in der empirischen Forschung entsprechend „operationalisiert“ worden wäre.

DB hält zwar am Klassenbegriff fest, enthält sich aber einer Definition sozialer Klassen, und er verliert auch kein Wort darüber, von welchen Klassen wir heute in Deutschland und anderen westlichen Ländern auszugehen hätten, wer eventuell zu dieser oder jener Klasse gehört und wer nicht, ob wir es noch mit „der Arbeiterklasse“ zu tun haben oder ob dieser Begriff überholt ist. Stattdessen zieht er sich auf die Höhen der Abstraktion zurück, um von dort skeptisch auf die mir zugeschriebenen „empiristischen“ Zweifel an der Aktualität des Klassenbegriffs herabzublicken. Aber kann man von einer Klasse oder von Klassen sprechen, wenn es sich nicht gleichzeitig um eine Klasse (oder Klassen) sowohl im ökonomischen als auch sozialen Sinn handelt?

2. Ein Klassenbegriff, der mehr sein will als ein Konstrukt der politischen Ökonomie oder eine ontologisierte philosophische Kategorie (Letzteres trifft allerdings nicht auf DB, sondern auf PR zu), darf den Zusammenhang zwischen ökonomischen Merkmalen, kollektiver sozialer Kohärenz und objektiver und subjektiver Differenz im Verhältnis zu anderen Klassen nicht auflösen, will er zur Analyse realer gesellschaftlicher Prozesse, Gegensätze, Kämpfe und Bewusstseinsformen etwas beitragen. Anderenfalls degeneriert er tatsächlich zu jener „Klasse(n) auf dem Papier“ (R. Kreckel), die DB selbst erwähnt. Wenn aber der eben bezeichnete Zusammenhang in der Wirklichkeit nicht mehr gegeben ist, weil, wie ich in meinem Artikel zu zeigen versucht habe, die konkreten sozialen Formen heutiger kapitalistischer Vergesellschaftung eine Erosion objektiver und subjektiver klassenbezogener Kohärenz (Letzteres ist nicht dasselbe wie „Klassenbewusstsein“), Egalität und Kollektivität auslösen und sich in immer weiter ausdifferenzierten Phänomenen sozialer Heterogenität und Individualisierung ausdrücken, dann halte ich es allerdings für theoretischen Konservatismus und ein wenig produktives Sicherheitsdenken, sich weiterhin an den Begriff der Klasse zu klammern.

Man kann die damit verbundenen Probleme an der Argumentation von DB verdeutlichen. Wenn, wie er zutreffend feststellt, auch der heutige Kapitalismus auf unbezahlter Mehrarbeit beruht, dann folgt daraus logischer Weise, dass diese Mehrarbeit von der Gesamtheit der Lohnarbeiter/Lohnarbeiterinnen (bzw. Lohnabhängigen) geleistet wird. Aber bildet die Kategorie der Lohnabhängigen deshalb schon eine soziale Klasse? Ich denke, dass man diese Frage heute in Anbetracht der enormen inneren Heterogenität der Gesamtheit der Lohnabhängigen nur um den Preis eines weltfremden Formalismus bejahen könnte. Einen solchen Formalismus kann ich mir im Blick auf DB allerdings nicht vorstellen. Wenn aber die Gesamtheit der Lohnabhängigen nicht als soziale Klasse bezeichnet werden kann, von welchen Klassen könnte dann in modernen kapitalistischen Gesellschaften die Rede sein? Und was würde sie – über das Kriterium der Lohnarbeit hinaus – als Klassen definieren? Es scheint mir kein Zufall zu sein , dass auch DB es vermeidet, heute von einer „Arbeiterklasse“ zu sprechen, ist ihm doch die durch moderne Lohnarbeit, ihre unterschiedlichen Gegenstände, technischen Bedingungen, Arbeitskrafttypen, Organisationsformen usw. induzierte sozialstrukturelle Vielschichtigkeit und Heterogenität durchaus bewusst. Aber er widerruft den Begriff der Arbeiterklasse hinsichtlich des heutigen Kapitalismus auch wiederum nicht ausdrücklich. Und wenn DB die von ihm zitierte These von Hans-Günter Thien, dass die je spezifische Einbeziehung in den Produktions- und Reproduktionsprozess unterschiedliche individuelle Handlungsorientierungen hervorbringt (vgl. Thien 2010:15), für sein eigenes Plädoyer für eine Beibehaltung des Klassenbegriffs reklamiert, dann kann man diese These von Thien mit mindestens ebenso großer Berechtigung auch für eine genau entgegen gesetzte Schlussfolgerung in Anspruch nehmen.

3. Meinen Zweifeln an der Brauchbarkeit des Klassenbegriffs als einer die gegenwärtige kapitalistische Gesellschaft in der Perspektive des Handelns sozialer Akteure angemessen erklärenden Kategorie begegnet DB nun mit dem Hinweis darauf, dass es „Fragmentierung, Atomisierung, teilweise Entsolidarisierung“ in der „Geschichte des Kapitalismus und der Arbeiterbewegung“, also auch der Arbeiterklasse, schon immer gegeben habe. Das ist zwar durchaus zutreffend, aber dabei muss berücksichtigt werden, dass die geschichtlich zu beobachtenden sozialen Differenzierungen und Spannungen innerhalb der Arbeiterklasse schon die Existenz eines breiten, relativ homogenen Kerns dieser Klasse voraussetzten und nur in dieser Relationalität in ihrer spezifischen Bedeutung verstanden werden können. Bis weit in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg hinein zeichnete sich die Arbeiterklasse durch ein außerordentlich hohes Maß an sozialökonomischer und kultureller Einheitlichkeit aus, die ihre Identität als „alltagsweltliche Gesinnungsgemeinschaft“ (Mooser 1984: 184) gewährleistete. Sie war massenhaft gekennzeichnet durch ein hohes Maß an sozialer Selbstrekrutierung, „angelernte“ oder „gelernte“ handwerkliche, industrielle oder dienstleistungsbezogene Lohnarbeit (Letzteres gilt vor allem für „einfache „ Angestellte in einer Arbeiterklassenlage), eine vergleichsweise geringe interne Lohnspreizung, eine gleichartige Sozialisation, homogenes Bildungsniveau (fast ausnahmslos achtjährige Volksschule, dreijährige Lehre oder Beginn einer ungelernten bzw. angelernten Tätigkeit nach dem Schulabschluss), lebenslängliches Verbleiben in dem einmal ausgeübten Beruf (oft über mehrere Generationen), einheitliches Konsumniveau, charakteristischer Wohnungsstandard usw. usw. (vgl. z.B. Popitz u.a. 1957; Deppe 1971; Braverman 1977; Wehler 1979; Zwahr 1980; Verret 1982; Kocka 1983; Kuczynski 1983; Mooser 1984). In gewisser Weise wies die traditionelle Klassenstruktur des Kapitalismus insgesamt zumindest partiell durchaus Züge dessen auf, was in anderen Gesellschaften die Struktur von Kasten kennzeichnet.

Die dennoch durchaus ebenfalls vorhandenen inneren Differenzierungen der beispielsweise nach weltanschaulichen und religiösen „proletarischen Milieus“, Regionen, Branchen oder betrieblichem Status konfrontierten die soziale Identität und Handlungsfähigkeit der Arbeiterklasse, namentlich die Gewerkschaften, Arbeiterparteien und kulturellen proletarischen Netzwerke, immer wieder mit neuen Herausforderungen, aber diese wurden überformt und inkludiert durch die für die Klasse als Ganzes konstitutiven Momente ökonomischer, sozialer und kultureller Egalität und Kollektivität, durch die sie sich gleichzeitig von anderen Klassen und Schichten objektiv und subjektiv eindeutig unterschieden und abgrenzten.

Genau dies aber hat sich heute grundlegend gewandelt, weshalb der Einwand von DB, dass die Klassen im Kapitalismus schon immer durch soziale Differenzierung und Fraktionierung geprägt worden seien und deshalb kein Grund bestehe, heute auf den Klassenbegriff zu verzichten, nicht überzeugen kann.

4. Neben den zweifellos vorhandenen Differenzen gibt es, so wenigstens sehe ich es, nicht nur punktuelle, sondern auch wesentliche Gemeinsamkeiten zwischen DB und mir. Sie liegen vor allem darin, dass wir beide eine vorrangige Aufgabe einer kritischen Sozialstrukturanalyse darin sehen, einen methodisch adäquaten Zugang zu den komplexen Zusammenhängen zwischen kapitalistischer Vergesellschaftung und sozialstruktureller Entwicklung zu finden. Auch darin, dass dies zu dem Zweck geschehen soll, um, wie DB sagt, zu „aussagekräftigen und womöglich handlungsleitenden Ergebnissen (zu) kommen“, stimmen wir überein. Dabei halte ich es, wie schon DB in seiner Replik vorgeschlagen hat, vor allem für lohnend, Konzepte wie das der „sozialen Milieus“ (Michael Vester) noch stringenter als bisher mit einer systematischen Analyse heutiger kapitalistischer Arbeits- und Reproduktionsbedingungen (aber auch mit den Geschlechterverhältnissen und ethnischen Zugehörigkeiten) in Beziehung zu setzen. Im Ergebnis solcher – auch von DB für notwendig erachteter – sowohl theoretisch als auch empirisch ausgerichteter Forschungen mag sich dann zeigen, ob die gewonnenen Erkenntnisse und Befunde eher eine Beibehaltung des Klassenbegriffs rechtfertigen oder aber dessen kritische Revision erfordern.

5. PR weist in seiner Replik „Es gibt sie noch, die Klassen“ zu Recht darauf hin, dass Marx im 18. Brumaire die Parzellenbauern als die „zahlreichste Klasse der französischen Gesellschaft“ (Marx 1965: 123) bezeichnet hat. Aber diese Feststellung von Marx bezieht sich darauf, dass die Parzellenbauern nur in ökonomischer Hinsicht eine Klasse bilden, weil sie aufgrund ihrer Produktions- und Austauschbedingungen und ihrer Isoliertheit strukturell nicht in der Lage sind, sich als soziale Klasse zu konstituieren, die, verbunden durch eine gemeinsame Lebensweise, kollektive Kultur und Organisierung der klassenspezifischen Interessen, handelnd und verändernd in gesellschaftliche Strukturen und Prozesse einzugreifen vermag. Darin unterscheiden sich die Parzellenbauern grundlegend vom Proletariat. Genau das aber ist der Punkt, um den es mir geht, nämlich um die Frage, welche gesellschaftlichen Voraussetzungen heute gegeben sein müssen, damit man von einer sozialen Klasse im Sinne eines bestimmte gesellschaftliche Interessen und Ziele verfolgenden Akteurs sprechen kann. Schon Anfang der achtziger Jahre hatte der britische Soziologe David Lockwood im Zusammenhang der Diskussion über Klassen das Fehlen einer marxistischen Handlungstheorie moniert, worin er die Ursache dafür sah, dass der marxistische Diskurs über die Arbeiterklasse nicht in der Lage war, die Analyse der Klassenstruktur mit der des „Feldes des Klassenhandelns“ zu verknüpfen (vgl. Lockwood 1985: 5 - 33).

Die bloße Tatsache, dass Menschengruppen ökonomisch gemeinsame Kategorien und nur insofern eine „Klasse“ bilden, sagt über ihre Bedeutung für die gesellschaftliche und politische Entwicklung nichts aus. Die frühere Arbeiterklasse konnte, ungeachtet aller klasseninternen konkreten Defizite und Widersprüche, nur deshalb eine geschichtliche Rolle als „Kollektivsubjekt“ spielen, weil sich ihr soziales Dasein nicht auf ökonomische Merkmale beschränkte, sondern weil ihre Arbeits- und Reproduktionsbedingungen, Lebensweise, kulturelle Präferenzen, Klassenmentalität, gewerkschaftliche und politische Organisierung usw. eine zwar in sich differenzierte, aber mit anderen sozialen Klassen wie dem Kleinbürgertum, den Bauern, dem Bildungsbürgertum, dem Adel und der Großbourgeoisie scharf kontrastierende Einheit darstellten. Dem sozialen Dasein als Klasse war die objektive und subjektive Differenz zu anderen Klassen strukturell eingeschrieben. Ohne die spezifisch sozialen, kulturellen und politischen Voraussetzungen der Klassenexistenz wäre die Geschichte von Klassenkämpfen im Kapitalismus nicht erklärbar. Da, wie ich in meinem Artikel nachzuweisen versucht habe, die spezifisch sozialen, kulturellen und politischen Bedingungen, die für eine Klassenbildung im Sinne einer sozialen Klasse, namentlich im Blick auf die Gesamtheit der Lohnanhängigen, wegen der konkreten Veränderungen kapitalistischer Vergesellschaftung (also beispielsweise wegen der Modernisierung, Tertiarisierung, Flexibilisierung und Subjektivierung der Arbeit, neue „Arbeitskrafttypen“ usw.) gegenwärtig und wie ich vermute auch längerfristig empirisch nicht gegeben sein werden, wäre es eher ein Akt des Glaubens als das Ergebnis nüchterner sozialwissenschaftlicher Diagnose, die Hoffnungen auf weiterreichende gesellschaftliche Reformen und Veränderungen an eine „Arbeiterklasse“ oder „Lohnabhängigenklasse“ zu delegieren, wozu PR seinerseits jedoch geneigt zu sein scheint.

6. Es ist erstaunlich, mit welch empirischen Unbefangenheit PR auf einer „Klasse der Lohnabhängigen“ beharrt. Er verwechselt hier offensichtlich die Gesamtheit der Lohnabhängigen, die – darin stimmen wir überein – die vom Kapital angeeignete unbezahlte Mehrarbeit verrichtet, mit dem Begriff der sozialen Klasse. In meinem Artikel habe ich konkrete Beispiele angeführt, warum es einer sich jeder Wirklichkeitsnähe entledigenden Abstraktion gleichkäme, wollte man, um es noch einmal zu wiederholen, so unterschiedliche Gruppen wie lohnabhängige Klinikärzte, Amtsrichterinnen, Diplominformatiker und Gruppenleiter in der Industrie, Elektroniker, teilzeitbeschäftigte Sprechstundenhilfen, Bauarbeiter, Kfz-Mechaniker, Hilfskräfte in der Gastronomie ausnahmslos einer gemeinsamen sozialen Klasse subsumieren. Gerade das aber wäre die Konsequenz des auf Empirie verzichtenden Insistierens von PR auf einer „Klasse der Lohnabhängigen“. In dieselbe problematische Richtung gehen weitere Behauptungen von PR. Zum Beispiel schreibt er: „Nicht lohnabhängig ist also derjenige, der auch ohne ein Arbeitsentgelt angemessen leben kann, der ‚Privatier’ ist ... der also über ausreichend Privateigentum verfügt, der also Kapitaleigner ist“. „Nicht lohnabhängig“ kann aber, was PR offensichtlich entgeht, durchaus auch sein, wer unter Umständen keineswegs „angemessen“ lebt, etwa „Alleindienstleistende“ mit prekärem Erwerbsstatus, Selbständige an der Armutsgrenze, Kleinhändler, denen ein neuer Supermarkt vor die Nase gesetzt wird usw. Sie alle sind nicht lohnabhängig, aber es wäre abwegig, sie der „Kapitalistenklasse“ zuzuschlagen, was PR allerdings nahe legt, wenn er in kategorialer Rigorosität die Existenz von nur zwei Klassen, nämlich der „Klasse der Lohnabhängigen“ und „der Kapitalistenklasse“ postuliert. Damit fällt er jedoch hinter den heutigen Stand auch der marxistisch orientierten Klassen- und Sozialstrukturanalyse weit zurück.

PR polemisiert außerdem heftig gegen meinen Vorschlag, in der heutigen kapitalistischen Gesellschaft von „herrschenden Besitz- und Machtgruppen“ und nicht von „Kapitalistenklasse“ zu sprechen. Die Zugehörigkeit zu diesen Gruppen ist empirisch zweifellos ein nicht einfaches Problem, das kann man PR ohne weiteres konzedieren. Dass er dabei behauptet, ich habe auf der Ebene gesellschaftlicher Herrschaft nur einen „wild zusammengewürfelten Haufen von Kapitaleigentümern und von – wie sie sich selbst gern bezeichnen lassen – Leistungs- und Verantwortungsträgern“ entdeckt, ist schon eine arge Entstellung dessen, was ich tatsächlich geschrieben habe. Wichtiger erscheint mir hier jedoch, dass PR die gesellschaftliche Herrschaft ausübenden Gruppen auf die „Kapitalistenklasse“ beschränkt. Darin muss ihm jedoch widersprochen werden, denn die gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnisse erschöpfen sich nicht, wie PR anzunehmen scheint, im Verhältnis von Lohnarbeit und Kapital, sondern umfassen auch politische, ideologische und symbolisch-kulturelle Herrschaftsverhältnisse, die zwar mit dem Kapitalverhältnis verbunden sind und zu seiner Aufrechterhaltung beitragen, jedoch gleichzeitig eine jeweils spezifische, nicht ausschließlich in ökonomischen Zwecken aufgehende Funktionslogik aufweisen. Wenn PR herrschende Klasse mit „Kapitalistenklasse“ gleichsetzt, wäre zu fragen, wie er zum Beispiel Gruppen wie das Spitzenpersonal des Staatsapparats, die ja nicht unbedingt gleichzeitig Kapitalisten sind, aber für die Reproduktion des gesellschaftlichen Gesamtsystems unerlässlich sind, sozialstrukturell verorten würde. Für Marx wenigstens, dessen Autorität PR wiederholt gegen mich in Anschlag bringt, bestand die herrschende Klasse in Frankreich (zum Zeitpunkt des Staatsstreichs von Napoleon III.) nicht nur aus Kapitalisten, sondern umfasste unter anderem auch „die Großwürdenträger der Armee, der Universität, der Kirche, des Barreaus (des Advokatenstandes, L.P.), der Akademie und der Presse“ (Marx 1965: 31). Diese Differenzierung der herrschenden Klasse hat nichts an Aktualität verloren, weil sich auch heute gesellschaftliche Herrschaft auf unterschiedliche Bereiche und Dimension erstreckt und ihre Aufrechterhaltung deshalb entsprechender Akteursgruppen bedarf, welche die dafür jeweils erforderlichen Funktionen ausüben.

7. Dass Kapitalismus ein auf der Ausbeutung von Mensch und Natur beruhendes zerstörerisches System ist, das alle Grundlagen und Bedingungen des natürlichen und sozialen Lebens bedroht, darüber brauchen PR und ich nicht zu streiten, obwohl er am Ende seiner Replik den Eindruck erweckt, als verharmlose ich die Widersprüche und Risiken des Kapitalismus und glaube sogar, so PR wörtlich, an dessen schon errungenen „Endsieg“. Das erinnert mich an die ebenso verbissenen wie sterilen ideologischen Grabenkämpfe vergangener Jahrzehnte innerhalb linker Gruppen, wo es zu den beliebtesten Ritualen gehörte, den Vertretern der jeweils anderen Richtung vorzuwerfen, sie seien Verräter der Arbeiterklasse und Agenten des Kapitals. Muss man das im Jahr 2010 unbedingt wiederholen? Ist es nicht wissenschaftlich geboten und politisch ungleich sinnvoller, sich auf den eigentlichen Gegenstand der Diskussion zu konzentrieren? Und der besteht doch hier in der Frage, ob die Sozialstruktur moderner kapitalistischer Gesellschaften weiterhin angemessen mit dem Klassenbegriff beschrieben werden kann, ob er revidiert werden muss oder eine neue Begrifflichkeit und neue theoretische und empirische Zugänge notwendig sind, um die sozialstrukturellen Prozesse der Gegenwart analytisch angemessen erfassen und für politische Überlegungen im Spektrum der Linken nutzbar machen zu können. Dafür ist es aber unerlässlich, die umfangreiche und kontroverse soziologische Diskussion über sozialstrukturellen Wandel zur Kenntnis zu nehmen. PR erweckt, sei es aus tatsächlicher Ahnungslosigkeit, sei es aus ideologischer Voreingenommenheit – beides wäre wissenschaftlich gesehen gleichermaßen fatal – den Eindruck, als gebe es eine solche Diskussion überhaupt nicht.

Literatur

Braverman, Harry, 1977: Die Arbeit im modernen Produktionsprozeß, Frankfurt/New York

Deppe, Frank, 1971: Das Bewußtsein der Arbeiter. Studien zur Soziologie des Arbeiterbewußtseins, Köln

Kocka, Jürgen, 1983: Lohnarbeit und Klassenbildung. Arbeiter und Arbeiterbewegung in Deutschland 1800 – 1875, Berlin

Kuczynski, Jürgen, 1983: Geschichte des Alltags des deutschen Volkes, Studien 5: 1918 – 1945, Köln

Lockwood, David, 1985: Das schwächste Glied in der Kette. Einige Anmerkungen zur marxistischen Handlungstheorie. In: Prokla. Ztschr. f. politische Ökonomie und sozialistische Politik, 15.Jg., Nr.58, S.3 – 33

Marx, Karl, 1965: Der 18. Brumaire des Louis Bonaparte. Nachwort von Herbert Marcuse, Frankfurt am Main

Mooser, Josef, 1984: Arbeiterleben in Deutschland 1900-1970. Klassenlagen, Kultur und Politik, Frankfurt am Main

Popitz, Heinrich, Bahrdt, Hans Paul, Jüres, Ernst August, Kesting , Hanno, 1957: Das Gesellschaftsbild des Arbeiters. Soziologische Untersuchungen in der Hüttenindustrie, Tübingen

Poulantzas, Nicos, 1975: Politische Macht und gesellschaftliche Klassen, 2. Aufl., Frankfurt am Main.

Thien, Hans-Günter, 2010: Einleitung zu ders. (Hrsg.): Klassen im Postfordismus, Münster

Verret, Michel, 1982: L'ouvrier franVais. Le travail ouvrier, Paris

Wehler, Hans-Ulrich (Hg.), 1979: Klassen in der europäischen Sozialgeschichte, Göttingen

Zwahr, Hartmut, 1980: Proletariat und Bourgeoisie in Deutschland. Studien zur Klassendialektik, Köln

[1] Lothar Peter, Was machen wir mit dem Klassenbegriff? In: Z 81, März 2010, S. 133-148.

[2] Dieter Boris, Was machen wir mit dem Klassenbegriff? Replik auf Lothar Peter, in: Z 82, Juni 2010, S. 146-150.

[3] Peter Römer, Aber gewiss doch: Es gibt sie noch, die Klassen, in: Z 82, Juni 2010, S. 151-155.