Beda Erlinghagen, Von „wildgewordenem Kleinbürgertum“ und „Weltherrschaftsplänen“. Die VR China im Spiegel der DDR-Presse (1966-1976). PapyRossa Verlag Köln 2009, 222 S., 18,50 Euro
Erlinghagen teilt dem Leser bereits im Buchtitel mit, zu welchem Ergebnis er in seiner Untersuchung über die offizielle Einschätzung der „Kulturrevolution“ Mao Zedongs in der damaligen DDR gekommen ist. Es soll sich herausstellen, dass diese Einschätzung nicht sachlich-wissenschaftlich begründet, sondern ideologisch motiviert ist. Die Veröffentlichung ist Teil der tradierten westlichen Pro-Mao-Literatur, die gegen den frühen Sozialismus und die Reform- und Öffnungspolitik der KP Chinas Front macht und das Sozialismus-Modell und die damit verbundene „Kulturrevolution“ Mao Zedongs als den revolutionären Weg zum Fortschritt der Menschheit propagiert.
Der Autor versteht die vorliegende Veröffentlichung als Beitrag zur wissenschaftlichen Erforschung der Beziehungen zwischen der DDR und der VR China. Herausgearbeitet werden sollten u. a. das damals in der DDR verbreitete Bild vom „kulturrevolutionären“ China, der Zusammenhang zwischen den Auseinandersetzungen DDR/China und in der internationalen kommunistischen Bewegung, und die Überlegenheit des Sozialismus-Modells Mao Zedongs gegenüber dem Grundmodell des frühen Sozialismus. Das Ganze sollte schließlich auch ein Beitrag zur Mediengeschichte werden.
Die Arbeit beruht vornehmlich auf der Auswertung von fünf DDR-Periodika: die Tageszeitung der SED Neues Deutschland, das theoretische Organ der SED Einheit, die Fachzeitschrift Deutsche Außenpolitik und die interne Reihe Aktuelle China-Information1. Um zu brauchbaren Aussagen zu kommen, wurden darüber hinaus in einem breiten Umfang weitere Quellen hinzugezogen.
Das Buch gliedert sich neben Einleitung, einer zusammenfassenden Darstellung der Beziehungen beider Länder bis 1966, einem kurzen Ausblick auf die Beziehungen beider Länder nach dem Tode Maos bis 1989/90, den Schlussfolgerungen und einem Nachwort in zwei Abschnitte, die eigentlicher Gegenstand der Untersuchung sind – das Kapitel „VR China im Spiegel der DDR-Presse 1966-1969“ und das gleichnamige Kapitel für den Zeitraum 1969 bis 1976. Ungewöhnlich ist dabei das Verhältnis von 63 Seiten Analyse (ohne Fußnoten) und 24 Seiten Angabe von Quellenliteratur. Im Nachwort, das erst zur Veröffentlichung des Buches verfasst worden ist, werden die Untersuchungsergebnisse unter besonderer Akzentuierung der Problematik „Kulturrevolution“ nochmals verallgemeinert dargestellt.
Der Leser muss sich auf zwei Ebenen mit den Ausführungen Erlinghagens auseinandersetzen. Das betrifft zum einen die Einschätzung der Entwicklung der VR China und zum anderen den Teil der Analyse, der mit der Widerspiegelung der „kulturrevolutionären“ Entwicklung in der Presse der DDR befasst ist. Klarheit auf der ersten Ebene gibt gewissermaßen den Kompass in die Hand, um die Wertung der DDR-Presse durch den Autor richtig einsortieren und erklären zu können.
Erlinghagen ordnet sein Buch einem höheren Anliegen unter. Im „Nachwort“ lesen wir: „Der Ausgangspunkt meiner Kritik ist der einer Politik, die das Ziel der Emanzipation der Menschheit zum Inhalt hat.“ Diese Politik müsse die „Menschen zum jeweils gegebenen Zeitpunkt so weit wie möglich und so umfassend wie möglich in die Fragen und Probleme sozialer Befreiung einbeziehen“ „und sie befähigen, zunehmend selbständig und bewusst zu entscheiden und auf dieser Basis die Gesellschaft weiter zu entwickeln“ (109). Als beispielhaft für eine solche Politik versteht Erlinghagen nun Maos „Kulturrevolution“. Sie ist für ihn eine „bahnbrechende“ und „umfassende Revolution“, die „buchstäblich Hunderte Millionen von Menschen in beispielloser Weise in politische Auseinandersetzungen ein(bezogen)“ und „ganz neue Formen gesellschaftlicher Partizipation“ geschaffen hätte (112). Ihre positiven wie negativen Erfahrungen würden „wesentliche Lehren für ein zukunftsfähiges emanzipatorisches Projekt“ vermitteln (114).
Die DDR-Darstellung der Geschehnisse in China von 1966 bis 1976 misst der Autor an zwei Kriterien, die für ihn unanfechtbar sind:
- das Sozialismus-Modell Mao Zedongs, für ihn als Alternative zum sowjetischen Modell durch die entscheidende Rolle geprägt, die der weiteren „Revolutionierung“ der Produktionsverhältnisse, des Überbaus und der „bewussten Aktivität der Menschen“ beigemessen wurde (26) und
- die „Kulturrevolution“ Maos im Verständnis einer „radikale(n) soziale(n) Transformation“, die nach Meinung des Autors „notwendigerweise nicht ohne erhebliche Opfer zu erreichen“ sei (111).
Was macht das Wesen dieses Sozialismus aus? Er wurzelte vornehmlich in der jahrtausende alten Ackerbaugesellschaft Chinas und hatte eine Art bäuerlich-egalitären Charakter, der in der ursprünglichen Gestalt der Volkskommune (1958) wie anhand der Weisung Maos an Lin Biao vom 7. Mai 1966 (wu qi zhushi) deutlich auszumachen ist. Obwohl die Geschichte ihr Urteil über diese Art Sozialismus und die „Kulturrevolution“ längst gefällt hat, versucht Erlinghagen dem Leser weiterhin davon zu überzeugen, dass das „maoistische Entwicklungsmodell“ dem Lande im Verlaufe von zwei Jahrzehnten (also bis 1969/70) „fast durchgehend ein gesundes wirtschaftliches Wachstum“ ermöglicht hätte (27).2 Dazu bedurfte es jedoch der willkürlichen Interpretation dieser Geschichte. Zum einen verlegte der Autor die beginnende Umsetzung dieses Sozialismus-Modells um acht Jahre auf 1949 vor. Zum anderen werden diesem Modell stillschweigend Abschnitte erfolgreicher Entwicklung zugeschrieben, in denen die Wirtschaftspolitik der KPCh weitgehend objektiven ökonomischen Erfordernissen in der Entwicklung des Landes folgte3. Damit wurden natürlich die verheerenden Folgen des „Großen Sprungs nach vorn“ und der Volkskommunen in den Jahren 1958-1960 und der darauf folgende „Kulturrevolution“ unter den Tisch gekehrt4. Erlinghagen folgt gleichzeitig ohne jede Einschränkung der „Klassenkampf“-Theorie und der Sicht Mao Zedongs auf ein angebliche drohende „Restauration des Kapitalismus“ in China. Mao selbst wird in seinem Denken und Handeln als „links“ geradezu idealisiert, während Liu Shaoqi, Zhou Enlai und Deng Xiaoping als seine „rechten“ Antipoden verurteilt werden. Obwohl auch Erlinghagen nicht umhin kommt, „kulturrevolutionäre“ Exzesse einzuräumen, sind das für ihn jedoch Übergriffe, Zerstörungen und Verwüstungen, die nicht Mao und seiner Politik anzulasten wären (62). Zeugt dies etwa von dem „frischen, unbefangenen Blick“ auf die historischen Erfahrungen“, den der Autor für sich beansprucht (123)? Wohl eher doch nicht. Seine Art, die Geschichte der VR China zu betrachten, lässt den wissenschaftlichen Wert seiner Analyse vielmehr von vornherein fragwürdig sein.
Diese Sicht Erlinghagens auf die VR China prägt seine Analyse und Einschätzung des DDR-Bildes über die „Kulturrevolution“. Erlinghagen selbst fasst das Ergebnis dieser Untersuchung mit den Worten zusammen, er habe mit der vorliegenden Arbeit „insbesondere das Bild von der DDR-Geschichte in verschiedenen Bereichen um einige Mosaiksteinchen bereichern“ können (197). Ich werte meinerseits seine Analyse und Einschätzung als ein unmittelbarer Zeitzeuge der damaligen Ereignisse in der VR China und als Wissenschaftler, der an ihrer Einschätzung und an den damit verbundenen Debatten auch im Rahmen der Interkit-Treffen5 aktiv beteiligt gewesen war.
Der Autor hat für seine Analyse der DDR-Presse eine Reihe von Schwerpunkten gesetzt. Dazu gehören beispielsweise für den Zeitraum 1966-1969 der Charakter der „Kulturrevolution“ und der chinesisch-sowjetische Grenzkonflikt 1969 und für den Zeitabschnitt 1969 bis 1976 die Außenpolitik der VR China, die Entwicklung der ökonomischen und sozialen Situation in China und die Bestimmung der Gesellschaftsordnung in der VR China. Die Schwerpunkte entsprechen im Großen und Ganzen der Gestaltung der damaligen Berichterstattung über China in den Medien der DDR und im zweiten Zeitabschnitt auch den hauptsächlichen Aspekten der DDR-Forschung zur aktuellen chinesischen Problematik. Für den Kenner der chinesischen Materie ergibt sich diesen Analysen weniger Neues denn Strittiges.
Erlinghausen ist speziell darauf aus, einseitige, überspitzte und zum Teil deplazierte Einschätzungen der „kulturrevolutionären“ Ereignisse in den damaligen Medien der DDR, die auch in den internationalen Medien zu bemerken waren, für seine Argumentation auszuschlachten, um die DDR zu diskreditieren. Diese Erscheinungen in der DDR-Presse waren nicht, wie im Buch zu lesen ist, allgemeiner Natur, sondern im Wesentlichen nur in der Anfangsphase der „Kulturrevolution“ zu beobachten. Das lässt sich auch erklären. Die damalige Situation war dramatisch. Ein solches Geschehnis wie diese „Kulturrevolution“ hatte es noch nicht gegeben. Ihre Auswirkungen nach innen und außen zwangen auch die DDR, sofort darauf zu reagieren. Die Einsicht in die vorangegangene Auseinandersetzungen in der chinesischen Führung seit den Auslassungen Mao Zedongs über den „Klassenkampf im Sozialismus“ im August 1962 waren begrenzt. Wir hatten uns noch nicht von der traditionellen Sicht auf den Sozialismus im China der 50er Jahre gelöst. Ergebnisse eigenständiger wissenschaftlicher Erforschung der chinesischen Entwicklung lagen noch nicht vor6. Wesentlich auf unser damaliges China-Bild wirkten sich auch Fehlsichten und Schwächen in der marxistischen Sozialismus-Forschung aus. Überzogene und Fehleinschätzungen im Detail waren so im Wesentlichen dieser Situation geschuldet. Das betraf jedoch nicht die grundsätzliche Einschätzung der damaligen Ereignisse in China durch die SED.
Die Darstellung der „kulturrevolutionären“ Ereignisse in der DDR sieht der Autor „in hohem Maße entpolitisiert“. Sie wären im Kern auf das Streben Maos nach Alleinherrschaft zurückgeführt worden (103). Das Gegenteil war der Fall, was der Autor zwischenzeitlich auch schon einmal eingestanden hatte. Für uns war die „Kulturrevolution“ von Anfang an Ausdruck einer volks- und fortschrittsfeindlichen Politik und die Fortsetzung des Kampfes mit anderen Mitteln zwischen zwei verschiedenen Gruppierungen in der KP Chinas um die Entscheidung über den weiteren Entwicklungsweg des Landes und damit auch um die dafür notwendigen Machtpositionen.7 Das lässt sich übrigens schon in dem vom Autor zitierten Bericht des Politbüros des ZK der SED von September 1966 nachlesen (43).
Die Kritik des Autors an der DDR in der Auseinandersetzung mit dem Sozialismus-Modell Mao Zedongs enthält zusammengefasst im Großen und Ganzen drei Aspekte – der Vorwurf der Entstellung und Nichtinformation der Bevölkerung, die Hervorhebung der Grundpositionen Mao Zedongs im Vergleich mit dem so genannten Grundmodell und eine Reihe entstellender Behauptungen. Dazu einige kurze Anmerkungen: Die Aufgabe der DDR-Presse bestand nicht darin, objektiv sozialismusfeindliche Theorien zu verbreiten, sondern die Bevölkerung über deren politische Auswirkung auf die chinesische und internationale Entwicklung zu informieren. Im Maße der Entwicklung der eigenen Forschungen verstärkte sich in der DDR auch die theoretische Auseinandersetzung mit der Sozialismus-Rezeption Mao Zedongs. Entgegen der Behauptung des Autors praktizierte Mao Zedong nach 1953 sehr wohl den Standpunkt, dass die Verbindung von verstaatlichter Wirtschaft und rascher Industrialisierung schnell in Richtung Kommunismus führen werde (26). Jeder Grundlage entbehrt schließlich auch die Behauptung des Autors, die SED hätte in der Zeit der „Kulturrevolution“ die Meinung vertreten, dass die entwickelte sozialistische Gesellschaft frei von inneren Widersprüchen sein würde (48).
Erlinghagen konstatiert für den Zeitabschnitt 1969-1976 „eine gewisse Professionalisierung und stärkere wissenschaftliche Unterfütterung“ der Berichte über China in der Presse der DDR. Das trifft zu. Die Ende der 1960er Jahre einsetzende Zusammenarbeit sozialistischer Länder im Bereich der Forschungen zur aktuellen Entwicklung Chinas und speziell die Organisierung dieser Forschung in der DDR begannen damals erste brauchbare Resultate zu zeitigen. Hier bedarf es einer letzten Anmerkung. Erlinghagen zitiert in diesem Zusammenhang R. Felber (Quelle siehe Fußnote 2). Danach wären die China-Wissenschaftler der DDR durch das Fehlen einer Politikwissenschaft in der DDR zur „stillschweigenden Übernahme von Untersuchungsansätzen westlicher Kollegen gezwungen gewesen“ (109). Für Felber, der von Erlinghagen gleich als „der ehemals führende DDR-Chinawissenschaftler“ hervorgehoben wird, mag das zutreffen. Für die Chinawissenschaftler der DDR, deren Beiträge in der Quellenliteratur dieses Buches zu finden sind, gilt das nicht. Sie nutzten in ihren Forschungen den dialektischen und historischen Materialismus.
Das Buch macht uns wieder darauf aufmerksam: Die „kulturrevolutionären“ Volkstümler sind nicht verschwunden. Der soziale Niedergang in der imperialistischen Welt bereitet den Boden auch für ihr Wirken. Wir sollten die Auseinandersetzung mit dieser linken Strömung nicht aus den Augen verlieren.
Helmut Peters
1 Der Aktuellen China-Information räumt Erlinghagen unter den fünf Periodica ob ihres wissenschaftlichen Charakters eine „gewisse Sonderrolle“ ein. Diese Reihe, die intern und monatlich von 1972 bis 1990 herausgegeben wurde, versorgte einen größeren Kreis von Personen und Institutionen regelmäßig mit den neuesten Ergebnissen der China-Forschung der DDR, der UdSSR und anderer sozialistischer Länder. Ihre Herausgabe oblag dem Forschungsbereich „Aktuelle China-Forschung“ an der Akademie für Gesellschaftswissenschaften. Diese Institution übte mit dem ihr angeschlossenen Problemrat bis zur Liquidierung der Akademie für Gesellschaftswissenschaften 1990 die leitende Funktion für Forschungen zur chinesischen Gegenwart in der DDR aus. Roland Felber (HUB) übergeht in seinem Beitrag „Zur gegenwartsbezogenen Chinawissenschaft in der DDR“, erschienen in den „Berliner China-Heften“, Nr. 14, Februar 1998, S. 34 ff., die Rolle dieser Einrichtung und der von ihr herausgebenden Publikationsreihe. Dieser Forschungsbereich wurde im Übrigen nicht, wie Felber schreibt, Anfang der 70er Jahre, sondern bereits im November 1968 gebildet.
2 Der Abschnitt „Vorgeschichte“ enthält bei der Darstellung wesentlicher Probleme in der Entwicklung der VR China bis Mitte der 1960er Jahre eine Reihe weiterer strittiger Einschätzungen, auf die ich in diesem Zusammenhang nicht näher eingehen kann.
3 Das betrifft die Jahre 1949-1957, 1961-1966 und relativ gesehen auch den Zeitraum 1972-1976, in dem diese Politik von Zhou Enlai und Deng Xiaoping geprägt wurde.
4 Allein die „Kulturrevolution“ verursachte mit 500 Milliarden Yuan einen materiellen Schaden, der fast an die Gesamtsumme der chinesischen Grundfondsinvestitionen von 1949-1979 heranreichte. Nach chinesischen Einschätzungen kamen in jener Zeit rd.20 Millionen Menschen zu Tode. Weitere Angaben finden sich in meinem Buch „Die VR China. Aus dem Mittealter zum Sozialismus. Auf der Suche nach der Furt“, Essen 2009, S.358ff.
5 Jährliche interne Treffen der Abteilungen für Internationale Verbindungen der ZK der kommunistischen Parteien eng zusammenarbeitender sozialistischer Länder von 1968 bis 1983, auf denen die jeweils aktuellen Probleme in der inneren und äußeren Entwicklung der VR China beraten, das weitere Vorgehen in dieser Frage abgestimmt und jeweils ein gemeinsam erarbeitetes Hauptdokument angenommen wurde.
6 Eine systematische Forschung zur Entwicklung der VR China begann sich z. B. in der DRR erst ab Ende der 1960er Jahre zu entwickeln.
7 Siehe „Kampf der zwei Linien“ in: „VR China. Aus dem Mittelalter zum Sozialismus…“, a.a.O., S. 286ff.