Peter Birke, Bernd Hüttner, Gottfried Oy (Hrsg.), Alte Linke – Neue Linke. Die sozialen Kämpfe der 1968er Jahre in der Diskussion, Karl Dietz Verlag, Berlin 2009. 241 Seiten, 14,90 Euro
In der hierzulande zu jedem Jubiläumsjahr wieder entflammenden Diskussion über die Geschehnisse und die Folgen von 1968 hat man sich inzwischen weitgehend auf zwei Deutungsweisen geeinigt. Zum einen die vergleichsweise wohlgesonnene These, in den Jahren vor und nach 1968 habe vor allem eine kulturelle Umwälzung stattgefunden. Gerade aber zum vierzigjährigen Jubiläum wurden den Protagonisten der Revolte von ehemaligen Mitstreitern, insbesondere von Götz Aly („Unser Kampf“), Peter Schneider („Rebellion und Wahn“) und, in weniger polemischer Form, von Wolfgang Kraushaar ein Art Gewaltpsychose attestiert. Aly verstieg sich gar zu der These, es führe ein direkter Weg von der HJ zu den K-Gruppen. Die Diskussion schwankt zwischen Dämonisierung und Verharmlosung, als Belege werden je nach Bedarf die Geschichte der Kinderläden oder die K-Gruppen und die RAF ins Feld geführt. Gegen diese Perspektiven, die beide darauf aus sind, den Geist von 1968 zugleich fasziniert zu beschwören und zu verdammen, insistieren die Herausgeber auf der Aktualität der 68er-Revolten: „[...] es ist, als ob eigentlich alle wissen, dass dieser Geist am Ende wieder auf einer Brüstung am Rande Europas erscheint.“ (9) Es sei, schreibt Gerd-Rainer Horn in seinem Beitrag über die aktuelle Bedeutung von 1968, „höchste Zeit, der politischen, systemfeindlichen, transformatorischen Dimension der Ereignisse […] neue Beachtung zu schenken.“ (221)
Dieses Insistieren auf der politischen Dimension führt erfreulicherweise nicht zu einer Vereinheitlichung der Perspektive, die vergessenen Arbeitskämpfe der sechziger Jahre und die Lehrlingsbewegung finden genau so ihre Beachtung wie auch heute noch intensiv diskutierte, angeblich rein kulturelle Aspekte von 1968: die Frauenbewegung, die sexuelle Revolution und die Kinderläden, Kommunen und Wohngemeinschaften. Trotz der Fokussierung auf die sozialen Kämpfe ergeben die einzelnen Beiträge ein vielschichtiges Bild von 1968, das vorgeblich unpolitische – kulturelle – Aspekte integriert und an die politischen und ökonomischen Konflikte rückbindet. Gerade in dem Versuch, Politik und Privates zusammen zu denken, hätten sich die 68er-Bewegungen von anderen sozialen Bewegungen unterschieden schreibt Angelika Ebbinghaus: „Individuelle Emanzipation und gesellschaftliche Veränderung sahen sie in einem engen Zusammenhang. Das Auseinanderfallen dieser beiden Momente – auch wenn es immer nur ein Anspruch gewesen sein mag – markiert in meinen Augen das Ende der 68er-Bewegungen.“ (24)
In der Zusammenschau zeigen die Texte des Bandes, wie tief der Bruch mit der Nachkriegsgesellschaft der fünfziger Jahre gewesen ist. Allerdings schreibt keiner der Autorinnen und Autoren am Mythos 1968 mit. Stattdessen erinnert der Band nicht zuletzt an Vergessenes, das zeigt, wie selektiv die mediale Aufarbeitung der Revolte hierzulande vonstatten geht. Peter Birke nimmt eine Revision am gängigen Geschichtsbild auch der deutschen Linken vor und beschreibt die 1960er Jahre in Europa als eine „Zeit der Gärung“ (78), in der heute weitgehend aus dem Gedächtnis gestrichene Arbeitskämpfe stattgefunden hätten, wilde Streiks zumeist, die keinen Eingang in die offizielle Erhebung gefunden hätten. Auch die Mai/Juni-Streiks 1968 in Frankreich tauchten ein keiner der Statistiken aus: „Erstens galten sie als ‚ausnahmig’, zweitens streikte das statistische Amt.“ (79) Der Fokus auf die sozialen Kämpfe ist eine der großen Qualitäten des Bandes. Dabei wird die Revolte nicht zum Arbeiteraufstand umgedeutet – vielmehr erscheinen die wilden Streiks als ein unbeachteter Aspekt der Geschichte von 1968; unbeachtet vielleicht auch deshalb, weil er sich kaum mit einer der eingangs erwähnten aktuell dominierenden Perspektiven in Einklang bringen ließe.
Der Band setzt sich noch in einem weiteren Punkt vom Großteil der hierzulande publizierten Veröffentlichungen zu 68’ ab. Viele der Beiträge beschränken sich nicht auf Deutschland, sondern nehmen auch die zumeist vergessenen Geschehnisse in Ländern, die in der Diskussion nur noch selten auftauchen, in den Blick: Jugoslawien, Mexiko und Portugal zum Beispiel. Durch diese Erweiterung der ansonsten zumeist westeuropäisch beschränkten Perspektive wird deutlich, dass „die ungeheure Verdichtung der Protestereignisse“ (17) tatsächlich ein globales, transnationales Phänomen gewesen ist, dessen Gleichzeitigkeit sich – gerade im Blick auf die unterschiedlichen ökonomischen und politischen Voraussetzungen in Ost und West – nicht ohne weiteres erklären lässt.
Die Autorinnen und Autoren nehmen das Datum als Ausgangspunkt, um von ihm aus die Vor- und Nachgeschichte der sozialen Bewegungen und der von ihnen durchgesetzten Reformen zu untersuchen. Der Blick ist bei aller erkennbaren Sympathie für die Protagonisten der Revolte weder spekulativ noch idealisierend, sondern an der Empirie orientiert. Die Ambivalenzen werden nicht negiert: „Die subkulturellen Revolten haben sich trotz ihrer Niederlage durchgesetzt“, schreibt Arndt Neumann (182). Gemeint sind in diesem Zusammenhang damit aber vor allem subkulturelle Praktiken, die vom Rand ins „Zentrum der postfordistischen Gesellschaft“ (ebd.) gewandert sind – ein „Kollateralerfolg“ (217). Dass die Protagonisten von 1968 mehr und Radikaleres im Sinne hatten als die „Fundamentalliberalisierung“ (Jürgen Habermas) der Gesellschaft, dass ihre Revolte äußerst vielschichtig war, in vielen Punkten sich sogar mit dem Klassenkampf in Europa berührte und somit Erkenntnisreiches für heutige Linke birgt, zeigt ein Großteil der Beiträge. Schon damit hebt der Band sich von der spätestens 2008 ins Unüberschaubare gewachsenen Veröffentlichungsflut an Jubiläumsliteratur ab.
Benjamin Moldenhauer