Werner Röhr, Von Annaberg nach Gleiwitz. Zur Vorgeschichte des deutschen Überfalls auf Polen am 1. September 1939, Edition Organon, Berlin 2009, 103 S., 8,50 Euro.
Der Text dieses kleinen Bandes, der es in sich hat, geht auf einen Vortrag zurück, den der Autor aus Anlass jenes 70. Jahrestages hielt, der in der Jubiläenreihe des Jahres 2009 hierzulande weit in den Hintergrund trat. Es passte den Veranstaltern der Haupt- und Staatsaktionen ins Konzept, dass das Gedenken an den 1. September 1939 sich gleichsam exportieren und dies obendrein rechtfertigen und als ein weiterer Schritt deutsch-polnischer Versöhnung darstellen ließ. Danzig und die Westerplatte waren Orte, an denen die militärischen Handlungen des Zweiten Weltkrieges mit dem deutschen Überfall begannen. Die deutsche Regierungschefin reiste dorthin, einer Einladung ins Nachbarland folgend. Die hiesigen Zeitungen berichteten davon. Sie hatte dort nichtssagend erklärt, dass hier „alles begann“ und sich auch auf gröbere Details nicht eingelassen. Kriegsursachen, Kriegsziele – das sind Themen, die inzwischen zugunsten von Klagen über Gewalt, Verbrechen, Opfer und Erörterungen darüber, „wessen der Mensch fähig ist“, stillschweigend aus dem Gesichtsfeld der Nachgeborenen gerückt werden. Kaum jemand, der anmerkt, dass das Verdrängen der Frage, warum Millionen Opfer von Krieg, Eroberung, Ausrottungspolitik wurden, eine Beleidigung des Andenkens auch all derer ist, die Opfer wurden. Wir werden in eine geistige Welt versetzt, in der irrwitzige Thesen in Büchern, gedruckt in renommierten Verlagen, unter die Leute gebracht werden, wie beispielsweise jene, wonach die Weltgeschichte ganz anders verlaufen wäre, würde jemand dem Hitler erklärt haben, dass nicht die Juden an der deutschen Kriegsniederlage 1918 schuld trugen und so sein Rachebedürfnis nicht hätte entstehen können.1 Nicht im Einzelfall, aber im Ganzen sind derlei Emanationen Früchte des Jahres 1990.
Gegen Legenden und Lügen anzugehen ist das Verdienst eben jener Schrift Werner Röhrs. Ihr Erscheinen erinnert an einen Satz Tucholskys, veröffentlicht 1929: „Im Rundfunk dürfen wir nicht, in der Presse sollen wir nicht, im Kino können wir nicht – bleibt das Buch.“ Und das in einer bescheidenen Auflage und – anders noch als in der Weimarer Republik – ohne Aussicht in die Schaufenster oder auf die Buchtische einschlägiger Geschäfte zu gelangen. In äußerst gedrängter Form und Sprache, in seinen Aussagen präzise, zeichnet der Autor den Weg von Krieg zu Krieg und schon diese Perspektive unterscheidet ihn von jenen Erörterungen, die nicht darauf zu sprechen kommen, dass 1939 eine offene Rechnung beglichen werden sollte, die von deutschen Imperialisten bereits zur Zeit des Versailler Vertrages aufgemacht worden war. So wird klar, wie hohl jene Formel von „Hitlers Krieg“ ist, denn dass die deutsch-polnische Grenze nicht dort bleiben sollte, wo sie schließlich 1922 nach blutigen Kämpfen vor allem in Oberschlesien fixiert worden war, galt in zivilen wie militärischen Kreisen als ausgemacht, und das bevor außerhalb Münchens jemand den Namen Hitler kannte.
Dann verfolgt Röhr Eröffnung und Verlauf des Wirtschaftskrieges gegen den Nachbarn, sein Scheitern und die von der Naziregierung initiierte „Politik des 26. Januar“. Das Datum meint den Tag, da Deutschland und Polen 1934 eine Nichtangriffserklärung unterzeichneten, die Polen nichts, aber den deutschen Faschisten die Möglichkeit eintrug, sich verlogen als Macht der Völkerverständigung zu präsentieren, die einen Schritt getan habe, zu dem die Republik es nicht brachte. Und – wichtiger noch – dieser diplomatische Akt lockerte die Bindungen Polens zu Frankreich, jener ausländischen Macht, die bei Wiedergründung des polnischen Staates nach der Zerschlagung der monarchistischen Regime in Berlin, Petersburg und Wien die Hauptrolle gespielt hatte. Auch gegen eine denkbare Änderung der polnischen Politik gegenüber dem Nachbarn im Osten, der Sowjetunion, bedeutete die Annäherung an Nazideutschland, das das „bolschewistische Judentum“ zu seinem Todfeind erklärt hatte, eine Barriere von Dauer. Polen beschritt den Weg seiner Selbstisolierung. Göring und Goebbels kamen in das Land als bewillkommnete Staatsgäste. Als der Propagandaminister anreiste, schrieb ein polnisches Blatt, die Vegetarier hätten ein Bankett für den Menschenfresser gegeben. Die Warnungen drangen umso weniger durch, als in Warschau Politiker entschieden, die in einem Anflug von Größenwahn die Möglichkeiten weit überschätzten, welche der Staat besaß, auf die europäische Entwicklung und Geschichte Einfluss zu nehmen.
Von der sozialen, ethnischen, politischen Situation Polens nach seiner Neugründung, auch das unterscheidet Röhrs Perspektive von der üblichen, wird in dem Band ein knapper und historische Kritik nicht scheuender Überblick gegeben. Damit könnte der Autor, geriete sein Text dahin, auch in eine Debatte in Polen eingreifen, in der er auf die Seite derer tritt, die sich für eine notwendige nationale Selbstkritik einsetzen und nicht bereit sind, die unstrittige Rolle Polens als Opfer deutscher Eroberungs- und Vernichtungsgelüste zu benutzen, um Fragen an die eigene Geschichte ganz zu verdrängen oder zu marginalisieren. Röhr zeigt, worin die Alternativen zur tatsächlich betriebenen polnischen Außenpolitik in den 1930er Jahren bestanden. Warschau konnte das Angebot der Naziclique akzeptieren, sich zu deren Juniorpartner im Kampf gegen die Sowjetunion zu machen. Dass die Annahme dieser Offerte mit tödlichem Ausgang enden würde, war den Machthabern immerhin klar. Dass sie dann aber, wollten sie dem feindlichen Zugriff der deutschen Imperialisten entgehen, sich zu aktiven Förderern aller Bestrebungen kollektiver Sicherheit machen mussten, dazu fehlte es ihnen nicht nur an Verstand. Das Beschreiten dieses Weges hätte, das lag auch geografisch am nächsten, die Herstellung kooperativer Beziehungen zur Tschechoslowakei verlangt, die ihn mit Frankreich und der UdSSR zu beschreiten suchte. Doch mutet die bis zur antitschechischen Kooperation mit dem Reich reichende polnische Politik wie ein Trauerspiel an, sie erscheint als Untat, auf die eine Strafe nicht ausbleiben konnte.
Der Band schließt mit einer wiederum knappen Skizze der verbrecherischen deutschen Kriegsführung auf polnischem Boden, der Charakterisierung der Kriegsziele der Eroberer und der Bedeutung der Erfahrungen, welche die Eindringlinge und Besatzer im „Generalgouvernement“ sammelten und die sie auf ihren weiteren Raubzügen verwerteten. Wer sich darüber, nun angeregt, genauer informieren will, mag die Einleitung und die Dokumente in dem von Werner Röhr noch zu Zeiten der ostdeutschen Wissenschaftswüste herausgegebenen Band „Die faschistische Okkupationspolitik in Polen (1939-1945)“ lesen, der in der Reihe „Europa unterm Hakenkreuz. Die Okkupationspolitik des deutschen Faschismus (1938-1945)“ (Berlin 198), damals aus Anlass des 50. Jahrestages des Angriffs auf Polen, erschienen ist.
Kurt Pätzold
1 Joachim Riecker, Hitlers 9. November. Wie der Erste Weltkrieg zum Holocaust führte, Wolf Jobst Siedler jr., Berlin 2009.