Walter Markov, Wie viele Leben lebt der Mensch. Eine Autobiographie aus dem Nachlaß, Faber & Faber Verlag, Leipzig 2009, 398 S., 19,90 Euro
Ein Montag im November 1947. Martin-Luther-Universität Halle. Überfülltes Auditorium maximum. Spannung im Saal: Die erste Vorlesung des als Gast aus Leipzig gekommenen, zum a.o. Professor für Geschichte berufenen Marxisten Dr. Walter Markov. Er betritt die Bühne ohne Manuskript oder Bücher. Verblüffung im Saal. Dann zieht er zwei, drei Zettel aus der Jackentasche und beginnt seine Vorlesung über – irre ich nicht – Aspekte des Vorkriegsimperialismus. Trotz einer Überfülle an Personennamen, Ortsbezeichnungen, statistischen Zahlen wirft er nur hin und wieder einen Blick auf einen der Spickzettel, um die Struktur seines zweistündigen Vortrags einzuhalten. Das war in meiner Studentenzeit „das Erlebnis Markov“ mit seinem phänomenalen Gedächtnis –unvergessen bis heute. Dazu kam der ehrenvolle Nimbus, der ihm als langjähringen Häftling der Nazis gebührte.
Nun halten wir seine Autobiographie in Händen, die der 1993 84jährig verstorbene Gelehrte hinterlassen hat. Um es gleich vorweg zu sagen: ein großartiges Buch von einem großartigen Menschen und Wissenschaftler, einem „Revolutionsforscher von Weltrang“. Und noch etwas sei vorausgeschickt: Es ist keine trockene Aneinanderreihung von Fakten, sondern ein von Altersweisheit erfüllter, bewegender Lebensbericht, oft im Plauderton, ja, stellenweise sogar salopp, notiert auf Wunsch seiner Kinder.
Das Buch ist chronologisch in sechs Kapitel gegliedert, was gelegentlich Vorausblick, Rückblick sowie Abschweifungen nicht ausschließt. Einleitend schildert M. in einer knappen Skizze die Lebenswege seiner vier Großelternfamilien – Slowenen, Deutsche, Österreicher –, alle – einschließlich seiner selbst – geprägt von der Endphase der k.u.k. Monarchie (9-16). Geboren am 5. Oktober 1909 in Graz, wechselt der hochbegabte Junge mit der kinderreichen Familie häufig den Wohnort, erwirbt an Schulen in Slowenien, Kroatien und schließlich Serbien eine fundierte klassische Schulbildung und erlernt fast spielend die im dortigen Völkergemisch gebräuchlichen Sprachen – ein Fundament für den späteren Universalhistoriker (16-90).
Groteskerweise erwirbt der bereits von marxistischen Ideen berührte mittellose M. dann ein Stipendium des evangelischen Gustav-Adolf-Vereins, das ihm ein Geschichtsstudium in Leipzig ermöglicht und ihn mehrere Semester über Wasser hält. Es folgen die Universitäten Köln, Berlin, Hamburg und ab 1933 die Bonner – immer stärker verknüpft er sein Leben mit dem dramatischen politischen Geschehen in Deutschland. In furiosem Tempo schreibt er Anfang 1934 seine Dissertation über „Serbien zwischen Österreich und Rußland 1897-1908“ und promoviert (161).
Im dritten Kapitel „Die Illegalen“ (161-222) erstaunt die überaus detaillierte Darstellung der illegalen propagandistisch-publizistischen Tätigkeit einer von M. in Bonn gegründeten „Gruppe Universität der KPD“, die aber im Februar 1934 durch Verrat auffliegt. Alle Beteiligten werden verhaftet, der junge Doktor als „Hauptbeschuldigter“ am 4. Mai 1936 vom Volksgerichtshof in Berlin zu 12 Jahren Zuchthaus verurteilt. Über die zehnjährige Haftzeit im Zuchthaus Siegburg – davon bis 1943 in Einzelhaft – berichtet M. ironisch, distanziert, souverän – summarisch, dagegen äußerst engagiert und präzise über seine und seiner inhaftierten Mitgenossen Bemühungen, sich Anfang April 1945 beim Herannahen von US-Truppen selbst zu befreien – erfolgreich.
Die wiedergewonnene Freiheit widmet er zunächst politischer Arbeit im Auftrag der KPD in Bonn. Als die Universität den aktiven Kommunisten abweist, bleibt ihm nur die Umsiedlung in die Sowjetische Besatzungszone, ins einst vertraute Leipzig. Paul Wandel und Robert Rompe ebnen den Weg an die Universität. Parallel zu der in Blitzesschnelle erarbeiteten Habilitationsschrift (266-268) nimmt M. im November 1946 seine Lehrtätigkeit an der Leipziger Universität mit mehreren Vorlesungsreihen auf. Im Wintersemester 1947/48 folgt parallel eine dreijährige Gastprofessur in Halle.
Die erste knappe Lebenshälfte, aber mehrere grundverschiedene Lebenswelten liegen hinter ihm, ein neues Leben, dem Aufbau des Sozialismus verschrieben, vor ihm. Es wird ein erfülltes, vor allem der Großen Französischen Revolution gewidmetes Wissenschaftlerleben von internationalem Rang – mit einer durch den Stalin-Tito-Konflikt bewirkten für M. tragischen, für die SED beschämenden Unterbrechung (317-320).
Es wird zugleich – zeitlich parallel – der Beginn einer lebenslangen glücklichen Zweisamkeit mit der aus Bonn zum Studium nach Leipzig gekommenen gleichgesinnten Irene Bönninger. In mehreren Abschnitten des mit „Kalenderblätter“ überschriebenen 6. Kapitels (297-387) schildert M. das schnelle Anwachsen seiner Familie und mit viel Wärme die Eigenheiten und Entwicklungen der fünf Kinder (311-317, 321-331). In anderen Abschnitten reflektiert er seine Tätigkeit als Forscher, Ordinarius und Publizist an Hand sehr subjektiv ausgewählter Aspekte, so u.a. „Notizen zu ein paar runden Geburtstagen“ (331-337), „Meine sechs Weltkongresse [der Historiker] 1955-1980“ (337-360), „Eine Reise nach Paris (1957)“ mit falschem Pass (360-364), die in Kooperation mit Albert Soboul der Fortführung seiner revolutionsgeschichtlichen Arbeiten diente, Studien, die in dem vierbändigen, Jacques Roux gewidmeten Projekt (1964-1970 erschienen) gipfelten. Dazwischen finden sich Reiseberichte, weltpolitische Betrachtungen und Reflexionen über die aktuelle Wissenschaftspolitik in der DDR.
Der letzte Abschnitt „Rückreise in die Kindheit“ (375-387) leitet mit einer Mischung von realen Erlebnissen auf einer zehntägigen Reise nach Ljubljana im Mai 1982 und träumerischen Erinnerungen an Kindheit und Jugend schon über zum Schlusskapitel, dem „Epilog“ (389-391), mit seiner rhetorischen Frage „Wie viele Leben lebt der Mensch“, auf die der altersweise 75jährige Gelehrte nur mit weiteren Fragen zu antworten weiß.
Bedauerlich ist, dass der für seine Akkuratesse bekannte Verlag zahlreiche Druckfehler, darunter so manche sinnentstellenden, zugelassen hat – besonders peinlich bei Namen wie beispielsweise Leuscher statt Leuschner (276), Zeusser statt Zaisser (279), Dublek statt Dlubek (317) oder Kornstadt statt Kronstadt (369). Fragen nach Konzeption und Vollständigkeit wirft auch das Register auf; das wäre durch eine erklärende Vor- oder Nachbemerkung vermeidbar gewesen. Doch trotz dieser Schönheitsfehler – ein höchst lesenswertes Buch.
Heinrich Gemkow