Buchbesprechungen

Politische Ökonomie Lateinamerikas

von Jörg Roesler zu Dieter Boris
März 2010

Dieter Boris, Lateinamerikas Politische Ökonomie. Aufbruch aus historischen Abhängigkeiten im 21. Jahrhundert? VSA-Verlag, Hamburg 2009, 191 S. 16,80 Euro.

Das Interesse an Lateinamerika hat unter den Linken in Deutschland in den vergangenen knapp zehn Jahren beträchtlich zugenommen. War es zunächst die außerordentliche Heftigkeit, mit der sich die Krise des Neoliberalismus z.B. in Argentinien in gewaltigen Straßenprotesten äußerte, so weckte die Hinwendung neu gewählter „Linksruck“-Regierungen bald ihr Interesse, gerade weil erkennbar wurde, dass die Entwicklungen in Venezuela, Argentinien, Brasilien, Bolivien, Chile, Uruguay usw. mehr sein könnten als das Regionalkolorit der in Europa bzw. in den USA sich Anfang des Jahrhunderts weiter verstärkenden neoliberalen Wirtschaftsentwicklung. Es ist daher zu begrüßen, dass Dieter Boris, ein bekannter Lateinamerikaspezialist, sich entschlossen hat, seine grundlegende Arbeit zur Politischen Ökonomie Lateinamerikas, die 2001 erschienen ist, insofern zu aktualisieren, als er seinen damaligen Analysen ein weiteres, neuntes Kapital zufügte, dass der sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung des Kontinents im ersten Jahrzehnts des neuen Jahrhunderts gewidmet ist und für das zehnte Kapitel „Rückblick und Ausblick“ einen Abschnitt über „aktuelle Tendenzen“ beifügte.

Wurden die Jahre seit 1998 in Lateinamerika politisch zunehmend durch die Wahlsiege und die Regierungspolitik linker Präsidenten gekennzeichnet, so lassen sie sich ökonomisch in eine sechsjährige Rezessionsperiode (1998-2002/03) und in die seit einem Vierteljahrhundert stärkste und zugleich längste Boomphase in Lateinamerika (2003-2008) unterteilen. Zwischen Herbst 2008 und Sommer 2009 kam es dann wieder zu einem Absinken des Wirtschaftswachstums, doch unter den größeren Staaten ist es bisher nur im Falle Mexikos, der mit den USA am engsten verflochtenen Wirtschaft Lateinamerikas, zu einer erneuten Rezession gekommen. Das vergleichsweise günstige Abschneiden Lateinamerikas hat sowohl mit einem Finanzpolster aus während der Boomphase angesammelten Handelsüberschüssen – Ergebnis der bemerkenswertesten Rohstoffhausse seit hundert Jahren – zu tun als auch mit „keynesianistisch inspirierten Konjunkturprogrammen zur Ankurbelung der Nachfrage, die nach der ‚neoliberalen Revolution’ der 1990er Jahre geächtet waren.“ (159)

Die soziale Entwicklung der vergangenen Dekade, weist Boris nach, ist wesentlich durch die Kombination von Linksruck und Boomphase positiv geprägt worden. Die allgemeine Armutsquote konnte von 44 auf 33 Prozent verringert werden – Ergebnis von generellem Beschäftigungszuwachs, geringer Inflation und dadurch sowie durch Mindestlohnerhöhungen bewirkter Reallohnsteigerungen. In gleicher Richtung haben aber auch neue Sozialtransfers gewirkt, deren Umfang und Wirksamkeit Boris insbesondere für Brasilien unterstreicht. Einen Beitrag zur Verbesserung der sozialen Situation hat nach Boris auch die deutliche Verringerung des Bevölkerungswachstums seit der Jahrhundertwende bewirkt. Ungeachtet dessen sei die soziale Polarisierung in Lateinamerika aber weiterhin stark ausgeprägt, zumal die Verringerung der Ungleichheit der Einkommen sich auf einen Teil der Staaten mit Links- bzw. Mitte-Links-Regierungen wie Venezuela, Nicaragua, Brasilien, Bolivien und Argentinien beschränkt habe. Die soziale Unausgeglichenheit blieb dagegen in Mexiko, Peru, aber auch Chile und Uruguay unverändert und nahm in einigen mittelamerikanischen Staaten sogar zu.

Wenn sich Lateinamerika 2008/09 auch eher am Rande der Weltfinanz- und Weltwirtschaftskrise befand und „Multilatinas“, Firmen aus Brasilien, Mexiko oder Argentinien inzwischen weltweit agieren, dann sei das nicht als Zeichen zu werten, dass die Staaten des Kontinents die für sie typischen strukturellen Schwächen überwunden hätten, schätzt der Autor in einer „Zwischenbilanz am Ende der ersten Dekade“ ein. Zu diesen Schwächen zählen seiner Meinung nach in erster Linie die nach wie vor ausgeprägte Ungleichheit von Einkommen und Vermögen, die im internationalen Vergleich zu niedrige Investitionsquote, insbesondere in dem auf den Binnenmarkt ausgerichteten Ökonomiebereich sowie die noch immer geringe Diversifizierung der Exportpalette. Verbesserungen hätte es dagegen in der geografischen Diversifizierung der Übersee-Exporte gegeben – weg von Nordamerika und hin zu anderen Schwellenländern im „Süden“. So sei China nunmehr vor den USA wichtigster Handelspartner Brasiliens. Wenn aber gleichzeitig der Anteil der industriell verarbeiteten Produkte an Brasiliens Exporten von 29 auf 21 Prozent gesunken ist, kann man m.E. nicht von einer „als historisch zu bezeichnender Trendwende“ (136) sprechen, was auch ein Rückblick auf den für die Außenhandelsabhängigkeit wenig relevanten Wechsel des Haupthandelspartners (von Großbritannien zu den USA in den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts und von den USA zu Deutschland während der 1930er Jahre) bei ansonsten gleich bleibender Warenstruktur unterstreicht.

Die auf der Expansion der Rohstoffexporte nach Übersee beruhende Konjunktur der Jahre 2003 bis 2008 hatte, so arbeitet Boris überzeugend heraus, einen negativen Einfluss auf die Verbreiterung regionaler Integrationsprozesse, ungeachtet aller politischen Bemühungen der linken Präsidenten um Ausbau und Neugründung intra-kontinentaler Wirtschaftsbünde wie Mercosur oder ALBA, die gegen entsprechende US-dominierte Projekte (ALCA) gestärkt werden sollten.

Auch dies bestätigt, dass im Bereich der (Außen-)Wirtschaft in der jüngsten Dekade lateinamerikanischer Entwicklung die letztlich fragilen, weil stark weltmarktabhängigen Grundstrukturen nicht korrigiert werden konnten. „Die Ansätze einzelner Mitte-Links-Regierungen, diese aufzubrechen, … blieben bislang verhältnismäßig schwach und widersprüchlich.“ (164) So wird das Fragezeichen hinter dem Untertitel verständlich. Erst eine neue Stufe und eine neue Qualität der Demokratisierung in den Linksruck-Ländern, beschließt Boris die erweiterte und aktualisierte Neuauflage seines Lateinamerika-Klassikers, könnte auch einen erheblichen Einfluss auf die zukünftige wirtschaftliche Entwicklung Lateinamerikas ausüben.

Jörg Roesler