Jürgen Leibiger, Reclaim the Budget. Staatsfinanzen reformieren. Einführung in eine alternative Finanzpolitik, PapyRossa, Köln 2010, 478 S., 28,00 Euro.
Knappe Kassen, Steuerstreit, Ausgabenkürzungen, Finanznöte, Haushaltssperren, Verschuldungshysterie und eine fanatische Vergötterung des Budgetausgleichs betreffen direkt oder mittelbar jeden Bürger.
Jürgen Leibiger behandelt in seinem Buch alle Facetten der Staatsfinanzen, durchleuchtet sämtliche Ecken und Schlupfwinkel der Thematik. Er bietet eine kenntnis- und faktenreiche, kompakte, informative und übersichtliche Schrift, die bildet und aufklärt. Als Nachschlagewerk und praktische Anleitung kann sie jenen empfohlen werden, die an einer sozial gerechten Finanzpolitik interessiert sind. Leibiger setzt sich zum Ziel, den Status quo und die herrschenden finanzwissenschaftlichen Konzeptionen zu kritisieren sowie Alternativen aufzuzeigen. Diesen Anspruch löst er in beeindruckender Weise ein.
Im 1. Kapitel zeigt er, wie Wirtschaft, Staat und Staatshaushalt miteinander vernetzt sind. Im 2. Kapitel fordert er, finanzpolitische Ziele demokratisch zu bestimmen. Das 3. Kapitel widmet er der Eigentumsproblematik, das 4. Kapitel einer sozial gerechten Ein- und Ausgabenpolitik in Bund, Ländern und Kommunen. Im 5. Kapitel schlägt er vor, den Wettbewerbsföderalismus durch Kooperation zu ersetzen. Er geht dabei auch auf den Sonderfall Ostdeutschland ein. Gegenstand des 6. Kapitels sind die Systeme der sozialen Sicherung. Die Finanzen für eine soziale EU werden im 7. Kapitel reflektiert. Das abschließende 8. Kapitel ist besonderen Fällen der Finanzpolitik vorbehalten.
Leibigers Buch, obgleich nicht als theoretische Streitschrift gedacht, vielmehr eher als kontemplative, deskriptive Darstellung des staatlichen Finanzsektors, regt auch zur wissenschaftlichen Diskussion dieser Fragen an. Eine Auswahl soll das zeigen. Erstens: Dass grundlegende Veränderungen notwendig sind, kann unter alternativen Ökonomen nicht strittig sein. Sind sie aber auch möglich? Was muss geschehen, um sie durchzusetzen? Leibigers Schwerpunkt und Stärke liegen auf der Beschreibung der Visionen, weniger darauf, wie diese verwirklicht werden können. Er betrachtet seinen Gegenstand aus der Sicht der marxistischen Theorie, distanziert sich aber von Positionen eines in sich selbst erstarrten Dogmatismus. Doch die Preisgabe tragender Säulen der orthodoxen Lehre ist nicht unproblematisch. Nur dadurch, dass für ihn der Staat nicht mehr Instrument der herrschenden Klasse ist, verschafft sich Leibiger den Spielraum, den er für die Verwirklichung seiner sozial gerechten Alternativen braucht. Nähert er sich mit dieser These der praktischen Realität oder entfernt er sich von ihr? Sicher ist es begrüßenswert, linken Realpolitikern (die sich nicht nur in der Partei „Die Linke“ finden), Mut zu machen, Aussichtsloses zu wagen. Die Frage muss aber erlaubt sein, wie es gehen soll, dass die Unprivilegierten ihre Interessen wider die Herrschenden durchsetzen? Dass dies gelingen könnte, ist vielleicht nur eine naive Hoffnung. Sympathisch ist sie bestimmt. Man darf sich auch nicht durch moderatere Herrschaftsformen blenden lassen. Nicht nur König Ludwig XI. (1423-1483) wusste das „divide et impera“ geschickt und skrupellos zu nutzen. Brot und Spiele dienten den Römern zur Sicherung ihrer Herrschaft. Pseudodemokratische Rituale gehören seit langem zum Manipulationshandwerk. Aber vielleicht liegt gerade darin der Spielraum für graduelle Verbesserungen. Der Autor betont selbst, dass die Begrenzung sozialer Unterschiede auch nur ein „Moment der Gewährleistung der Hegemonie der Bourgeoisie“ ist. (196)
Zweitens: Leibiger hält das Stamokap-Theorem von der Verschmelzung der Macht des Staates und der der Monopole für übertrieben und einseitig. Gleichwohl bestreitet er nicht den herausragenden Einfluss des Großkapitals auf den Staat, bringt zahlreiche Beispiele für diverse Erscheinungen dieser Verschmelzung (z.B. 66ff, 90ff). Er weiß zu unterscheiden zwischen formalem Recht und realer Hegemonie. Die Herrschaft der Monopole über die nichtmonopolistischen Teile der Gesellschaft schließt Konkurrenz und Kampf zwischen den einzelnen Kapitalgruppen nicht aus, ändert aber nichts am Wesensverhältnis. Der Staat ist kein „monolithischer Block“, sondern kann unterschiedlichen hegemonialen Konstellationen unterworfen sein (59) – da hat Leibiger Recht – aber in diesen Konstellationen bleiben die Interessen der Lohnabhängigen grundsätzlich und dem Wesen nach subaltern. Auch der Autor muss einräumen, dass selbst bei Verstaatlichungen die „hegemoniale Position der Klasse der Kapitaleigentümer im Staat unangetastet bleibt“ (155).
Drittens: Jürgen Leibiger schöpft Hoffnung für die Verwirklichung seiner Alternativen daraus, dass sich bis etwa Mitte der 1970er Jahre der Wohlfahrtsstaat herausbildet und die Reallöhne steigen. Zu dieser positiven Entwicklung habe eine keynesianisch begründete Wirtschaftspolitik im Interesse der Lohnabhängigen beigetragen. Man darf jedoch nicht die konkret-historischen Umstände übersehen. Der Nachholbedarf nach dem Weltkrieg und der Anspruch der sozialistischen Länder, eine gerechtere Welt zu schaffen, waren günstige Voraussetzungen, materielle Verbesserungen für die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung zu erzielen. Nach dem Zusammenbruch des „kommunistischen Weltsystems“ und vielfältigen Krisenerscheinungen in den kapitalistischen Ländern haben sich die Bedingungen grundlegend geändert. Nun werden soziale Zugeständnisse eifrig abgebaut. Auch Leibiger bemerkt, „dass der Staat rigoros darauf ausgerichtet wird, die internationale Konkurrenzfähigkeit des Kapitals auf Kosten der inneren Wohlfahrt zu unterstützen“ (73).
Viertens: Die demokratische Bestimmung der finanzpolitischen Ziele läuft auf umfassende Bürgerbeteiligungen und Bürgerhaushalte hinaus (98ff.). Trotz richtiger Stichworte und Ziele in diesem Teil der Arbeit sind die Ausführungen eher ernüchternd, obgleich den systematisch und überzeugend dargelegten Intentionen des Autors gefolgt werden kann. Wie aber soll eine Ergebnis- und Verteilungsgerechtigkeit möglich sein, wenn Leibiger aus guten Gründen bereits eine Chancengleichheit für eine Illusion hält? (109ff.)
Fünftens: Leibiger äußert sich skeptisch gegenüber einer negativen Einkommenssteuer und lehnt das bedingungslose Grundeinkommen ab. Seinen Argumenten kann man sich kaum entziehen. Man muss aber auch beachten, dass immer weniger Menschen benötigt werden, um das zu produzieren, was alle benötigen. Dann muss man fragen, wie die Menschen sozial aufgefangen werden können, die zur Güterproduktion entbehrlich werden. Deshalb sollte auch das bedingungslose Grundeinkommen nicht aus der Diskussion sein. Es ist nicht Anreiz für Faulheit, sondern ein Instrument sozialer Sicherheit für jene, die befürchten müssen, von der Teilhabe am gesellschaftlichen Reichtum dauerhaft ausgeschlossen zu werden.
Sechstens: Dem Autor ist zuzustimmen, dass ohne Reformen zu Lasten der Privilegierten eine solidarische soziale Sicherung nicht ausgebaut werden kann. Seine Vorschläge zur „Tragfähigkeit einer solidarischen Altersrente“ zum Beispiel bewegen sich aber weitgehend im Rahmen herkömmlicher Finanzierungskonzepte. Ein radikaler Ausbruch aus diesem Korsett ist aber angesichts der anhaltenden Produktivitätsfortschritte und der demografischen Entwicklung möglich und notwendig zugleich. Das Volkseinkommen wächst, die Bevölkerung schrumpft. Man kann also grundsätzlich mehr unter weniger Menschen verteilen. Eine neue Verteilungsformel muss her. Gegenwärtig läuft alles in die andere Richtung: Mit der derzeitigen „Reform“ der gesetzlichen Rente wird die Teilhabe am Einkommensfortschritt faktisch ad acta gelegt (384).
Leibigers Buch ist wert, gelesen zu werden. Es erfüllt meisterhaft eine bildende und zugleich aufklärende Funktion. Es enthüllt die Grundstrukturen und Grundbegriffe der Staatsfinanzen und zeigt, wie diese effizienter im Interesse der nicht privilegierten Bevölkerungsschichten gestaltet werden können. Hervorgehoben werden sollen dabei folgende Aspekte:
In dem Maße, wie die Bedeutung des Staates und dessen Finanzen für das Funktionieren von Wirtschaft und Gesellschaft zunehmen, wächst auch die Bedeutung der Kritik daran. Sie wird zu einem notwendigen Bestandteil eines alternativen, demokratischen Gesamtentwurfs. Dem Autor geht es nicht um theoretische Spitzfindigkeiten. Er will keine neuen weltfremden Modelle schreinern, sondern aktuelle Fragen der Finanzpraxis beantworten. Mit seinen Analysen und Vorschlägen kann er helfen, die Dominanz des hegemonialen Blocks zu schwächen.
Der Autor hat einen gewaltigen Stoff logisch schlüssig strukturiert, bereitet diesen für seinen Leser locker, anspruchsvoll und argumentationsstark auf. Er zaubert keine Alternativen aus der Retorte, sondern entwickelt sie ausgehend von den elementaren Grundbegriffen der finanzwissenschaftlichen Lehre. Deren Inhalte präsentiert er verständlich auch für jene Praktiker, die kein wirtschaftswissenschaftliches Studium erleiden mussten. Auf diese Weise ist ein Lehrbuch entstanden, das ein Gewinn für alle ist, die sich für finanzwissenschaftliche und -praktische Fragen interessieren. Der Finanzpraktiker erhält eine Art Handreichung, die ihm helfen kann, seine Tagesaufgaben zu erfüllen. Darstellung, Kritik, Alternative – selten findet man ein Werk, in welchem diese drei Perspektiven so ausgezeichnet harmonisieren.
Im Kern laufen Leibigers Vorschläge zur Umgestaltung der Staatsfinanzen darauf hinaus, das Profitprinzip zurückzudrängen, den öffentlichen Sektor auszubauen und demokratisch zu gestalten sowie eigentumspolitische Eingriffe zu wagen. So bietet der Autor im 3. Kapitel eine differenzierte, ausgewogene Analyse aller wesentlichen Gesichtspunkte rund um das Eigentum (Objekte, Subjekte, Formen). Das ist nicht nur deshalb ein sehr lesenswerter Abschnitt, weil es sich hier um die Kernfrage schlechthin zu handeln scheint. Man kann sich seiner Forderung nach einem eigentumspolitischen Mix ebenso anschließen wie der Einsicht, dass es mit der Schaffung von mehr öffentlichen oder Gemeineigentum nicht getan ist. Man muss es auch im Interesse des Gemeinwohls gestalten und das Privateigentum in diesem Sinne kontrollieren.
Die Arbeit enthält die Grundzüge einer alternativen Steuerpolitik und bietet ein differenziertes, konkretes Konzept von Steuersenkungen und Steuererhöhungen. Dabei betont Leibiger zu Recht, dass ein genereller Steuersenkungswettlauf in die falsche Richtung führe (234). Überzeugend auch seine Argumente gegen Studiengebühren (242f.).
Der Autor nimmt die Staatsverschuldung ernst, weist aber mit Recht darauf hin, dass Hysterie fehl am Platze ist. Er widerlegt die Behauptung, dass die Staatsverschuldung auf eine Umverteilung zu Lasten künftiger Generationen hinauslaufe. Vielmehr handele es sich um eine Umverteilung zu Gunsten vermögender Gläubiger (was die Sache nicht erträglicher macht). Ob der Staat in eine Schuldenfalle geraten und dann seine eigentlichen Aufgaben nicht mehr finanzieren kann, hinge von der Zinslastquote und davon ab, ob die potenziellen Käufer der Staatspapiere weiterhin ihrem Schuldner vertrauten. Manchmal könnten die alternativen Vorschläge Leibigers eine Nuance kühner sein: Was spricht gegen eine rigorose Senkung der Zinslast? Selbst bei einer Halbierung der Zinssätze ginge keine Gläubigerbank kaputt. Die kleinen Sparer müssen schon seit langem mit niedrigen Habenzinsen leben. Auch wenn ein definitiver Wert für eine Grenze der Staatsverschuldung nicht bestimmbar ist (265) und Leibiger im Gegensatz zu anderen Finanzautoren die Gefahren der Verschuldung und eines drohenden Staatsbankrotts nicht übertreibt, hält er eine Anhebung der Steuern am oberen Ende der Tarifkurve für die bessere Lösung (266). Informativ und unterhaltsam ist sein Exkurs zur Geschichte der Staatsbankrotte, gewürzt mit Versen aus Goethes Faust. Mancher Theoretiker hätte einen Bezug zu Ricardos Äquivalenztheorem erhofft. Es kann, selbst wenn man es nicht vollständig teilt, dazu beitragen, dem Dämon Staatsverschuldung etwas von seiner bösartigen Aura zu nehmen.
Alternativen zu beschreiben und sie zu verwirklichen, sind zwei verschiedene Schuhe. Leibiger weiß das. Sein Buch könnte aber immerhin links gesinnten Politikern Mut machen, die Spielräume zu nutzen, die der Autor zu erkennen glaubt. Von der Kühnheit, den Verstand zu gebrauchen, spürt man bei Linken, die in Regierungsverantwortung gekommen sind, zuweilen sehr wenig. Anstelle von Sisyphusarbeit für mehr Gerechtigkeit überwiegen Anpassung und Resignation. Es reicht nicht, Linke und demokratische Kräfte in Verantwortung zu bringen. Wichtiger ist, herauszufinden, wie man sie daran hindern kann, dort ihre hehren Ideale und ihre soziale Programmatik zu vergessen, wenn sie für das Gegenteil davon bezahlt werden.
So gesehen erweist sich Leibigers alternative Finanzfibel als eine Aufklärungsschrift im besten Sinne des Wortes. Sie will uns sagen: „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“ (Immanuel Kant)
Ein letztes Wort am Rande: Was immer auch den Verlag bewogen haben mag, das Werk mit englischem Titel auf den deutschen Markt zu bringen, er hätte wenigstens bedenken sollen, dass „reclaim“ zurückgewinnen bedeutet. Wiedergewinnen aber kann man nur Verlorenes. Und verloren haben kann man nur, was man besaß. Wo und wann hat es in der Geschichte jemals jene Staatshaushalte gegeben, für die sich der Autor stark macht? „Claim the Budget“ wäre dem deutschen Leser vermutlich auch nicht verständlicher gewesen. Aber es wäre immerhin semantisch und historisch korrekt.
Klaus Müller