Karl Heinz Roth, „Die globale Krise. Band 1 des Projektes ‚Globale Krise – Globale Proletarisierung – Gegenperspektiven’“, VSA, Hamburg 2009, 335 S., 22,80 Euro.
Wer strategisch handlungsfähig sein möchte, muss die wesentlichen Triebkräfte von Veränderungen wahrnehmen, Kontinuitäten und Brüche erkennen sowie das Tagesaktuelle in diesem Kontext bewerten können. Dies gilt für Linke in Zeiten der Krise in besonderer Weise: Sowohl Defizite in der Theorie als auch die Vernachlässigung des Tagesaktuellen – des Politischen, des Praktischen – verbauen Alternativen. Karl Heinz Roth ist sich dieser Notwendigkeit zur Synthese bewusst. Sein Buch „Die globale Krise“ setzt aber vor allem Maßstäbe für die weitere Debatte um Ursachen und Wirkungen der gegenwärtigen Krise.
Dabei ermöglicht ihm sein vorwiegend auf Wirtschaftsmeldungen der Neuen Zürcher Zeitung basierendes Krisentagebuch zunächst eine sorgfältige Rekonstruktion des bisherigen Krisenverlaufs (18-52) sowie der Gegenmaßnahmen der globalen Eliten (53-143). Im zweiten Teil bemüht sich Roth um eine Verortung der Krise innerhalb der Geschichte des industriellen Kapitalismus. Mit Hilfe der Marxschen Krisentheorie und der Kondratjewschen Theorie der langen Wellen bestimmt Roth die gegenwärtige Krise schlüssig als Schlusspunkt des vorherigen Zyklus der kapitalistischen Entwicklung (von 1966/67 bis 2006/07) und zugleich als Anfangspunkt des neuen kommenden Zyklus.
Der vorherige Zyklus war, so Roth, durch einen doppelten Generationenwechsel eingeleitet worden, der neue Bedürfnisse der Lebensgestaltung (144) durchsetzte, neue Technologien sowie eine veränderte Produktionsorganisation einführte und eine neue internationale Arbeitsteilung etablierte. Im Laufe des Zyklus machten sich die negativen Folgen dieser Entwicklungen verstärkt in Form von struktureller Unterbeschäftigung fortschreitenden Proletarisierungstendenzen, neuem Kolonialismus und in einer globalen Umweltkrise bemerkbar. Schließlich benennt Roth, unter Rückgriff auf Rosa Luxemburg, die strukturelle Unterkonsumtion und die sich zuspitzende Überakkumulation als Ursache und Auslöser der gegenwärtigen Finanz- und Wirtschaftskrise, die den Endpunkt des Zyklus bilde (61).
Die Reaktion der Kapitalseite auf diese Krise bestehe nicht nur in den unzähligen Geldmarktinterventionen sowie Rettungspaketen, die Zentralbanken und Regierung seit Beginn der Krise lanciert haben und deren Kosten letztlich die Subalternen tragen sollen; sondern auch in einer qualitativ neuartigen Inwertsetzung der Natur durch die kapitalistische Gesellschaftsformation, die von der Ausbeutung der lebendigen Arbeit und des Bodens auf das Wasser und die Atmosphäre ausgeweitet werde (243). Mit der „Kohlenstoffdioxid Allowance Unit“ (242) sei nun ein allgemeines Wertäquivalent für einen in der Phase der ursprünglichen Akkumulation befindliche Ökokapitalismus geschaffen worden, welches bislang allerdings weder zu einer Verhinderung noch zu einer Verlangsamung der globalen Erwärmung beigetragen habe. Zugleich sei derzeit – durch den Aufstieg der großen Schwellenländer Brasilien, Indien, China (195-207) – eine neue Konfiguration der Muster von Dependenz und Unterentwicklung zu beobachten, während Unterentwicklung im Rest des Globalen Südens aber anhalte (182-194). Die historische Dimension dieses Umbruches und dessen Ursachen wird von Roth erkannt und prägnant benannt: Die Finanzierung der US-Leistungsbilanzdefizite durch chinesische Kapitalzuflüsse ermöglichte in den USA eine gewaltige Konsumexpansion, die half, den Mehrwert zu realisieren, der durch die Überausbeutung der chinesischen Arbeiterinnen und Arbeiter geschaffen wurde (206). In dieser Symbiose fungiere China nicht nur als verlängerte Werkbank der Welt, sondern bilde dabei zugleich die Hausbank der US-Ökonomie (205).
Im dritten Teil möchte Roth mit der vergleichenden Analyse der bisherigen Weltwirtschaftskrisen Distanz schaffen und den Blick für „das Wesentliche“ – die Triebkräfte und Wirkungsmechanismen der aktuellen Krisendynamiken – schärfen (246). Diesem Unterfangen widmet er insgesamt 90 Seiten – das letzte Drittel des Buches. Die drei vergangenen tiefen Krisen der Weltwirtschaft konstituierten sich dabei – wenig überraschend – aus dem zyklischen Spiel von Unterkonsumption, Überakkumulation und Spekulation. Gleichwohl bleibt die Analyse nicht im Strukturalismus stecken, sondern stellt Bezüge zwischen Krisenintensität, Krisenbekämpfung, Krisendauer und Klassenhandeln her. Dabei bilde das Währungsregime das wichtigste Instrument der Eliten und Regierungen zur Krisenbekämpfung. Vor allem in der Weltwirtschaftskrise von 1873 bis 1879 habe der Goldstandard deflationierend und damit Krisen verschärfend gewirkt und das Entstehen der bis 1896 anhaltenden „langen Depression“ begünstigt (265). Erst während der „Großen Depression“ der 1930er Jahre war vor allem in den USA und Großbritannien der Goldstandard in Frage gestellt worden, gleichwohl war die Abkehr vom Goldstandard Instrument einer protektionistischen Handelspolitik, die wiederum Krisen verschärfend gewirkt habe. Während Großbritannien versuchte, durch eigene Schutzzölle sowie einen verschärften Zugriff auf „seine“ Kolonien, die Folgen des internationalen Protektionismus für sich selbst abzumildern, operierten die USA mit einer Mischung aus bilateralen Handelsabkommen und sozialer Reform (313), derweil setzten Japan, Italien und vor allem das Deutsche Reich auf offene militärische Aggression zur Schaffung eigener „Großwirtschaftsräume“. Die sowjetische Wirtschaftspolitik „eines schwerindustriell begründeten ‚Sozialismus in einem Land’“ betrachtet Roth als ein „von Anfang an aussichtsloses Unterfangen“ (320). Trotz überwiegend endogener Ursachen (318) habe dabei die Große Depression, vermittelt durch den gesunkenen internationalen Getreidepreis (319), „den Rückzug zu einem gemäßigteren Industrialisierungstempo abgeschnitten“ und die „stalinistische Führung zur Flucht nach vorn“, zur forcierten Schwerindustrialisierung getrieben (319/320). Die Krisen wirkten auch als Katalysatoren für Urbanisierung, Migration oder auch für zeitweilige Rückkehr zur Subsistenz; diese Praktiken der globalen Unterklassen trieben die Entwicklung des Kapitalismus weiter voran. Von entscheidender Bedeutung war sich politisch artikulierender Reformdruck von unten, der zusammen mit technischen Innovationen die Dynamik der langen Wellen trieb. Die Niederlagen der Unterklassen bereiteten dabei stets auch die Krisen vor, denn sie ermöglichten aufs Neue die Spirale von Unterkonsumption, Überakkumulation, Spekulation und Krise.
Abschließend beschäftigt Roth in einem kurzgehaltenen Ausblick die Frage nach der Gestalt des weiteren Krisenverlaufs. Verglichen mit der letzten Krise von 1929 bis 1932 verlaufe die gegenwärtige flacher, da die heutigen Maßnahmen der Krisenbekämpfung in einem internationalen Rahmen stattfänden, der deflationäre Praktiken und Protektionismen weitgehend unterbinde (332). Gleichwohl hänge sehr viel davon ab, ob und inwieweit das „Multiversum der Unterklassen“ einen Reformdruck erzeuge, der helfe, die Krise oder eine wohlmöglich heranziehende Depression zu überwinden (331/332). Diesem „Multiversum“, widmet Roth – konsequent operaistisch – einen zweiten Band, den er unter dem Titel „Das Multiversum: Globale Proletarisierung – Gegenperspektiven“ in Aussicht stellt. Wir dürfen gespannt sein, wie diese konkret aussehen – angekündigt werden sie als „Umrisse eines Übergangsprogrammes zur selbstbestimmten Gesellschaft“ (335). Die Frage nach den bislang (methodisch) ausgeklammerten Handlungsoptionen der Subalternen gewinnt an Virulenz und ein zweiter Band ist nicht nur sinnvoll, sondern notwendig.
Axel Gehring