Buchbesprechungen

Die Gesellschaft, die BRD und das Grundgesetz

von David Salomon zu Peter Römer
Juni 2010

Peter Römer: Das Recht der Gesellschaft und der Bundesrepublik Deutschland, Beiträge Bd. 2, dialectica minora 20, Dinter-Verlag, Köln 2009, 235 S., 14,90 Euro.

Peter Römer: Die Verteidigung des Grundgesetzes, Beiträge Bd. 3, dialectica minora 21, Dinter-Verlag, Köln 2009, 235 S., 14,90 Euro.

Die Aufsätze, die Peter Römer in den zweiten und dritten Band seiner insgesamt fünfbändigen Sammlung von „Beiträgen“ aufgenommen hat, verbinden die Reflexion auf Grundsätzliches mit konkreten Analysen des Verfassungsrechts und der Verfassungswirklichkeit in der Bundesrepublik. Peter Römer arbeitet klar heraus: Rechtstexte sind keine Offenbarungstexte, sondern auf bestimmte und bestimmbare Akteure zurückgehende, grundsätzliche Regelungen für das gesellschaftliche Leben in einem Staat: „Das Recht, um dessen Erkenntnis es geht, ist das Produkt menschlicher Praxis, ist keine Spielart des Naturrechts. Es ist immer in irgendeiner Form durch Menschen gesetzt worden, ist mithin positives Recht.“ (Bd. 2, S. 44) – „Eine Rechtsnorm und ihre Geltung beruht auf einem menschlichen Willensakt. Es gilt der Grundsatz: Kein Imperativ ohne Imperator.“ (Bd. 2, S. 53) Dass dem rechtsetzenden „Willen“ indes nicht die Rolle der „letzten Instanz“ im Rechtsschöpfungsvorgang zugesprochen werden kann, wird ebenso klar betont: „Es ist wesentlich, daß die Illusion, das Recht beruhe auf dem freien Willen der Normsetzer, aufgelöst wird. Der Erkenntnis von Interessen, dem Bewußtwerden von Bedürfnissen und dem Willen, Bedürfnisse – hier die nach rechtlichem Schutz von Interessen – zu befriedigen, ist vorgelagert die Erkenntnis der gesellschaftlichen Wirklichkeit: Insofern spiegelt sich im Recht die gesellschaftliche Wirklichkeit wider.“ (Bd. 2, S. 49) Gesetzestexte, zumal Verfassungen, sind somit historische Dokumente, Ausdruck der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse zum Zeitpunkt ihres Entstehens und Festschreibung von Zielen und Grundsätzen für eine durch die Geltungsdauer des Verfassungstextes bestimmte Zukunft. Der Rechtscharakter von Verfassungsgesetzen (wie von Gesetzen überhaupt) besteht in dieser Festschreibung und damit ihrer allgemeinverbindlichen Aktualität. Dies unterscheidet geltende Gesetzestexte von anderen „historischen“ Quellen: „Das Recht enthält keine Be-schreibungen, sondern Vor-schreibungen. Es sagt, was sein soll, nicht, was ist. Es schreibt den Menschen vor, was sie tun oder unterlassen sollen. Auch sagt es, was die Rechtsunterworfenen dürfen, was ihnen von Rechts wegen erlaubt ist zu tun und wozu sie rechtlich befugt sind.“ (Bd. 2, S. 109) Diese Perspektive untersucht Recht als ein „System von Normen, die Imperative für ein bestimmtes Tun oder unterlassen beinhalten [...]“ (Bd. 2, S. 7) und fragt nach seiner Geltung. Die Fragen danach, ob das Gemeinwesen, für das Recht geschrieben wurde, sich an diese Vorschreibungen hält oder nicht, ob seine Exekutive es ausführt oder bricht, seine Judikative es spricht oder verbiegt, zielen hingegen auf seine Wirksamkeit. Die Frage danach, ob es lohnt, bestehendes Recht gegen eine gesetzeswidrige Wirklichkeit zu verteidigen oder umgekehrt ein dieser Wirklichkeit gemäßes neues Recht zu fordern ist – wie jede Neuschöpfung von Recht – keine bloß juristische, sondern eine politische Frage. Auch die Forderung nach einem neuen Recht entbindet Römer zufolge jedoch nicht der Analyse geltender Normen: „Die richtige, die wahre Beschreibung der Rechtsnorm im Rechtssatz [...] erfolgt aufgrund eines spezifischen Interesses, dessen Berechtigung zunehmend in Frage gestellt wird. Dieses Interesse richtet sich nicht, um dies Mißverständnis von vornherein auszuschließen, auf die Affirmation des jeweiligen Inhalts des positiven Rechts. Die richtige Widerspiegelung der Rechtsnorm im Rechtssatz kann gerade Anlaß zur radikalsten Kritik an der Norm sein und kann den Boden bereiten für die Organisation des Kampfes um deren Aufhebung. Das Interesse ist also nicht auf eine inhaltlich bestimmte Rechtsordnung bezogen, sondern auf die Positivität von Rechtsordnungen überhaupt. Dieses praktische Interesse leitet das Erkenntnisinteresse an der richtigen Erfassung positiven Rechts.“ (Bd. 2, S. 89) Rechtserkenntnis und Rechtssoziologie wie Politik und Legalität sind Römer zufolge nicht aufeinander reduzierbar. Wo sie indes nicht ins Verhältnis gesetzt und aufeinander bezogen werden, wird entweder das Recht der Gesellschaft oder ihre Politik verfehlt. Diese Verhältnisbestimmungen zielen ins Herz des gesellschaftlichen Lebens und bilden den Kern von Römers Aufsätzen.

Der zweite Band der „Beiträge“ ist – ganz dem Titel entsprechend – in zwei große Abschnitte untergliedert, die Römer mit den Überschriften „Geltung und Auslegung rechtlicher Normen“ und „Entstehung und Wandlungen des Grundgesetzes“ überschreibt. Während der erste Teil grundsätzliche rechtstheoretischen Fragen gewidmet ist, wendet sich der zweite der bundesdeutschen Rechtsgeschichte zu. Die Beiträge des dritten Bandes, dessen Titel „Die Verteidigung des Grundgesetzes“ durchaus als programmatisch herausgestellt werden kann, ergänzen die Analysen des zweiten Bands durch exemplarische Fallanalysen der Notstandsgesetzgebung (Bd. 3, Beiträge 2 bis 4), der Berufsverbote und Anhörungsverfahren (Bd. 3, Beiträge 6-8), des „großen Lauschangriffs“ (Beitrag 9), der „Friedenspflicht“, des „Kruzifixstreits“ der neunziger Jahre (Bd. 3, Beitrag 11) und der Diskussion um den Verfassungsrechtler Dreier im Kontext der nach dem Fall Daschner geführten Kontroverse um Folter (Bd. 3, Beitrag 12). Somit leisten die Bände zweierlei: Erstens sind sie Einführung in rechtswissenschaftliche Debatten über das Recht in der (bürgerlichen) Gesellschaft im Allgemeinen, der BRD im Besonderen. Zweitens lässt sich an ihnen jedoch auch so etwas wie eine um exemplarische Streitpunkte gruppierte Rechtsgeschichte der Bundesrepublik ablesen. Dass die Texte nicht in der Rückschau verfasst sind, sondern als Beiträge zum Zeitgeschehen formuliert wurden, macht ihre Lektüre um so spannender. Dabei kämpft Römer gleich an mehreren Fronten: Gegen einen linken und linksradikalen Rechtsnihilismus, der die Bedeutung der Positivität von Recht unterschätzt, gegen eine Wertauffassung des Rechts, die – etwa in der Auslegungspraxis des Bundesverfassungsgerichts – ihrerseits positiv fassbares in überpositive Nebelregionen auflöst und im Sinne von Wertabwägungen die Unterordnung einfachen Rechts unter Grundrechte umgehbar macht, gegen die Fetischisierung von Recht als den gesellschaftlichen Reproduktionsbedingungen enthobenes Naturrecht und schließlich gegen zahlreiche Verdrehungen des Grundgesetzes durch Änderung und Auslegung. Dabei erscheinen die weitreichenden Verfassungsänderungen etwa im Zuge der Notstandsgesetze der sechziger Jahre oder die menschenrechtswidrigen Exzesse der Berufsverbote gegen Kommunisten im Kontext einer angeblich „wehrhaften Demokratie“ in den siebziger und achtziger Jahren, nicht lediglich als Episoden eines vergangenen Kalten Krieges, sondern werden als Anlässe gesellschaftlicher Auseinandersetzung lebendig und als Versuche zu Ungunsten progressiver Kräfte veränderten Verhältnissen Verfassungsrang einzuräumen. Dies lädt nicht bloß ein zum Vergleich zwischen dem Demokratieabbau von gestern und heute, sondern macht Recht, zumal Verfassungsrecht, als lebendiges und umstrittenes Feld sozialer Praxis begreiflich. Auch deshalb sollten Römers Aufsätze Pflichtlektüre sein: für Juristen und Sozialwissenschaftler.

David Salomon