Robert Steigerwald, Unten, wo das bürgerliche Leben: Über Philosophie und Philosophen, Kulturmaschinen-Verlag, Berlin 2010, 168 S., 16,80 Euro
„Unten, wo das bürgerliche Leben konkret ist“, lautet ein Zitat des Philosophen Hegel, welches darauf hindeutet, dass bereits Hegel die realen Klassenverhältnisse in der bürgerlichen Gesellschaft erkannt hat. Aus diesem Zitat ist auch der Titel des vor Kurzem im Verlag Kulturmaschinen erschienen Buches von Robert Steigerwald abgeleitet. „Marx hat Hegel vom Kopf auf die Füße gestellt“, heißt ein häufig gehörter Ausspruch in der politischen Linken. Aber was bedeutet das genau?
Steigerwald erinnert daran, dass Hegel in „unbestechlicher Offenheit“ die Struktur und die Widersprüche der bürgerlichen Gesellschaft – auch das Problem zunehmender Verarmung der nichtbürgerlichen Schichten – ausgesprochen hat, aber dabei an die Grenzen seines philosophischen Ansatzes stieß. Insofern ist der Übergang von Hegel zu Marx komplexer, als die überlieferten Theoriemythen es wahrhaben wollen. Steigerwalds Niveau zeigt sich darin, dass er Hegel und andere bürgerliche Denker in ihrem philosophisch-analytischen Wert erfasst und ins Recht setzt – Denker, deren Themen allerdings erst durch die Marxsche Aufsprengung der bürgerlichen Philosophie konkretisiert werden konnten: durch die genaue Analyse der materiellen Produktion. So wird hier, wie in den anderen Aufsätzen des Buches, deutlich, was der zentrale Unterschied zwischen dem Marxismus und den bürgerlichen Theorien ist: Die „Zweidimensionalität“, wie Steigerwald in Anlehnung an Marcuses „Eindimensionalen Menschen“ es nennt. Von der Zweidimensionalität her, also von der philosophischen Begründung einer möglichen Überwindung der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft, setzt sich Steigerwald mit Schlüsselthemen der Gegenwartsphilosophie auseinander: Einer der wirkmächtigsten Philosophen, bis in die Gegenwart hinein, wenn man etwa an die Entstehung der französischen Postmoderne denkt, ist Friedrich Nietzsche. Anhand einer Diskussion von Domenico Losurdos großem marxistisch orientiertem Nietzsche-Buch umreißt Steigerwald den Denkhabitus Nietzsches. Auch hier verfolgt Steigerwald seine Strategie des vernunftgeleiteten, bewusstmachenden und „eingreifenden Denkens“, indem er zeigt, wie bei Nietzsche an die Stelle rationaler Begriffe mythologische Bilder treten. Steigerwald plädiert für eine Lektüre des anstrengenden und 1.100 Seiten umfassenden Buches von Losurdo1, welches, wie er sagt, nicht nur ein Buch, sondern auch eine Tat der politischen Orientierung und Aufklärung über bürgerlich-mythologisches Denken ist.
In einem anderen Aufsatz arbeitet Steigerwald die Erkenntnis des Historischen Materialismus heraus, der besagt, dass die Gesellschaft kein beliebiges Aufeinandertreffen willkürlich handelnder Einzelwillen ist – wie es die bürgerliche Philosophie will –, sondern Gesetzmäßigkeiten unterliegt. Hier, beim Begriff der gesellschaftlichen Gesetzmäßigkeit wäre eine stärkere Auseinandersetzung des Autors mit den „freudomarxistischen“ Theoretikern wie etwa Helmut Dahmer, der in der Tradition von Adorno den Kapitalismus als „Pseudonatur“ und „Wiederholungszwang“ deutet, wünschenswert gewesen: Diese erkannten, dass die Gesetzmäßigkeit nur deshalb wirkt, weil die handelnden Menschen nicht durchschauen, dass sie selbst die Strukturen, Gesetze und Institutionen gleichsam gesellschaftlich unbewusst immer wieder herstellen: Die Gesetzmäßigkeit wirkt, aber sie ist auch Schein. Steigerwald verdinglicht die Gesetzmäßigkeit der gesellschaftlichen Entwicklung und rückt sie in die Nähe einer Analogie zu Naturgesetzen. Die Ablehnung einer selbstkritischen Reflexionsebene, die dem Marxismus durchaus gut tun würde, macht sich auch bei Steigerwalds Auseinandersetzung mit der Kritischen Theorie der Gesellschaft bemerkbar. Marxistisches Denken lief immer schon Gefahr, in der Verdinglichung und Dogmatisierung von Begriffen zu erstarren und so auch zu einer falschen Praxis zu führen. Dieser Gefahr der Verdinglichung, die aus vielen kommunistischen Gruppen und Zirkeln nur allzu bekannt war, kann man durchaus mit Adornos Besinnung auf den Herrschaftscharakter des philosophischen Begriffs überhaupt begegnen, die uns dazu anhält, aus der Ideologie „hinauszuschauen“ und beständig auf die „Nichtidentität“, also auf die Realität der Sache selbst zu reflektieren – und so den Begriff weiterzuentwickeln. So könnte man als Marxist Adorno fruchtbar machen. Steigerwald übt scharfe Kritik an der Negativen Dialektik Adornos und sieht in ihr eine Form der Dialektik, die politisch gesehen zum Nihilismus führt. Soweit richtig; aber gut wäre es gewesen, dennoch zu fragen, was der klassische Marxismus von der Kritischen Theorie lernen kann. Mit einer wahnhaft gewordenen Form des Identitätsdenkens, welches in Freund und Feind starr und erbarmungslos unterteilte, hat die politische Linke ja durchaus Erfahrungen, die aufgearbeitet werden müssen. Zu Recht weist Steigerwald allerdings den triebstrukturellen Revisionismus Marcuses und die Verdunklung des Begriffs der Produktionsverhältnisse im „System“ durch Habermas zurück.
Insgesamt gelingt es Steigerwald, die Orientierungsfunktion der marxistischen Philosophie in Kraft zu setzen, nicht als genaue Praxisanleitung, aber indem sie einen historischen Horizont, der über die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft hinausgeht, allgemein nachvollziehbar aufweist. Ein Mangel dieser allgemeinen Nachvollziehbarkeit war bislang, dass sie sich in philosophischen Termini und extrem komplexen Sprachgebilden ausdrückt und somit immer nur einer kleinen Minderheit in der Linken wirklich zugänglich war. Nicht zuletzt der klare Stil Robert Steigerwalds macht das Buch lesenswert, man kann es Geisteswissenschaftlern ebenso empfehlen wie politisch-philosophisch interessierten Menschen überhaupt. Die philosophische Qualität des dialektisch-materialistischen Denkens wird deutlich, wenn sich der Autor mit dem biologistisch verkürzten und klassenstrukturell unreflektierten Konzept des „evolutionären Humanismus“ als neuester Spielart eines bürgerlichen Positivismus auseinandersetzt. Mit der verkürzten Religionskritik schüttet der evolutionäre Humanismus gleichsam das Kind der Religion – die transzendierende Gesellschaftskritik – mit dem Bade des fanatischen Atheismus aus. So wird bei Steigerwald deutlich, dass die marxistische Philosophie an zwei Fronten kämpft, einmal gegen den geistverneinenden Positivismus, der die Naturwissenschaften zu einer Ideologie macht und gegen die idealistische Selbstverkennung des Geistes in der Religion oder in bestimmten Spielarten der bürgerlichen Philosophie.
Insgesamt zehn Aufsätze setzen sich mit zeitgenössischen Schlüsselthemen der philosophischen und weltanschaulichen Diskussion auseinander, so etwa neben den bereits genannten Themen mit dem „intelligenten Designer“ und dem christlichen Kreationismus, mit dem Verhältnis von Philosophie und Naturwissenschaft oder in einem offenen Brief an den Erzbischof Dr. Reinhard Marx mit dessen christlich inspirierter Kritik am Marxismus. Aber auch die philosophische Schlüsselstelle des Übergangs der Feuerbachschen Religionskritik zur Marx’schen Theorie der Praxis wird transparent gemacht. Im Sinne des Autors ist es wohl, wenn man die Aufsätze nicht als schöngeistige Philosophie sieht, sondern als Arbeitsinstrumente, die man in Gebrauch nimmt und die einem bei der philosophischen Orientierung helfen. Trotz eines zu wenig reflektierten Begriffs der gesellschaftlichen Gesetzmäßigkeit und dem Ausweichen gegenüber der impliziten Kritik der Kritischen Theorie am klassischen Marxismus ist das Buch Steigerwalds ein philosophischer Lichtblick der Vernunft inmitten der gegenwärtigen Philosophie, die entweder im formalistischen, postmodern-irrationalen oder verkürzt-naturwissenschaftlichem Gewande ihre kritische, transzendierende Funktion verloren hat und an den gesellschaftlichen Betrieb weitestgehend angepasst ist. Nur Philosophie kann der politischen Linken ein Bewusstsein geben, mit dem sie ihre Perspektive über den Tageskampf hinaus durchhalten kann.
Tobias Fabinger
1 Vgl. die Vorstellung des Buches durch R. Sorg, Z 80, Dezember 2009, S. 119-129.