Buchbesprechungen

Wirtschaftsgeschichte Lateinamerikas

von Dieter Boris zu Jörg Roesler
Juni 2010

Jörg Roesler, Kompakte Wirtschaftsgeschichte Lateinamerikas vom 18. bis zum 21. Jahrhundert. Leipziger Universitätsverlag, Leipzig 2009, 242 S., 19 Euro

Über außereuropäische Geschichte ist hierzulande wenig bekannt. In unseren Schulen, im öffentlichen Bewusstsein, aber auch in den Verlagsproduktionen kommen die außereuropäischen Völker und Gesellschaften in ihrer geschichtlichen Entwicklung selten vor. Daher ist es bemerkenswert, dass in den letzten Jahren im deutschsprachigen Raum vier Publikationen zur allgemeinen Geschichte Lateinamerikas erschienen sind. Allerdings sind jene Arbeiten, die sich speziell der Wirtschafts- und Sozialgeschichte des Subkontinents widmen immer noch rar gesät. Umso begrüßenswerter ist es daher, dass der Berliner Wirtschaftshistoriker Jörg Roesler nun seine „Kompakte Wirtschaftsgeschichte“ vorgelegt hat.

In etwa gleich langen zwölf Kapiteln werden die wichtigsten ökonomisch-politischen Etappen der Entwicklung behandelt: die Unabhängigkeitsperiode, einschließlich ihrer Vorgeschichte (von ca.1750-1825), die frühe Phase der Nationenbildung (1825-1850), Blüte und Niedergang des Export-Import-Systems (ca.1850-1930), die Wende zur binnenmarktorientierten Entwicklung (von ca. 1930 bis etwa 1980) sowie die neoliberale Phase seit den 1980er Jahren und schließlich das erste Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts, das in einer Reihe von Ländern unter der Ägide von Links- oder Mitte-Links Regierungen stand. In einem abschließenden Resümee stellt der Verf. Reflexionen zur Periodisierung der lateinamerikanischen Wirtschaftsgeschichte, zur komparativen Analyse ihrer Entwicklung (z. B. im Vergleich zu ostasiatischen Schwellenländern) und generell zur Erklärung der Rückständigkeit dieser Region an.

Die an ein breiteres Publikum gerichtete Schrift – hervorgegangen aus Vorlesungen in Berlin und Portland (USA) – versucht das bei einem derartigen Vorhaben immer gegebene Dilemma, zwischen zu hoher (und damit den Einzelfall verfehlenden) Allgemeinheit und allzu großer Spezifik der Sonderentwicklung eines Landes vermitteln zu müssen, durch verschiedene methodische Schritte und übergreifende Fragestellungen abzuschwächen. Zum einen vermag es Roesler die teilweise interdisziplinär angelegte Studie unter dem Gesichtspunkt dreier zentraler Spannungsfelder zu organisieren. „Es handelt sich um das Spannungsverhältnis von außenwirtschaftlicher bzw. binnenwirtschaftlicher Orientierung und Entwicklung, das im Mittelpunkt steht; weiterhin wurden von mir das Spannungsverhältnis von ökonomischer und sozialer Entwicklung und das Spannungsverhältnis von wirtschaftlich-sozialer und politischer Entwicklung ausgewählt.“ (10). Zum anderen werden die zur Hauptströmung partiell gegenläufigen Entwicklungstendenzen verfolgt, wie z.B. binnenmarktorientierte Projekte im 19.Jahrhundert (die allesamt scheiterten) oder Versuche einer sozialistischen Alternative im 20. Jahrhundert, am Beispiel von Kuba und Chile. In diesem Zusammenhang steht die noch breiter komparative Herangehensweise des Autors, wenn er z.B. die Spezifik der Binnenmarktentwicklung der USA im 19. Jahrhundert oder die der Entwicklung Taiwans seit ca. 1950 mit bestimmten Defiziten der lateinamerikanischen wirtschaftspolitischen Strategien kontrastiert. Die gelegentliche Auseinandersetzung mit anderen Bewertungen von bestimmten wirtschaftspolitischen Orientierungen, so z. B. seine zutreffende Kritik an der überwiegend negativen Sicht der Importsubstitutionsphase lässt das Werk zusätzlich an scharfer Profilbildung und Attraktivität gewinnen. Generell kann an dieser Stelle angemerkt werden, dass durch die Beifügung eines Personenregisters und Länderindex sowie eines kleinen statistischen Anhangs der Gebrauchswert des sehr lesefreundlich und ästhetisch ansprechend gestalteten Bandes erhöht wird; dieser zunächst sehr positive Eindruck wird allerdings durch Druckfehler, einige falsche Jahreszahlen, falsche Schreibweise von Namen, unübersichtliche Zitierweise (alles Dinge, die durch ein sachkundiges Lektorat hätten vermieden werden können) etwas eingetrübt.

Besonders hervorzuheben ist die ausführliche Darstellung und Analyse der Linkstendenzen seit dem Jahrhundertbeginn (183-214). Zu Recht verweist Roesler in seiner zusammenfassenden Beurteilung auf die Ambivalenz der von den Mitte-Links Regierungen erzielten ökonomischen und sozialen Ergebnisse, die er allerdings – im Unterschied zu anderen Autoren – nicht abstrakt-allgemein bewertet, sondern auf die jeweilige Ausgangssituation des betreffenden Landes, die Traditionen und gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse zurück bezieht. Bei allen Links- und Mitte-Links Regierungen stellt Roesler den Widerspruch (bzw. das Paradoxon) fest, dass diese Regierungen einerseits eine mehr oder minder deutliche neoliberale Wirtschaftpolitik fortsetzen, andererseits eine Sozialpolitik betreiben, die sich klar von neoliberalen Mustern unterscheidet. Zu Recht unterstreicht er, dass das im letzten Jahrzehnt erneut sich herausbildende Export-Import-System hohe Gefahren in sich birgt, weder Nachhaltigkeit zulässt noch eine höhere Autonomie gegenüber Fremdeinwirkungen des Weltmarkts und der auf Lateinamerika gerichteten externen Politiken einschließt. Die These, dass durch die aktuelle Weltwirtschaftskrise dieses Paradoxon aufgelöst und eine gänzlich neue wirtschaftspolitische Richtung eingeschlagen werden könnte, scheint allerdings verfrüht zu sein; auch die Kennzeichnung aller interventionistischen - wenn auch kapitalkonformen - Politik (z.B. in der Preis-, Kredit-, Geld- und Währungspolitik der Kirchner-Regierung in Argentinien) als „neoliberal“ scheint dieses Adjektiv doch allzu sehr zu dehnen.

Zutreffend unterstreicht Roesler in seinen abschließenden Reflexionen, dass – entgegen dem wirtschaftswissenschaftlichen Mainstream – die Wachstumsraten in Lateinamerika während längerer Perioden nicht notwendigerweise mit der Außenhandelsdynamik und der stärkeren Weltmarkteinbindung positiv korrelieren. Dem „Zeitgeist“ entsprechend scheint z. B. das Faktum „vergessen“ zu sein, dass Lateinamerika seinen Anteil am Welt-BIP spürbar im Zeitraum von 1950 bis 1975 (der Hauptphase der binnenorientierten Importsubstitution!) erhöhte, gleichzeitig aber sich sein Anteil am Welthandelsvolumen verringerte (219). Im übrigen macht Roesler darauf aufmerksam, dass die These von der absoluten oder relativen Rückständigkeit Lateinamerikas und der wachsenden Auseinanderentwicklung bedeutender sozialer Indikatoren (im Verhältnis zu den entwickelten Industrieländern) vielfach der Wirklichkeit nicht entspricht, da häufig als Vergleichsmaßstab die USA, nicht aber andere Regionen oder der Weltdurchschnitt dabei zugrunde gelegt werden. Sowohl endogene wie exogene Faktoren, die in der Regel ineinander verschränkt sind, können als Ursachen der relativen Rückständigkeit Lateinamerikas gelten: Die ausgebliebenen durchgreifenden Agrarreformen in fast allen Ländern, die damit und mit weiteren internen Faktoren zusammenhängende extreme sozio-ökonomische Ungleichheit sowie die seit der Unabhängigkeit sich kaum in den Grundmustern verändernde starke Außenabhängigkeit stellen zweifellos zentrale Dimensionen der Erklärung dar. Diese Faktoren/Dimensionen dürfen aber nicht mechanistisch missverstanden werden. Sie wurden und werden letztlich von einer spezifischen Sozialstruktur getragen und sind wiederum Ausdruck derselben, und letztlich dafür verantwortlich, dass eine relativ homogene und nach außen sich vergleichsweise autonom artikulierende Gesellschaft und Wirtschaft nicht – wie in den Metropolenländern – entstehen konnte. Insofern können externe und interne Determinanten der Entwicklung nicht – wie es immer wieder oberflächliche Kritiker einer überaus vereinfachten Dependenzthese tun – gegeneinander ausgespielt werden. Denn es ist kaum zu bestreiten, dass häufig genug in Lateinamerika gerade dann Pressionen oder Interventionen von außen erfolgten, wenn neue soziale Trägergruppen sich anschickten, die traditionellen Entwicklungsbarrieren zu überwinden. Immer wieder wurden derartige Versuch mit Gewalt unterbunden, um das von internen und externen herrschenden Gruppierungen (wie z.B. der einheimischen Land- und Handelsoligarchie sowie ausländischen Investoren, Exporteuren und Bankkapitalisten) getragene Wirtschaftsmodell zu bewahren. Es ist ein besonderer Verdienst Roeslers, eine sehr gut zu lesende „kompakte Wirtschaftsgeschichte Lateinamerikas“ vorgelegt zu haben, welche nicht nur „alte Wahrheiten“, sondern auch gute und neue Argumente enthält und einen Zeitraum umfasst, welcher so noch nicht Gegenstand einer eingehenden Analyse gewesen ist.

Dieter Boris