Buchbesprechungen

Chronik der NATO

von Werner Ruf zu Lothar Schröter
Juni 2010

Lothar Schröter, Die NATO im Kalten Krieg. Die Geschichte des Nordatlantikpaktes bis zur Auflösung des Warschauer Vertrages. Eine Chronik, Kai Homilius Verlag, Berlin 2009, 2 Bände (zusammen 1196 S.), je 34,80 Euro

Der Autor ist Major a. D. der Nationalen Volksarmee der DDR und lehrte von 1974 bis 1990 am Militärgeschichtlichen Institut der DDR in Potsdam. Das Anliegen seiner Chronik ist es, „Vergessenes in Erinnerung zu rufen, Verschüttetes freizuschaufeln, Verdecktes zu beleuchten, Übergangenes ans Licht zu holen und verschobene Gewichte wieder in die Waage zu bringen“ (8). Denn, so sein Verweis auf Feldmarschall Montgomery: „Die Geschichtsschreibung ist der zweite Triumph der Sieger über die Besiegten.“ (7) Diesem Anliegen widmet Schröter seine gigantische Chronik. Dabei geht es ihm nicht um eine apologetische Gegengeschichtsschreibung, die die Sowjetunion und die Warschauer Vertragsorganisation ihrerseits auf den Sockel eines Friedensdenkmals setzen soll. Im Gegenteil: Der Autor sieht auch die politischen Fehler der Führungsmacht des „sozialistischen Lagers“, die ihrerseits der westlichen Vormacht Vorlagen für die Rechtfertigung ihrer Bündnis- und Rüstungsanstrengungen lieferte: „Außerordentlich begünstigend für den Kurs des Westens war die durchgängige Übertragung des sowjetischen Gesellschaftsmodells auf die von der Roten Armee befreiten Staaten Osteuropas und die eigene starre Haltung Moskaus im Gefühl, die unangefochtene Siegermacht im Zweiten Weltkrieg gewesen zu sein. Die Verkündung der … Zwei-Lager-Theorie … (und die) vormundschaftliche und autokratische Führung des sozialistischen Lagers durch Stalin und seine Nachfolger sowie gewagte militärische Machtdemonstrationen trugen … maßgeblich dazu bei, die Mitglieder der NATO im Pakt zusammenzuschweißen.“ (46f.) Denn: Keineswegs hätten alle NATO-Partner von 1949 „die Spaltung Europas, den Kalten Krieg und den Rüstungswettlauf der folgenden Jahre gewollt“ (47).

Der Chronik vorangestellt sind ein Vorwort und eine Einleitung, die die NATO in den Kontext der US-amerikanischen grand strategy der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts stellt. Es folgt eine knappe Analyse (23-76) der Hintergründe und des Beginns der militärischen Blockkonfrontation, die vor allem die in ihren Dimensionen unterschiedlichen Integrations- und Disziplinierungsfunktionen des Bündnisses herausarbeitet, die Zeit des Kalten Krieges auch als eine Phase des (zumindest relativen) Respekts vor dem Völkerrecht und der Charta der Vereinten Nationen benennt und den Wandel der NATO zu einem international agierenden Interventionsbündnis nach Ende der Bipolarität beschreibt.

Doch Schröters Anliegen ist es nicht, eine neue Geschichte der NATO oder des Kalten Krieges zu schreiben, auch wenn er wichtige Thesen formuliert, die der Analyse und Vertiefung bedürfen und für die seine Chronik eine hervorragende Ausgangsbasis liefert. Sein zentrales Anliegen ist es, minutiös Fakten, Ereignisse, Konferenzergebnisse, Beschlüsse nach ihrem Datum geordnet aufzulisten. Manche inhaltliche wichtige Ereignisse/Strukturen wie etwa die Geheimorganisation Gladio finden allerdings eine Querschnittsbetrachtung. Folgerichtig beginnt die Chronik im Jahre 1949. Gegliedert nach Jahren endet sie 1991. In der Darstellung wird nicht mehr auf Quellen verwiesen – der Apparat hierzu hätte das ohnehin gigantische Kompendium auf den doppelten Umfang erweitert. Dank des Internets ist es problemlos möglich, die genannten Ereignisse, Begriffe, Daten für weitere Forschungen im Detail zu verfolgen.

Zur Orientierung liefert der Autor am Ende des zweiten Bandes mehrere umfassende Register: Ein Abkürzungsverzeichnis, das angesichts der in der Politik- und Militärsprache üblich gewordenen Abkürzungen absolut unverzichtbar geworden ist und das von der Auflistung von Organisationen bis zur Bezeichnung von Waffentypen reicht. Diesem folgt ein Namensregister, ein komplettes who is who aller Personen, die im Zusammenhang mit NATO und Kaltem Krieg in Erscheinung getreten sind. Ein Sachregister nennt alle Strukturen, Verträge und Organisationen, wobei hier bisweilen zwischen dem Abkürzungsverzeichnis und dem Sachregister hin- und hergeblättert werden muss. Erschöpfend ist ebenfalls das geografische Register, das schnelle Rückgriffe auf die in der Chronik behandelten Kontexte erlaubt. Und schließlich ein Technikregister, das vor allem die Waffensysteme beider Seiten auflistet und damit auch ein schnelles Auffinden des Zeitpunkts ihrer Entwicklung und Indienststellung ermöglicht. Lothar Schröter hat hier eine in ihrer Art einzigartige Sisyphos-Arbeit geliefert, die weit über das hinausgeht, was man beispielsweise von einem Handbuch erwarten kann: So liefern diese Register einen schnellen und präzisen Zugriff auf Ereignisse und Phasen des Konflikts, auf die Wechselwirkungen zwischen der Einführung von Waffensystemen und politischen Reaktionen auf reale oder wahrgenommene Bedrohungen, auf das Agieren von Personen und Interessengruppen.

Diese Chronik, sieht man von den wichtigen und sehr verdichteten einleitenden Texten ab, ist keine Lektüre. Sie ist ein Nachschlagewerk von herausragender Bedeutung, auf das niemand verzichten kann, der sich nicht in Allgemeinplätzen über die Zeit des Kalten Krieges auslassen, sondern seriös und solide die für den Planeten wohl gefährlichste Phase der Weltgeschichte untersuchen will. Vor allem aber trägt dieses Mammut-Werk dazu bei, Grundlagen zu liefern für eine sachliche und sachkundige Behandlung des Systemkonflikts und seiner militarisierten Dimension. Der herrschenden Geschichtsschreibung ist zu wünschen, dass sie dieses Kompendium zur Kenntnis nehmen möge, gerade auch, um die Wechselwirkungen von Politik, (waffen-)technologischer Entwicklung, Herrschaftsansprüchen und Strategien im Bereich der Politik wie des Militärs in ihren Kausalitäten wie in ihren Widersprüchen zu erfassen und in ihren – z.T. perversen – Ausformungen zu begreifen. Aus diesem Blickwinkel ist die gewaltige Leistung Schröters ein grundlegender Beitrag zur (nicht nur historischen) Friedensforschung, stellt sie doch die hoch aktuelle Frage, ob Militär noch Mittel der Politik sein kann: Die hier vorgenommene Analyse des Kalten Krieges und seiner bis in ihre Fasern nachgezeichneten Geschichte der NATO beantwortet diese Frage mit einem kategorischen NEIN.

Werner Ruf