Land in Sicht? Die Krise, die Aussichten und die Linke, hrsg. von Hermannus Pfeiffer, PapyRossa Verlag, Köln 2009, 217 S., 14,90 Euro
„Die Krise ist überwunden“ – das scheint die einhellige Meinung in der offiziellen deutschen Politik zu sein. Die Hunderte Milliarden Euro, die in Löcher wie die Hypo Real Estate oder der HSH Nordbank geschaufelt worden sind, haben sich in Wohlgefallen aufgelöst, die Garantiezusagen von einer Billiarde Euro (das Vierfache des Bundeshaushalts) werden fiktiv bleiben, die Stimmung ist gut, die Probleme sind im Griff. Dieses Bild wird auch von der veröffentlichten Meinung recht einheitlich kolportiert. Es hat sich offensichtlich ausgezahlt, dass Kanzlerin Merkel am 8. Oktober 2008 Chefredakteure von „bedeutenden“ Medien zu einem Treffen gebeten hatte, um sie zu einer zurückhaltenden Berichterstattung über die Krise zu veranlassen.
Wie realistisch diese Sicht auf die Wirtschafts- und Finanzkrise ist, damit befasst sich ein Band, den Hermannus Pfeiffer im Frühjahr 2009 herausgebracht hat. Was sind die Ursachen der Krise? Wodurch unterscheidet sie sich von ihren Vorläufern? Wie kann es weitergehen? 16 Autoren unterschiedlicher Couleur setzen sich damit auseinander. Die Frage nach der Zukunft schwingt in allen Beiträgen mit. Hermannus Pfeiffer ist in seiner Einleitung bereit, dem Kapitalismus unter Umständen noch 500 Jahre zu geben – so er sich denn zähmen ließe. Diese (augenzwinkernd formulierte) Großzügigkeit wird nicht von allen Autoren geteilt, aber die Morgenröte der Revolution malt keine/r an die Wand. Georg Fülberth wäre sogar schon bereit, ein tiefgreifendes gesellschaftliches Reformprogramm als revolutionär durchgehen zu lassen. Angesichts der immensen Kosten wäre es ohne Modifikation der Eigentumsordnung nicht realisierbar – so seine Argumentation.
Weitgehende Einigkeit besteht über die Ursachen der Finanzkrise: eine Verschiebung der Macht- und Kräfteverhältnisse zugunsten des Kapitals und als Folge dessen eine aberwitzige Anhäufung von Geldvermögen, das in der „Realwirtschaft“ keine ausreichend rentable Anlagemöglichkeit mehr finden kann. Mit der Liberalisierung der Kapitalmärkte in der Ära Reagan/Thatcher war Anfang der 1980er Jahre der Weg freigemacht worden, um entsprechende Renditen mit Finanzspekulation zu erzielen. Die Regierung Schröder/Fischer sah sich 15 Jahre später bemüßigt, Deutschland auf den gleichen Kurs zu bringen. Zu den Triebkräften und Mechanismen, die die Weltwirtschaft an den Rand des Abgrunds führten, äußern sich im ersten Abschnitt (der inzwischen verstorbene) Jörg Huffschmid („Hinter der Bühne“), Rudolf Hickel („Ein neuer Krisentyp“), Karl Georg Zinn („Wirtschaft ohne Wachstum?“), Harry Nick („Der Urgrund der Krise“) und Andreas Wehr („Währung mit eingebauter Sozialdemontage“). Sie analysieren unterschiedliche Aspekte der Finanzkrise und ihrer Entstehung.
Bei den Alternativen, dem Dachthema des zweiten Abschnitts, sind die Unterschiede zwischen den Autoren deutlicher. Heinz Siebold („Gewerkschaften in der Krise“) stellt fest, dass eine Vision, die machbar erscheint und deshalb die Massen erreicht, nach wie vor nicht erkennbar ist: „Wahrscheinlich überfordert man aber auch die Gewerkschaften, wenn man ausgerechnet von ihnen den Entwurf einer Systemalternative verlangt, die nicht einmal linke Parteien und Theoretiker vordenken.“ Michael Schlecht zeigt in einem „Zukunftsprogramm für die Mehrheit“ Alternativen zur spezifisch deutschen Exportökonomie auf. Statt weiterhin auf Außenhandelsüberschüsse zu setzen, müsse die Binnennachfrage gestärkt werden. In der Verstaatlichung der Banken sieht er einen wirksamen Hebel, um eine anders gerichtete Dynamik der deutschen Volkswirtschaft durchzusetzen.
Sahra Wagenknecht befasst sich mit den Alternativen der Gegenseite: Wie stellt man es sich beim internationalen Finanzkapital, speziell in den USA vor, wie es nach der Krise weitergehen könnte? In erfrischender Sprache werden diverse Szenarien vorgestellt, von denen eines haarsträubender als das andere ist. Einziges Interesse, das jeweils dahinter steht: Das US-Kapital soll möglichst wenig Federn lassen müssen. Wer stattdessen die Zeche zahlt, ist zweitrangig. Auch Wagenknecht sieht in der Verstaatlichung der Banken ein zentrales Instrument, um diesen Plänen etwas entgegenzusetzen.
Manfred Sohn geht in „zehn Thesen zur Vergesellschaftung der Zirkulationssphäre“ noch pointierter hierauf ein. Im Ergebnis eines längeren gesellschaftlichen Wandlungsprozesses sollten nur noch Sparkassen, Landes- und Genossenschaftsbanken die volkswirtschaftlich nötigen Geldfunktionen erfüllen dürfen. Ein Privatbankensektor könne dann unter strenger Aufsicht beibehalten werden – ähnlich wie Spielkasinos und Wettbüros.
Wie eine Vergesellschaftung zentraler Wirtschaftssektoren aussehen könnte, ist das Thema mehrerer weiterer Beiträge. Herbert Schui entwickelt ein Szenario, „wie ein öffentlicher Sektor funktionieren kann“. Christian Gotthard schildert die bedrohliche Macht privaten Eigentums in der Energiewirtschaft. Im Kampf hiergegen sieht er Ansatzpunkte für eine politische Offensive von links, weil die Energiemonopole keinen Rückhalt in der Bevölkerung hätten und es sogar Bündnispartner innerhalb der Branche gebe. Winfried Wolf entwickelt ein alternatives Verkehrskonzept, in dessen Mittelpunkt Verkehrsvermeidung, nichtmotorisierter Verkehr und öffentlicher Transport stehen – zulasten des Autoverkehrs. Alternativen zur derzeitigen Steuerpolitik sind das Thema von Gertraud Lunzer. Bei ihr spielt die länderübergreifende Koordinierung – in der EU und weltweit – eine zentrale Rolle.
Unter dem dritten Dachthema „Perspektiven“ befasst sich – neben Georg Fülberth mit seiner oben geschilderten „kleinen Revolution“ – Jörg Goldberg mit der Rolle des Staates in den kommenden Jahren. Dem Neoliberalismus gehe es keineswegs um „weniger Staat“ an sich, sondern um Form und Inhalt von dessen Handeln. Der Kern der neoliberalen Wende Anfang der 1980er Jahre sei die Umverteilung von unten nach oben und die Entdemokratisierung der Wirtschaftspolitik gewesen. Dieser Prozess sei weit fortgeschritten. Deshalb eröffne ein größerer staatlicher Einfluss allein noch keine Spielräume für demokratische Kontrolle. Es müssten Ansatzpunkte für mehr demokratischen Einfluss auch auf einzelwirtschaftlicher Ebene gefunden werden.
Keiner der Autoren macht sich Illusionen darüber, dass nicht jeder Schritt in die vorgeschlagene Richtung auf heftigsten Widerstand stoßen wird. Es geht um mächtige wirtschaftliche Interessen. Eine soziale Bewegung, die stark genug wäre, um auch nur den neoliberalen Trend zu stoppen, ist nicht in Sicht. Deshalb lautet das bedrückende Fazit nach der Lektüre des Buches so, wie es Jörg Huffschmid formulierte: „Trotz der tiefen Einbrüche durch die Finanz- und Wirtschaftskrise und trotz der Diskreditierung der Spekulation (werden sich) die realen Machtstrukturen des Finanzmarktkapitalismus in absehbarer Zukunft nicht wesentlich verändern.“
Dieser Befund wird durch das politische Geschehen seit dem Erscheinen des Bandes nur bestätigt. Längst ist das Kasino wieder eröffnet. Niemand scheint in der Lage (bzw. willens) zu sein, Spekulanten daran zu hindern, ganze Volkswirtschaften (Griechenland und selbst Großbritannien) anzugreifen. Die Finanzkrise dürfte sich noch vertiefen, einer Neuauflage steht nichts im Wege. Das hier besprochene Buch liefert zwar kein Rezept, um das zu verhindern (wie sollte es auch?). Es liefert aber reichlich Informationen, um die Vorgänge zu verstehen, und Argumente dafür, dass es nicht so sein müsste – und das alles in knapper Form und verständlicher Sprache.
Gert Hautsch