Rosa-Luxemburg-Stiftung Brandenburg. Detlef Nakath (Hrsg.), DDR-Geschichte: Bilder & Zerrbilder, Siegfried Prokop zum 70. Geburtstag, Karl Dietz Verlag, Berlin 2010, 340 S., 20 Euro
Es geschieht höchst selten, dass pünktlich zu einem Ehrenkolloquium eines verdienstvollen Jubilars die entsprechende Festschrift vorliegt. Das ist sowohl ein Verdienst des Verlages als auch der Herausgeber. Die hier zu besprechende Festschrift ist einem renommierten linken Zeithistoriker gewidmet und enthält 21 bemerkenswerte Beiträge von vor allem in der DDR sozialisierten, aber auch in der jetzigen BRD oder im Ausland tätigen Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen, die weitestgehend der Zunft der Historiker angehören. Mit ihnen hat Siegfried Prokop zu unterschiedlichen Zeiten in verschiedenen Projekten zusammengearbeitet und kooperiert teilweise auch heute noch mit ihnen. Die Kolleginnen und Kollegen steuerten einerseits neuere Forschungsergebnisse zur Geschichte der DDR bei oder nahmen andererseits Bezug auf das umfangreiche, wichtige Akzente setzende wissenschaftliche Wirken des Jubilars.
Siegfried Prokop trat nach einem Studium der Geschichte und Germanistik in den Lehrkörper der Sektion Geschichte der Berliner Humboldt-Universität ein (Fachgebiet: Deutsche Zeitgeschichte, Schwerpunkt Geschichte der DDR). Er verteidigte 1967 seine Promotion A über Fragen der Geschichte des Hochschulwesens in der Bundesrepublik und 1978 seine Promotion B über Probleme der DDR-Geschichte von 1957-1963. 1982 wurde er Leiter des gerade gegründeten Wissenschaftsbereiches „Geschichte der DDR“. Wenige Jahre später nahm er Gastprofessuren in Paris (1987), Moskau (1988) und Montreal (1991) wahr und trat auf zahlreichen Konferenzen im In- und Ausland auf. Bereits am 11. Februar 1989 – anlässlich einer Tagung im Goethe-Institut in London – bemängelte er, dass in der DDR immer noch Teile der „fortschrittlichen Traditionen … stark glorifiziert und überhöht dargestellt würden“ und erhob die Forderung nach mehr „Diskussion und Dialog“ bei der Schaffung eines „komplexen Geschichtsbildes mit den Säulen Kultur-, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte“. Jetzt gehe es darum, von den agitatorisch-propagandistischen Darstellungen wegzukommen und zu sachlicheren, wissenschaftlich belegten Untersuchungen überzugehen.
Im Oktober 1990 erklärte Prokop als Folge der Umbruchsituation seinen Rücktritt als Leiter des Wissenschaftsbereiches Deutsche Zeitgeschichte. Seine Kündigung im September 1991 focht er mit Erfolg vor den Arbeitsgerichten an und konnte – wenn auch, wie Nakath betont, unter unwürdigen Bedingungen – bis Ende 1996 weiter an der Humboldt-Universität lehren und forschen. Seit den 1990er Jahren engagierte er sich in verschiedenen linken politischen Bildungsvereinen und Einrichtungen in den neuen Bundesländern. Zusammen mit Wolfgang Harich konstituierte er im Auftrag ostdeutscher Verbände als Gegenpol zu der von 1991 bis 1999 agierenden Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages die „Alternative Enquete-Kommission Deutsche Zeitgeschichte“, der er von 1994 bis 1996 vorstand. Ab 1998 wurde er für einige Jahre Projektleiter an der Forschungsstelle für historisch-sozialwissenschaftliche Studien in Berlin-Marzahn und arbeitete danach freiberuflich in einer Reihe von wissenschaftlichen Projekten mit, darunter an Publikationsvorhaben der zentralen Rosa-Luxemburg-Stiftung Berlin. Ab 2006 ist er Vorsitzender des Vorstands der Brandenburger Rosa-Luxemburg-Stiftung.
Wie aus der in dieser Festschrift beigefügten Auswahlbiografie Siegfried Prokops zu ersehen ist, weist seine wissenschaftliche Vita insgesamt weit mehr als 100 größere Veröffentlichungen auf, darunter monografische Untersuchungen, Konferenz- und Tagungsbände, Dokumentenpublikationen sowie biografische Arbeiten. Seine wichtigsten Forschungsfelder sind: 1. die politische und wirtschaftliche Geschichte der DDR, 2. die Sozialgeschichte der DDR-Intelligenz, 3. Aspekte der BRD-Geschichte und 4. Biografische Darstellungen über Persönlichkeiten der DDR-Geschichte. Immer wieder hat er in seinen Publikationen die Entwicklung der DDR vor dem Hintergrund der Spezifik der deutschen Nachkriegsgeschichte – der permanenten Rückwirkungen sowohl aus der Politik der östlichen Führungsmacht Sowjetunion als auch der Bundesrepublik Deutschland – prononciert herausgearbeitet.
Vehement trat und tritt er für eine konstruktive und kritische Sicht der DDR-Geschichte ein, die aber die Würdigung der Biografien und Lebensleistungen vieler Ostdeutscher immer mit einschließt.
In den würdigenden Gedanken von Detlef Nakath und den anderen Beiträgen wird übereinstimmend eingeschätzt, dass die Bücher des Jubilars einen der ersten Ränge beanspruchen können in der – leider nicht großen – Reihe der Werke, die Gegeninformationen liefern zu der „herrschenden“ Literatur über die DDR. Immer wieder wird hervorgehoben, dass der ausgeprägte kritische Ansatz, der schon vor 1989 vor allem in Prokops Vorlesungen im In- und Ausland zu spüren war, ihm in den Jahren nach der Wende half, bei prinzipiell kritischer Sicht auf die DDR, deren Leistungen in den vier Jahrzehnten ihrer Existenz differenziert und deutlich zu bewerten, überzeugend sichtbar zu machen, dass der zweite deutsche Staat eben mehr war als eine Fußnote der deutschen Zeitgeschichte, geprägt von Partei- und Staatsdiktatur, worauf sie der heutige Mainstream immer wieder aufs Neue einengen will.
Aus Platzgründen kann in dieser Besprechung nur auf wenige Beiträge eingegangen werden. Zu nennen wäre einmal Günter Bensers grundsätzlicher Beitrag. Er weist an einer ganzen Reihe von Beispielen überzeugend nach, dass – wenn es um die DDR geht – von vielen Autoren der Forschungseinrichtungen und Stiftungen die Standards historischer Forschung negiert werden. „Bei dem, was sich heute Aufarbeitung der Vergangenheit nennt, begegnen wir …überwiegend einem unakzeptablen Messen mit zweierlei Maß.“ Benser mahnt Ansprüche an einen ausgewogenen Umgang mit der Geschichte der DDR an: ihre Interpretation nicht von ihrem Ende, sie auch nicht vordergründig aus sich selbst zu erklären, sondern sowohl ihre Betrachtung als geschichtliche Erscheinung in den Zusammenhängen ihres Werdens und Vergehens in der historisch-zeitlichen als auch in der deutsch-deutschen und internationalen Dimension; die proportionierte Bewertung der Relationen zwischen Erfolgen der DDR und deren Akzeptanz in der Bevölkerung einerseits und den Deformationen – Verwerfungen, Gebrechen und Schandtaten – in ihren historisch-genetischen Ursachen, deren äußeren und inneren Rahmenbedingungen sowie individuellen Verantwortlichkeiten andererseits; die Überwindung einer Sichtweise der DDR, die ausschließlich oder weitgehend auf ihr politisches System fokussiert ist; ihre Geschichte nicht als etwas absolut Abgeschlossenes anzusehen, sondern über ihr Einwirken auf Gegenwart und Zukunft nachzudenken; die im letzten Jahr der DDR tonangebenden Gruppierungen und Persönlichkeiten an ihren Verkündigungen zu messen.
Zu erwähnen wäre auch die Laudatio von Fritz Vilmar, der Siegfried Prokop als einen linken Intellektuellen, als einen der seltenen Historiker würdigt, „die sich mit Erfolg freihalten von den offiziellen Rechtfertigungen bzw. Verketzerungen, durch die das eigene oder das Gegensystem, seine Einrichtungen und Politiken vorab beurteilt oder verurteilt werden“. Die Internationalität dieses Sammelbandes wird durch die Beiträge des japanischen Politikwissenschaftlers Eichi Kido („Betrachtungen über die Geschichtspolitik in Deutschland zur DDR-Vergangenheit“) und des französischen Germanisten Jean Mortier (er schildert das Angewiesensein der meisten DDR-Bürger auf „Reisen im Kopf“ in das westliche Ausland) dokumentiert.
Rainer Holze