Mitteilungen des Förderkreises Archive und Bibliotheken zur Geschichte der Arbeiterbewegung Nr. 37, Berlin, März 2010
Es wird wohl allgemein zugestimmt, wenn man von Publikationen einzelner Aufsätze in Sammelbänden von einer „Beerdigung erster Klasse“ spricht, d.h. ihr Inhalt wird nur unzureichend zur Kenntnis genommen. Das trifft nun doppelt zu, wenn von unseren schmalen „Mitteilungen“ die Rede ist, zu wenig bekannt als wichtiges Informationsorgan über Bibliotheken und Archive zur Geschichte der Arbeiterbewegung, schon gar nicht als Forum neuer historischer Erkenntnisse. Gerade das trifft aber für das neue Heft mit der hier publizierten Rede von Feliks Tych im Deutschen Bundestag am 27. Januar 2010, dem Gedenktag für die Opfer des Holocaust, zu.
Feliks Tych (Jg. 1929), als hervorragender Forscher zur Geschichte der Arbeiterbewegung, speziell zu Luxemburg und Jogiches, durchweg geschätzt, hat in seiner sehr persönlich gehaltenen Rede auf Probleme aufmerksam gemacht, die vor der internationalen Forschung über den Holocaust anstehen. Tych berichtet über seine Kindheit und Jugend in einer polnisch-jüdischen Familie in Radomsko, wo ein Drittel der 28.000 Einwohner 1939 Juden waren. „Heute wohnt dort kein einziger Jude mehr“. Sie wurden ins Getto getrieben, verkamen in Elend und Zwangsarbeit, wurden schließlich, im Herbst 1942 in Treblinka ermordet, so auch die Familie Tych. Feliks entging diesem Mordfeldzug mit Hilfe polnischer Bürger in Warschau und konnte sich nach 1945 der Aufarbeitung der Katastrophe widmen. In seiner Rede wandte er sich „lang tabuisierter und beschwiegener Fragen, die sich aus den langfristigen Folgen des zweiten Weltkrieges und den verqueren polnisch-jüdischen Beziehungen ergeben“ zu. Er benennt die Haltung großer polnischer christlich-katholischer Bevölkerungsgruppen zur „Endlösung“, zur „Verlängerung der traumatischen Kriegsjahre“ durch Progrome nach 1945, wie sie auch in Ungarn und in der Slowakei stattfanden. Er verweist darauf, dass in fast jedem europäischen Land (genannt wird die Zahl 13 – sechs Verbündete und sieben Besetzte), in dem die nationalsozialistischen Deutschen ihr Programm zur Ausrottung der Juden verwirklichten, ein Teil der einheimischen Bevölkerung so oder anders in den Völkermord verwickelt war. Tych unterstreicht natürlich die Hauptverantwortung des Deutschen Reiches und der großen Mehrheit seiner Bevölkerung für den Holocaust, möchte aber doch die „europäische Komplizenschaft“ beim deutschen Staatsverbrechen ins europäische Bewusstsein heben. Eine Rede von bewegender Eindringlichkeit, die als Lehrmaterial in jede Schule gehört, zumal sie knapp und überzeugend die uns alle fortwährend betreffende Problematik umspannt. Zweifellos ein Verdienst der Redaktion (G. Benser, R. Holze, K. Metschies), die damit zeigen, dass Dokumente von Zeitzeugen ergänzend in die Archive aufgenommen werden sollten.
Das Heft enthält außerdem einen instruktiven Bericht von Jürgen Mittag über die Bibliothek des Instituts für soziale Bewegungen, die fast 40 Jahre die Forschungen und Lehre zur Arbeiter- und Arbeiterbewegungsgeschichte an der Ruhr-Universität Bochum begleitet. Kurt Metschies informiert über das Archiv der Universität Potsdam und setzt zudem seine Übersichten über Findmittel und über Mitteilungsblätter, Bestandsübersichten und Findbücher von Archiven in den neuen Bundesländern und Berlin, von solchen der Parteien und Organisationen, von wissenschaftlichen und kulturellen Institutionen fort (bereits der XXIX: Bericht). Ralf Hoffroge teilt mit, dass die 45. Linzer Konferenz der ITH anstrebt, sich zukünftig auf „grenzüberschreitende Arbeitergeschichte“ zu orientieren. Ausführlicher ist der Bericht von Rüdiger Zimmermann über die 40. Jahrestagung der International Association of Labor History Institutions (IALHI), die vom 16.-19.9.2009 in Barcelona stattfand. Gregor Kritidis, Sekretär der Loccumer Initiative Kritischer Wissenschaftler, schildert diese als einen „Ort intellektueller Kooperation“ alternativer – politikwissenschaftlicher Diskussionen und Interventionen zu verengten neoliberal-konservativen Deutungsmustern. Die Publikationen von Protagonisten der „Initiative“ werden angezeigt. Die „Mitteilungen“ schließen mit neun weiteren Rezensionen.
Ingo Materna