Werner Röhr, September 1938. Die Sudetendeutsche Partei und ihr Freikorps, Edition Organon, Berlin 2008 (Bulletin für Faschismus- und Weltkriegsforschung, Beiheft 7), 319 S. und Kartenanhang, 24 Euro
Im Herbst 2008 jährte sich, nur von Teilen der deutschen Öffentlichkeit beachtet, zum 70. Mal die Ratifizierung des sogenannten Münchner Abkommens, aufgrund dessen die Regierungen Frankreichs, Großbritanniens und Italiens dem ‚Anschluss’ der mehrheitlich von Deutschsprachigen bewohnten tschechoslowakischen Randgebiete an das Deutsche Reich zustimmten und damit am Vorabend des Zweiten Weltkriegs die staatliche Desintegration der Tschechoslowakei vorantrieben. Anders als ein Jahr später, beim Jahrestag des deutschen Überfalls auf die Westerplatte bei Danzig am 1. September 1939, an den von den Staats- und Regierungschefs Polens, Deutschlands und Russlands in einem großen geschichtspolitischen Staatsakt erinnert wurden, blieben 2008 entsprechende Gesten gegenüber der Tschechischen Republik aus. Zu wenig scheint bislang im kollektiven Bewusstsein in Deutschland präsent zu sein, dass ‚München’ als wichtiger Schritt auf dem Weg in jenen Krieg aufzufassen ist. Und vielen Historikern und Politikern in Deutschland scheint es gar bis heute an der Einsicht zu mangeln, dass Ende September 1938 etwas Unrechtmäßiges und politisch Verwerfliches exekutiert wurde.
Dennoch gibt es auch in Deutschland seit Jahrzehnten immer wieder engagierte Personen, die sich um die historische Aufarbeitung der Vorgeschichte, der Begleitumstände und der Folgen des Münchner Abkommens bemühen. Zu ihnen gehört auch der Historiker Werner Röhr, der sich in seiner zum 70. Jahrestag erschienenen Publikation mit strategischen Aspekten im unmittelbaren Vorfeld des Münchner Abkommens auseinandersetzt. Im ersten Teil rekapituliert er die Planungen des NS-Regimes seit dem Jahre 1937, die unter dem Codewort „Fall Grün“ liefen und aus einer Mischung aus militärischer Einschüchterung, moralischer Demütigung und politischer Isolation der CSR bestanden: in die faschistische Konzeption für die verdeckten Kriegsvorbereitungen wurden seinerzeit ausdrücklich auch die Aspekte „Propagandakrieg“ und „Wirtschaftskrieg“ mit aufgenommen. Das zweite Kapitel widmet der Verfasser der Sudetendeutschen Heimatfront (SHF) bzw. Sudetendeutschen Partei (SdP) und ihren Führungskadern, deren politisch-geistige Wurzeln er in der 1933 verbotenen Deutschen Nationalsozialistischen Arbeiterpartei (DNSAP), einer Schwesterpartei der NSDAP unter der deutschen Minderheit in der CSR, aufzeigt. Der Autor erklärt, wie sich die aus der SHF hervorgegangene SdP zu einer völkischen Massenpartei entwickeln konnte, die trotz anders lautender Lippenbekenntnisse von Anfang an stark mit den deutschen Nationalsozialisten verbunden und verbündet war. Zum für diese Partei entscheidenden Jahr wurde 1938, wobei der im März vollzogene ‚Anschluss’ Österreichs eine gewisse Katalysatorwirkung entfaltete. Nach dem Vorbild paramilitärischer Verbände der NSDAP baute die SdP im Frühjahr 1938 den Freiwilligen Schutzdienst (FS) auf. Gleichzeitig begab sie sich in „Scheinverhandlungen“ mit der tschechoslowakischen Regierung um ein Autonomiestatut für die mehrheitlich von Deutschsprachigen bewohnten Teile des Staatsgebiets. Dem SdP-Vorsitzenden Konrad Henlein und seinen Gefolgsleuten gelang es zudem durch eine geschickte Diplomatie, das englische Foreign Office für ihre Zwecke zu instrumentalisieren. Während so auf internationaler Bühne der Anschein der Legalität gewahrt und ein positiver Eindruck geweckt werden sollte, unternahmen synchron vom Boden des Deutschen Reichs aus Angehörige des FS in der entscheidenden Phase vor dem für die Auslösung des „Falls Grün“ seit langer Zeit vorgesehenen 1. Oktober 1938 Terroraktionen gegen staatliche Institutionen im Grenzgebiet der Tschechoslowakischen Republik. Ohne zu übertreiben spricht Werner Röhr, der sich als erster mit Akribie dieser entscheidenden Phase zugewandt hat, für die Vorgänge zwischen dem 13. und dem 17. September 1938 von einem „Aufstand der Henleinfaschisten“, für die nachfolgenden Terroreinsätze des Sudetendeutschen Freikorps von „Verbrechen“. Es wurde nicht nur unter dem Anschein, das „Selbstbestimmungsrecht“ der deutschen Minderheit zu realisieren, die staatliche Souveränität eines freiheitlich-demokratischen Nachbarlandes untergraben, sondern Sachbeschädigungen und Raubmaßnahmen ausgeführt und billigend in Kauf genommen, dass deutsche Antifaschisten und tschechoslowakische Staatsbeamte verletzt, umgebracht oder widerrechtlich über die Staatsgrenze ins Deutsche Reich verschleppt wurden. Röhr belegt aber auch die Grenzen dieser paramilitärischen, von der Wehrmacht gedeckten Aktivitäten, etwa die mangelhafte militärische Ausrüstung, die den ersten Aufstandsversuch kläglich scheitern ließen und sogar die NSDAP in eine für sie peinliche Situation versetzten.
Die große Stärke dieser Arbeit liegt in der minutiösen Rekonstruktion der Ereignisse, geordnet nach Tagen, zum Teil sogar mit genauen Stundenangaben. Werner Röhr hat sie im Mittelteil seines Buches aus bisherigen Literaturergebnissen, vor allem aber aus seinen eigenen umfangreichen Archivrecherchen in Deutschland und Tschechien, in einer chronologischen Tabelle zusammengestellt. Dadurch wird erstmals in dieser klaren Form die Verschränkung der großen diplomatischen Vorgänge, der Entscheidungen und Operationen der NS-Organe in Berlin, der Sudetendeutschen Partei bzw. des Sudetendeutschen Freikorps, aber auch die mediale Inszenierung in der NS-Propaganda im Umfeld des Münchner Abkommens sichtbar. Künftige Forscher, die sich mit den Ereignissen des September/Oktober 1938 in der Tschechoslowakei befassen, werden an dieser Zusammenstellung wohl nicht mehr vorbeikommen.
Im Unterschied zu vielen anderen Historikern, die ihre Betrachtung mit der Ratifizierung des Münchner Abkommens und der Übernahme der darin dem Deutschen Reich zugestandenen Territorien abschließen, behandelt Werner Röhr auch im Detail die etappenweise Umsetzung, fragt nach den weiteren Absichten Adolf Hitlers, auch die „Rest-Tschechei“ zu „zerschlagen“, nach der Haltung der neuen tschechoslowakischen Regierung, nach den Motiven Großbritanniens und Frankreichs sowie auch Polens und Ungarns, die beide territorial vom Zerfall der CSR profitierten. Der Autor thematisiert die Errichtung des „Reichsgaus Sudetenland“, die Übernahme zahlloser SdP-Mitglieder in die NSDAP, die Auflösung des Sudetendeutschen Freikorps und schließlich die weitere Politik der in ihrer territorialen Ausdehnung und Selbständigkeit stark beschnittenen Tschechoslowakei bis zum deutschen Einmarsch am 15. März 1939.
Positiv zu erwähnen ist der Abdruck von 39 – großenteils erstmalig edierten – Quellentexten unterschiedlicher Provenienz, die mit ihrer originalen Sprachform das ungeheure Vorgehen der deutschen Behörden sowie der SdP und ihrer Hilfsorganisationen veranschaulichen. Dieser Quellensammlung hat Röhr noch drei einschlägige Auszüge aus den tschechoslowakischen Präsidialdekreten vom 19. Mai, 2. August bzw. 25. Oktober 1945 sowie den Text der Deutsch-Tschechischen Erklärung vom 21. Januar 1997 hinzugefügt. Ein ausführliches Orts- und Personenregister ermöglicht unterschiedliche Zugriffe auf die Fülle des Materials, was etwa auch für künftige prosopografische oder ortsmonografische Arbeiten eine große Erleichterung darstellt. Insgesamt neun Kartenskizzen veranschaulichen zusätzlich die räumliche Komponente vieler Angaben im Text.
Die Publikation von Werner Röhr setzt Maßstäbe für jede weitere Forschung zur sogenannten Sudetenkrise. Kritisch lässt sich anmerken, dass große Teile der neueren tschechischen Fachliteratur zu diesem Thema vom Autor ebenso wenig rezipiert wurden, wie etwa die bis heute grundlegende deutschsprachige Dissertation des tschechischen Exilhistorikers Boris Celovský (Das Münchener Abkommen 1938, Stuttgart 1958). Letztere hatte nach ihrem Erscheinen gerade in den Kreisen der von Werner Röhr in seinem Nachwort kritisierten Vertriebenenorganisationen in der Bundesrepublik Deutschland für große Beunruhigung und Missfallen gesorgt. Führt man sich vor Augen, dass sich unter den damals aktiven Funktionären der Sudetendeutschen Landsmannschaft zahlreiche noch lebende SdP-Protagonisten der Ereignisse vom Spätsommer/Herbst 1938 – darunter ehemals aktive Funktionsträger des Sudetendeutschen Freikorps – befanden, erhält diese Reaktion eine neue Bedeutung. Doch vermögen die kleinen Defizite den insgesamt beachtlichen Gesamtwert dieser Veröffentlichung nicht zu schmälern.
Tobias Weger