Buchbesprechungen

Lenin und Luxemburg

von Andreas Diers zu Ulla Plener
Juni 2010

Ulla Plener, Rosa Luxemburg und Lenin. Gemeinsamkeiten und Kontroversen, NORA Verlagsgemeinschaft Dyck & Westerheide, Berlin 2009, 304 S., 23,50 Euro

„Freiheit nur für die Anhänger der Regierung, nur für Mitglieder einer Partei – mögen sie noch so zahlreich sein – ist keine Freiheit. Freiheit ist immer Freiheit des Andersdenkenden.“ Diese Kritik aus dem Jahr 1918 an den Bolschewiki unter Lenin ist sicherlich der bekannteste Spruch von Rosa Luxemburg. Aber ist sie tatsächlich eine Kronzeugin gegen Lenin? Die Historikerin Ulla Plener hat umfangreich und kritisch Quellenstudium in Primär- als auch Sekundärquellen betrieben. Sie beschäftigt sich auf Grundlage dieses Quellenstudiums in ihrer Untersuchung komprimiert, aber dennoch differenziert mit einer auch heute nach wie vor auch unter Linken strittigen Materie: den theoretischen sowie den politischen Gemeinsamkeiten, Differenzen und Kontroversen zwischen Lenin und Rosa Luxemburg.

In ihrer Vorbemerkung plädiert die Autorin zu Recht dafür, dass die Werke von Lenin und Luxemburg und ihr Denken historisiert, in dem jeweiligen konkreten historischen Zusammenhang gefasst und interpretiert werden müssen.

Der erste Teil der Analyse thematisiert wesentliche Gemeinsamkeiten von Lenin und Luxemburg. Drei Problematiken stehen im Mittelpunkt: die Strategie und Taktik während der russischen Revolution 1905-07, ihre Arbeit in der Sozialistischen Internationale, ihre Strategie und Taktik während des Ersten Weltkrieges. Die Autorin zeigt u.a. an Hand der Stellung zur demokratischen Republik, zum politischen Massenstreik sowie zur Forderung der Umwandlung des Krieges in einen Bürgerkrieg, dass es bei allen drei Fragen eine große politische Übereinstimmung zwischen Lenin und Luxemburg gegeben hat. Jedoch weist sie auch auf Differenzen in Einzelfragen hin. Eher nur am Rande und mit Verweis auf weiterführende Literatur behandelt Plener u.a. Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Lenin und Luxemburg in philosophischen sowie in ökonomischen Fragen. Die knappen, dennoch wichtigen Hinweise der Autorin sollten Anlass zu weiteren Forschungsarbeiten sein.

Im zweiten Teil analysiert Ulla Plener zwei Kontroversen zwischen Lenin und Rosa Luxemburg, nämlich die im Jahr 1903/04 beginnenden Auseinandersetzungen um die Organisationsfrage sowie die Kritik Luxemburgs an der russischen Revolution 1917/18. In ihren Ausführungen zur Organisationsfrage weist sie nach, dass sich Lenin bei seiner Parteikonzeption im Wesentlichen an dem organisatorischen Vorbild der deutschen Sozialdemokratie orientiert hat. Er habe es jedoch entsprechend den jeweiligen spezifischen historischen Bedingungen im zaristischen Russland angepasst und modifiziert. Die oftmals auf fehlerhaften Informationen und gelegentlich auch auf persönlichen Animositäten beruhende Kritik von Rosa Luxemburg an Lenins Organisationskonzeption ist nach Ansicht der Autorin generell nicht berechtigt, vor allem nicht angesichts des praktisch politischen Verhaltens Luxemburgs im Zusammenhang mit den Auseinandersetzungen innerhalb der Sozialdemokratischen Partei des Königreiches Polen und Litauen (SDKPiL). Auch die Kritik von Rosa Luxemburg an der Politik der Bolschewiki unter Lenin wird differenziert untersucht. Die Autorin stellt nicht nur die Politik Lenins und die im September/Oktober 1918 in Haft geschriebene Studie Rosa Luxemburgs „Zur russischen Revolution“ in den jeweiligen historischen Zusammenhang, sondern geht auch auf etwas spätere Äußerungen Luxemburgs zur Revolution in Russland ein. Es wird durch die Analysen u.a. sehr deutlich, dass die Politik Lenins in der russischen Revolution auch nach dessen eigener Ansicht vor allem durch die konkreten gesellschaftlichen Bedingungen in Russland während der Revolution und des Bürgerkriegs bedingt gewesen ist, dass er diese Politik jedoch für kein in allen Teilen verbindliches Vorbild für die Politik in anderen Ländern gehalten hat.

Der dritte Teil der Untersuchung behandelt eingehender die Problematik der radikalen Demokratie als Voraussetzung und Inhalt des Sozialismus bei Lenin und Rosa Luxemburg. Auch hier stellt die Autorin die Konzeptionen der beiden Protagonisten in den historischen, vor allem durch die jeweiligen nationalen Bedingungen bestimmten Zusammenhang. Sie kann dabei mit vielen Belegen nachweisen, dass es zwischen Lenin und Rosa Luxemburg bei der Frage der Rolle des Kampfes um bürgerliche Demokratie, der entscheidenden Bedeutung von Massenaktionen für gesellschaftliche Veränderungen sowie der Notwendigkeit der breitesten Teilnahme der Massen an der Staatsverwaltung als einer conditio sine qua non für sozialistische Demokratie eine generelle und weitgehende Übereinstimmung gegeben hat. Bedingt durch die jeweils konkret-historischen Umstände der gesellschaftlichen Verhältnisse, unter denen sie kämpften – Rosa Luxemburg in Deutschland und Lenin in Russland – habe es jedoch zum einen Unterschiede bei der Bestimmung dessen gegeben, was die spezifische Differenz zwischen den klassenkampftheoretischen Kategorien „Klasse“ und „Masse“ sei. Zum anderen sind Differenzen in den strategischen Konzeptionen hinsichtlich der nächsten Schritte zur Eroberung der Macht sowie der notwendigen Maßnahmen unmittelbar nach der Machteroberung festzuhalten – was die Autorin schlüssig und nachvollziehbar begründet.

Die Untersuchung von Ulla Plener wird ergänzt durch einen Dokumentenanhang mit einigen grundlegenden Texten von Lenin und Rosa Luxemburg sowie Anmerkungen zu neu veröffentlichten Lenin-Dokumenten.

Sicherlich hat die Autorin in ihrer Untersuchung längst nicht alle Problematiken abschließend behandeln können, und die eine und andere Einschätzung von ihr muss kritisch hinterfragt werden. Die zahlreichen Literaturhinweise bieten dabei eine Fundgrube für die weitere und intensivere Beschäftigung mit der Thematik. Völlig richtig ist auf jeden Fall zum Einen die Ansicht Ulla Pleners, dass eine dogmatische Entgegenstellung zwischen Lenin und Rosa Luxemburg wissenschaftlich falsch und nicht zu halten ist. Dieser Ansicht sind auch stets Persönlichkeiten des Linkssozialismus wie etwa Wolfgang Abendroth gewesen, die während ihres ganzen politischen Wirkens gegen die stalinistischen Entartungen des Sozialismus gekämpft haben. Und richtig ist zum Anderen auch die Kritik der Autorin an einem häufig leichtfertigen, unwissenschaftlichen und nicht auf Fakten gestützten Umgang auch von Linken mit Lenin und seinem Werk.

Andreas Diers