Jens Erik Ambacher & Romin Khan (Hrsg.), Südafrika – Die Grenzen der Befreiung, Assoziation A, Berlin/Hamburg 2010, 263 S., 16 Euro
Die Fußballweltmeisterschaft in Südafrika hat in Deutschland zumindest einen wichtigen positiven Nebeneffekt gehabt: Niemals ist so viel über Afrika allgemein und Südafrika speziell informiert worden, und nicht alle Informationen erschöpften sich in der Verbreitung von Stereotypen. Dabei wurde die wirtschaftliche und soziale Lage Südafrikas oft ziemlich düster dargestellt, denn trotz unbestreitbarer Verbesserungen im sozialen Bereich bleibt die große Mehrheit vor allem der schwarzen Bevölkerung von der glänzenden Seite des südafrikanischen Kapitalismus ausgeschlossen. Vor dem Hintergrund von Massenarbeitslosigkeit und scharfer sozialer Gegensätze stellen sich viele Beobachter die Frage, warum die jetzige Regierungskonstellation um den ANC nach wie vor kaum Konkurrenz zu fürchten hat, warum vor allem die schwarzen Afrikaner trotz nur begrenzter sozialer Fortschritte, trotz hoher Arbeitslosigkeit und eher noch zunehmender Ungleichheit dem ANC bei Wahlen immer wieder komfortable Mehrheiten bescheren.
Dieser Fixierung auf Regierungshandeln und Parteienkonstellationen eine Analyse von sozialen Bewegungen gegenüberzustellen ist das große Verdienst des hier vorgestellten Sammelbandes, der 17 Beiträge zu ganz unterschiedlichen Basisinitiativen – erfolgreichen und weniger erfolgreichen – vereinigt. Den Herausgebern ist es gelungen, die bei Sammelbänden oft zu befürchtende Beliebigkeit der Beiträge zu vermeiden. Der Blickwinkel ‚von unten’ wird stringent durchgehalten, sodass der Leser am Ende einen guten Eindruck der Probleme, der Stärken und Schwächen der südafrikanischen Basisbewegungen gewinnt. Einige Beiträge und Interviews dienen darüber hinaus der theoretischen Verallgemeinerung. Die Autoren stammen überwiegend aus dem Lager der „außerinstitutionellen Linken“ (16), stehen also dem Regierungskurs, einschließlich dem der Gewerkschaft Cosatu und der Kommunistischen Partei (SACP), kritisch gegenüber. Dies gilt auch für die Herausgeber des Bandes.
Ausgangspunkt für die Entscheidung, regierungsferne Bewegungen in den Mittelpunkt zu stellen, ist die heute manchmal übersehene Tatsache, dass der Kampf gegen die Apartheid unter dem Vorzeichen von „people’s power“ gesiegt hat, in dem „Bedürfnisse nach Partizipation und Emanzipation geweckt“ wurden, „die über die Beteiligungsmöglichkeiten an einer repräsentativen Demokratie hinauswiesen.“ (13) Daher ist der Kampf gegen konkrete Maßnahmen der Regierung einerseits und das Stimmen für den ANC bei Wahlen andererseits nur für jene ein Widerspruch, die glauben, Demokratie drücke sich vor allem im Auswechseln von Regierungsparteien aus: Eigentlich sollten die europäischen Beobachter aus eigener Erfahrung wissen, dass damit nur selten relevante Politikveränderungen verbunden sind. Hier haben die Südafrikaner offensichtlich einen realistischeren Blick.
Viele der Beiträge behandeln Auseinandersetzungen um konkrete Themen wie den Kampf um Zugang zu bezahlbarer Strom- und Wasserversorgung, gegen die ungleiche Landverteilung, für den Zugang zu AIDS-Medikamenten und um mehr Geschlechtergerechtigkeit. Dabei zeigt sich, dass die Akteure vielfach Kampfformen aus dem Anti-Apartheid-Kampf wie Zahlungsboykotte anwenden. Das kann hier nicht im Einzelnen dargestellt werden. Viele der Autoren üben massive Kritik am Regierungsbündnis aus ANC, Cosatu und SACP, das spätestens ab 1996 voll auf neoliberalen Kurs gegangen sei und damit seine alten Ziele aufgegeben habe. In einem Interview mit dem Wissenschaftler und Gewerkschaftsaktivisten Ashwin Desai wird diese – wohl auch von den Herausgebern des Bandes – geteilte Position kritisch beleuchtet: „Gleichzeitig müssen wir einsehen, dass der Versuch, den Staat oder den Nationalismus als Waffe im Kampf für Umverteilung einzusetzen, angesichts des globalisierten Kapitalismus nicht mehr aufgeht. [...] Linke Programme lesen sich oft wie aufpolierte Versionen der Stalindoktrin ‚Sozialismus in einem Lande’“ (159), formuliert Desai polemisch. Indem er die beschränkten Handlungsspielräume von Regierungen im globalisierten Kapitalismus hervorhebt, setzt er gleichzeitig große Hoffnungen auf international vernetzte außerparlamentarische Bewegungen. Davon ist allerdings in Südafrika nicht viel zu sehen, das im Sammelband ebenfalls behandelte Verhältnis zu den xenophoben Strömungen in der südafrikanischen Gesellschaft spricht für sich.
Ein weiteres in mehreren Beiträgen behandeltes Querschnittsthema ist das Verhältnis zwischen Kapitalismus und Rassismus. Ein Grundproblem der südafrikanischen Linken sei die Gleichsetzung von Kapitalismus und Apartheid gewesen: „Die intellektuelle Faulheit, sich nicht vorstellen zu können, dass es einen nicht-rassistischen Kapitalismus in Südafrika geben könne, sei das zentrale Unvermögen des Widerstands gegen die Apartheid gewesen“, meint Desai (20). Auch Neville Alexander zufolge „besteht kein Zweifel, dass sich die herrschende Klasse seit 1994 – [...] – allmählich entrassifiziert“ (178). Er hält allerdings den Fortschritt auf diesem Gebiet für langsamer als allgemein angenommen. Die Gewohnheit, Menschen nicht als Individuen sondern gemäß rassistischer Zuschreibungen einzuordnen, sei nach wie vor ein bestimmender Zug der südafrikanischen Gesellschaft. Daher diskutiert er auch die staatlichen Maßnahmen der positiven Diskriminierung von bisher Benachteiligten wie ‚affirmative action’ und ‚black economic empowerment’ kritisch, weil hierdurch wiederum ‚rassische’ Stereotypen verfestigt würden. Während er betont, dass aktive Maßnahmen der Umverteilung zugunsten bislang benachteiligter Gruppen ein „politisches Muss“ (184) seien, kritisiert er doch die Wahl der Hautfarbe als einziges Kriterium: Dazu gäbe es durchaus Alternativen, wie z.B. tatsächlich erfahrene Benachteiligungen und/oder auch die Kenntnis von (afrikanischen) Sprachen.
Das Buch endet mit einem kurzen Ausblick der Herausgeber auf die Perspektiven nach dem Machtantritt des neuen Präsidenten Zuma, der Hoffnungen auf einen Richtungswechsel im Sinne einer Pro-Poor-Politik geweckt hat. Dabei wird die Frage des Verhältnisses der sich oft an Einzelproblemen abarbeitenden Basisbewegungen zu gesamtgesellschaftlichen Transformationsstrategien nur ganz kurz angerissen. Die Möglichkeit der Herauslösung bestimmter politischer Positionen aus dem ANC durch Gründung einer Partei (eine Debatte die auch innerhalb der SACP geführt worden ist) wird erwähnt, ohne die damit verbundenen Probleme und Gefahren zu diskutieren.
Insgesamt eröffnet der Band einen faszinierenden Einblick in die Vielfältigkeit der südafrikanischen Probleme einerseits und der Ansätze zu ihrer Lösung andererseits. Über Schlagworte wie Rassismus, Regenbogennation und Klassenstaat hinaus bekommt man eine Ahnung von der Lebendigkeit des politischen Lebens in Südafrika und es wird bewusst, dass die Anwendung europäischer Beurteilungskriterien in die Irre führen muss. Auch wenn manche Bilder aus Kapstadt und Sandton/Johannesburg etwas anderes zu sagen scheinen: Südafrika ist nicht Europa.
Jörg Goldberg