Antonio Negri/Raf Valvola Scelsi, Goodbye Mr. Socialism. Das Ungeheuer und die globale Linke, Verlag Klaus Bittermann, Berlin 2009, 239 S., 16 Euro
Goodbye Mr. Socialism ist ein Streifzug durch die von Negri konstatierten sozialen Konflikt- und Kampfzonen im Postfordismus, in denen sich „das Ungeheuer und die globale Linke“ gegenüberstehen. Der Mitautor der Theoriebestseller „Empire“ und „Multitude“ vertieft hier in Gesprächen mit dem Publizisten Scelsi seine Vorstellungen einer im Entstehen begriffenen globalen Multitude als eine Art postfordistisches Prekariat. Neben den Gesprächen mit Scelsi wurde der deutschen Ausgabe ein Postscriptum angefügt, in dem Negri zur aktuellen globalen Krise interviewt wird1 und seine Hoffnungen erläutert, die er mit der Wahl Barack Obamas zum US-Präsidenten verbindet.
Das historische Subjekt gesellschaftlicher Veränderung ist nach Negri im postfordistischen, flexibilisierten Kapitalismus nicht mehr im Proletariat zu sehen. Vermutlich stößt dieser Befund bei Teilen der Linken auf Zustimmung. Mitnichten gilt das auch für sein Konzept der Multitude als neuem kollektivem Akteur, das an die Stelle der „Arbeiterklasse“ trete. Die in der Entstehung begriffene Multitude konstituiere sich eben nicht mehr als soziales Kollektiv, sondern als eine Art Schwarm aus unzähligen Singularitäten, die netzwerkartig miteinander verbunden sind. Das „Gemeinsame“ zeichne sich durch ein „dynamisches Zusammenwirken“ (72) dieser Singularitäten aus, die durch ihre Beziehungen zueinander im Netzwerk das komplexe Ganze erst produzieren.
In den Gesprächen geht Negri auf einige Wegmarken im Entstehungsprozess der Multitude näher ein: Von den Zapatisten unter Subcomandante Marcos in Mexiko Mitte der 1990er Jahre, der kritischen Globalisierungsbewegung in Seattle 1999 über die Demonstrationen gegen den G-8 Gipfel 2001 in Genua bis hin zu den Revolten der französischen banlieusards 2005 – überall sieht er Elemente einer globalen Multitude aufkeimen.
Entscheidend für Negris Konzeption der Multitude ist, dass menschliche Arbeit primär außerhalb des Kapitalverhältnisses gedacht wird. Die Singularitäten seien, so die triviale Feststellung Negris, auch außerhalb ihres Verhältnisses zum Kapital „produktiv“: Reichtum werde vornehmlich „im Alltag, […] im Zusammenleben […] unserer Gesellschaften“ (227) geschaffen. Es ist gerade diese „Reichtumsproduktion“ außerhalb der antagonistischen Kategorien von Arbeit und Kapital, der Negri verwegenerweise eine „große emanzipatorische Tendenz“ (166) zuschreibt. Die fremdbestimmte und materielle Arbeit des Fordismus sei an ihr Ende gekommen und werde in der gegenwärtigen postfordistischen Phase durch immateriell-kognitive und „selbstverwertende“ Arbeit als „wichtigste Produktivkraft“ (165) abgelöst.
Problematisch für die Konzeption des „neuen Klassenbegriffs“ der Multitude erscheint zudem, dass Negri ihr „höchst unterschiedliche soziale Gruppen“ zurechnet, etwa „junge Leute mit guter Ausbildung, Prekäre, Jugendliche ‚in Fortbildung‘, Studentinnen und Studenten vor und nach dem Universitätsabschluss ohne Arbeit“ (202) sowie ZeitarbeiterInnen, Freiberufler, LohnempfängerInnen der Wissensberufe und Selbständige neuer Art (in ständigem Wechsel zwischen Anstellung und Selbständigkeit). Gerade diese Heterogenität und mangelnde kollektive Identität steht jedoch im Widerspruch zu den behaupteten „neuen arbeitenden Klassen“ in der Multitude.
Negri kommt daher nicht umhin, wiederholt auf die gegenwärtige „Zwischenepoche“ zu verweisen, in der – in Anlehnung an Marx – die Multitude zwar „an sich“, aber eben (noch) nicht „für sich“ sei. Immerhin gebe es aufscheinende ideologische Versatzstücke, die auf ein sich herausbildendes neues klassenspezifisches Bewusstsein verweisen. Dementsprechend bezeichnet er die vermeintlich heraufziehende Multitude vorschnell als „Prekariat“, dem in der Tendenz gar die gesellschaftliche Hegemonie zufalle.
Allerdings nur in der Tendenz. Negri muss zugestehen, dass die Multitude aufgrund der sie durchziehenden Gleichzeitigkeit von Übergängen derzeit ohne „Modus der Organisierung“ (86) sei. Neue Arbeits-, Organisations- und Protestformen müssten erst noch gefunden werden, um der Macht des Empire entgegentreten zu können. Dies könne mit „neue[n] Formen der Kooperation und der Assoziation“ (103) gelingen. Wie diese angesichts der beschriebenen Brüche und unterschiedlichster Soziallagen konkret aussehen könnten, verrät er nicht.
Entscheidend für die Gewinnung der gesellschaftlichen Hegemonie durch die Multitude sei die Unterordnung des Kapitals unter eine neue Rechtsform, die das „Gemeinsame“ in all seinen Facetten schütze. Hier verweist Negri insbesondere auf Fragen der Kontrolle über Informationen und Wissen, die sich die Multitude über die Überwindung herkömmlicher Rechtsformen und die Durchsetzung eines neuen Gemeinrechtes aneignen müsse.
Obgleich der Band aufgrund des Gesprächscharakters gut lesbar ist und zudem in komprimierter Weise die entscheidenden globalen Konfliktfelder sozialer Auseinandersetzung behandelt, ändert dies nichts an der inhaltlichen Vagheit und Diffusität der Ausführungen Negris zur Multitude. Die „immaterielle und kognitive Arbeit“ im und am „Gemeinsamen“ (der immanente emanzipatorische Eigenschaften angedichtet werden) sowie die vermeintliche soziale Sprengkraft, die von der Multitude ausgehe, führen die LeserInnen in die theoretische Irre. Worin besteht denn genau das Widerständische eines, um es vorsichtig zu formulieren, sehr heterogenen und nicht wirklich organisierten „postfordistischen Proletariats“, das noch nicht einmal über ein Bewusstsein seiner selbst verfügt? Und bleibt nicht auch die von Negri überhöht dargestellte und mit revolutionären Zauberkräften belegte kognitive und kooperative Arbeit eingebunden in die „Strukturen kapitalistischer Arbeitsteilung“ (Scelsi)?
Zugute halten sollte man Negri, dass er in Goodbye Mr. Socialism einige Punkte innerhalb bestimmter linker gewerkschaftlicher Diskurse zu Recht kritisiert, etwa ein bisweilen starrsinniges Festhalten an der Vorstellung des weißen, männlichen „Massenarbeiter[s] des Taylorismus“ (103). Gleichwohl kann nicht pauschal von einer „globalen Linken“ ausgegangen werden, die Negri hier in Bausch und Bogen verdammt. Es sind eben solche begriffliche Unschärfen, die ihn dazu veranlassen, in US-Präsident Obama die Speerspitze einer „künftigen linken Politik“ (222) zu sehen, mit dem sich die Aussicht auf einen politischen Neuanfang verbinde. Wirklich neu ist, dass Obama – neben seinem öffentlichkeitswirksamen Werben für einen Green New Deal – mittlerweile den Bau neuer Atomkraftwerke forciert und sich jüngst als glühender Verfechter des freien Marktes geoutet hat („fierce advocate for the free market”). Bleibt die Suche nach einem geeigneten Begriffsinstrumentarium, mit dem die soziale Wirklichkeit in den „unteren Rängen“ der Gesellschaft nach dem Verschwinden des handfesten Klassenbegriffs präziser erfasst werden kann. Die Multitude gehört gewiss nicht dazu.
Tobias Bader
1 Ein Film zum Interview mit Antonio Negri findet sich auf http://vimeo.com/4516111.