1990 spielte das Internet noch keine Rolle und die private und berufliche Computer-Nutzung steckte noch in den Anfängen. Heute, nach fünfundzwanzig Jahren, sprechen wir zu Recht von einem digitalen oder Internet-Kapitalismus: in vieler Hinsicht eine Revolution in den Arbeits- und Lebensverhältnissen. Folgt man den vielfältigen Prognosen, so stehen wir gegenwärtig vor einem neuen Schub der Digitalisierung der Arbeit. „Internet der Dinge“, „Office 2.0“, „vierte industrielle Revolution“ oder „Industrie 4.0“ sind die Stichworte. Das wird, wie auch die Streiks 2015, bei den anstehenden Gewerkschaftstagen von ver.di und IG Metall ein Thema sein und verdient einen kritischen Blick. Dem ist der Schwerpunkt „Digitale Arbeit und Gewerkschaften“ gewidmet.
Ursula Huws verfolgt das Eindringen des digitalen Kapitalismus in alle Lebensbereiche. Er ist insbesondere Mittel der „Kommodifizierung“ – der warenförmigen Durchdringung – der Kommunikations- und zwischenmenschlichen Beziehungen. Wir treten, so die Autorin, gegenwärtig in eine Entwicklungsperiode ein, in der der Charakter der Arbeit sich grundlegend verändert. Für die heutige Generation sind die Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT) „ein selbstverständlicher Teil der Arbeitswelt“. Hauptmerkmal der Veränderungen ist, so Huws, das Verschwinden klarer Grenzen zwischen Arbeit und Nichtarbeit und die Auflösung formeller Regeln. Den wenigen großen global agierenden Konzernen, die die Informations- und Kommunikationstechnologien beherrschen, steht einerseits eine relativ kleine Gruppe kreativer Wissensarbeiter gegenüber, auf deren Arbeitsmotivation es ankommt, während andererseits die große Masse der Ausführenden austauschbar ist und kaum noch Verhandlungsmacht besitzt.
Florian Butollo und Thomas Engel überprüfen die arbeits- und gesellschaftspolitischen Perspektiven von „Industrie 4.0“. Von enormen wirtschaftlichen Chancen ist die Rede, verbrämt mit sozialpartnerschaftlichem Futurismus. Tatsächlich steht hinter dem Digitalisierungshype ein hegemoniales Projekt des Finanzmarktkapitalismus. Vor dem Hintergrund eines gesellschaftlichen Kräfteverhältnisses, das in den letzten Jahrzehnten schon für eine Erosion sozialer Standards in den Arbeitsbeziehungen gesorgt hat, ist gewerkschaftliche Gegenmacht auf diesem Feld der Arbeitsgestaltung dringend gefordert. Aktuelle Daten zur Verbreitung und Nutzung digitaler Arbeitsmittel in der Wirtschaft der Bundesrepublik zeigen im Zeitvergleich seit Anfang der 1990er Jahre einerseits eine radikale Veränderung in der Arbeitswelt. Sie lassen, so André Leisewitz, bei nüchterner Betrachtung aber auch erkennen, dass es bis zur „Digitalen Fabrik“ noch ein weiter Weg ist.
Die sich verändernden Arbeitsbeziehungen stellen Gewerkschaften und Betriebsräte vor große Herausforderungen (Marcus Schwarzbach). Mit Arbeitsplatzverlusten, weiterer Entgrenzung und Verdichtung von Arbeit, zerfließenden Grenzen zwischen Arbeit und Privatleben und der Auflösung bisheriger betrieblicher Strukturen ist zu rechnen. Die Bedeutung von betrieblicher Mitbestimmung und tariflichen Regelungen zur Gestaltung digitaler Arbeit wird zunehmen. Ursula Schumm-Garling konstatiert, dass die Digitalisierung der Arbeitswelt, soweit heute erkennbar, das ganze System der Arbeitsbeziehungen umwälzen wird. Das Übergewicht des Kapitals in den Sozial- und Klassenbeziehungen droht bei Entgrenzung der Arbeit, weiterer Prekarisierung und Verdrängung menschlicher Arbeit noch zuzunehmen. Vor allem die sich herausbildende Plattform-Ökonomie untergräbt die Mitbestimmung und berührt praktisch alle arbeits- und sozialrechtlichen Standards. Die Unternehmerverbände, insbesondere die BDA, haben ihre Interessen hieran klar definiert. Die Gewerkschaften stehen u.a. vor dem Problem, dass die Grenzen zwischen Industrie und Dienstleistungssektor weiter verschwimmen. Das schafft Abgrenzungsprobleme und Konkurrenz und macht neue Formen gewerkschaftlicher Kooperation erforderlich. Mit Blick auf eindeutig definierte Kapitalinteressen kritisiert Falk Prahl eine vorschnelle Orientierung auf einen neuen „sozialen Kompromiss“. Er plädiert für eine gewerkschaftliche Debatte, die die Risiken der Digitalisierung für die Beschäftigten klar herausarbeitet und autonome gewerkschaftliche Positionen und Gestaltungskonzepte entwickelt. Er hebt insbesondere Arbeitszeitfragen und die wichtige Rolle der gewerkschaftlichen Vertrauensleute auf der betrieblichen Ebene hervor.
Thomas Hagenhofer interpretiert den gegenwärtigen Schub an Digitalisierung als „dritte Phase des Einsatzes von Informationstechnologie“: Nach den Phasen der zentralen und dezentralen Nutzung von Computern komme es heute zu deren mobilem, ubiquitärem Einsatz als einer „neuen Qualität“ der Produktivkraftentwicklung. Hinter dem Konzept der „vierten industriellen Revolution“ steckt, so Peter Brödner, eine geschichtsvergessene und rein technikzentrierte Sicht, die die soziale Determiniertheit der Technikentwicklung ignoriert. Die technikzentrierte Perspektive erscheint auch praktisch angesichts der Erfahrungen mit vergleichbaren Konzepten wie „künstlicher Intelligenz“ und „CIM“ (computer integrated manufacturing) als wenig erfolgversprechend. Stattdessen komme es auf eine Perspektive an, die Technik als „Intelligenzverstärkung“ der lebendigen Arbeit ansieht und sich bei der Technikgestaltung an den Eigenheiten und Bedürfnissen menschlichen Handelns orientiert. Dies dürfte auch ein für Gewerkschaften wichtiger Ansatzpunkt sein.
Christian Fuchs schildert in einem zweiteiligen Beitrag (Teil II in Z 104) die Veränderungen der Arbeit bei der Herstellung von digitaler Hard- und Software. Ausgehend von der Marx’schen Kategorie der Produktionsweise zeigt er, dass die globalen kapitalistischen Produktionszusammenhänge in Wirklichkeit ganz unterschiedliche Produktionsweisen miteinander kombinieren, die von sklavenähnlichen Produktionsverhältnissen bei der Förderung von Rohstoffen in Afrika bis zu den kreativen „Prosumenten“ sozialer Medien im Silicon Valley reichen. In Teil I schildert er die Arbeitsverhältnisse in afrikanischen Minen und bei der Endmontage von Apple-Produkten bei der chinesischen Firma Foxconn.
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Streiks 2015: Deutschland ist im internationalen Vergleich ein ausgesprochen streikarmes Land. Insofern überrascht die Intensität der Arbeitskämpfe im ersten Halbjahr 2015. Was sind deren Ursachen? Deutet sich hier eine Trendwende an?
Frank Deppe („Revitalisierung durch Streik?“) gibt einen Überblick zu den gewerkschaftlichen Kampfzyklen in der Geschichte der BRD. Er sieht eine wesentliche Ursache für die Ausnahmestellung der Bundesrepublik in der starken Verrechtlichung der Arbeitsbeziehungen, den engen Grenzen für die Legalität von Streiks und der von den DGB-Gewerkschaften mitgetragenen Kultur der Sozialpartnerschaft und des Co-Managements. Veränderungen bei Streikformen und -typen (Verlagerung von „Erzwingungs-“ zu Warnstreiks; wachsende Bedeutung von Bewegungen im Dienstleistungsbereich) hängen mit strukturellen Veränderungen in Ökonomie und Sozialstruktur des BRD-Kapitalismus zusammen. Die Einheitsgewerkschaft wird, so Deppe, nur Bestand haben, wenn „Vielfalt und Differenz anerkannt werden“. Rolf Geffken bilanziert den Eisenbahnerstreik, den er als „bemerkenswerten, schwer erkämpften Erfolg einer kleinen aber kämpferischen Gewerkschaft“ wertet, und die Auseinandersetzung um das Tarifeinheitsgesetz. Er verweist in diesem Zusammenhang auf die Realität von in vielen Betrieben parallel existierenden Tarifverträgen. Werner Sieblers Berichtüber die Streikbewegungen bei der Post zeigt die Härte des Kampfes und die Ambivalenz im Ergebnis. Das Hauptziel des Streiks wurde nicht erreicht (Rückführung von Delivery in die Post AG); angesichts der starken Aufsplitterung der Belegschaften (Festangestellte, Prekäre, Beamte) seien die Mobilisierung der Beschäftigten und das (begrenzte) materielle Ergebnis dennoch ein Erfolg. Relativ neu sind die Bewegungen bei den Sozial- und Erziehungsdiensten. Yalcin Kutlu analysiert den Verlauf der „Kita-Streiks“. Er interpretiert die „Aufwertungskampagne“ als Kampf um Anerkennung. Auch hier wurde mit der Schlichtungsempfehlung die Aufwertung nicht erreicht, zugleich aber Mobilisierungsfähigkeit und Gegenmachtbildung unter Beweis gestellt. Den diesen Auseinandersetzungen zugrunde liegenden Veränderungen in der Stellung der Familie in Gesellschaft und Wirtschaft und damit verbundenen Reproduktionsanforderungen geht Gabriele Winker nach. Sie unterstreicht die Notwendigkeit einer „Care-Revolution“.
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Weitere Beiträge: Vor 30 Jahren starb Wolfgang Abendroth. David Salomon bespricht aus diesem Anlass die bisher erschienenen Bände seiner „Gesammelten Schriften“. Dabei zeigt er, wie bei Abendroth Zeitdiagnose und Demokratietheorie Hand in Hand gehen und betont die Aktualität eines Wissenschaftsverständnisses, das Wissenschaft immer im Kontext politischer Praxis verortete. Thomas Metscher skizziert „Grundlinien einer ontologischen Ästhetik“. In Anknüpfung u.a. an Georg Lukács und Hans Heinz Holz entwickelt Metscher einen marxistischen Begriff der Kunst als der „Erinnerung der Menschheit“ (Lukács), deren Vielfalt sich allein dem historischen Blick öffne. Karl Hermann Tjaden kommentiert die Überlegungen von H. Knolle in Z 102 zu ökonomischen Instrumenten zur Begrenzung der Klimakrise.
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Diesem Heft vorangestellt sind Thesen der Redaktion „Griechenland: Aus Niederlagen lernen“. Die Entwicklung in Griechenland beschäftigt die ganze marxistische Linke – es geht um die heutigen Kampfbedingungen im kapitalistischen Europa und Euro-Raum und die Rolle der Linken in Europa. Diese Fragen sollen auch im nächsten Heft weiter diskutiert werden. Weitere Beiträge für Z 104 (Dezember 2015) können der Vorschau (S. 41) entnommen werden.