Karl-Heinz Paqué, Die Bilanz. Eine wirtschaftliche Analyse der Deutschen Einheit, Carl Hanser Verlag, München 2009, 310 S. 19,90 Euro
„20 Jahre nach dem Fall der Mauer hat die ostdeutsche Wirtschaft den Einstieg in die Globalisierung geschafft. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Noch mehr muss folgen, um die Abwanderung zu stoppen, die Überalterung der Gesellschaft in Grenzen zu halten und finanziell auf eigenen Beinen zu stehen.“ Diese Sätze, am Schluss des fünften zusammenfassenden Kapitels geschrieben, sind gewissermaßen das Fazit von Paqués Untersuchung zur Eingliederung der DDR in die Bundesrepublik und deren wirtschaftliche Folgen für Ostdeutschland. Zuvor hat er in einem ersten Kapitel die Ausgangssituation beschrieben: In der DDR bzw. der BRD gab es zwei völlig getrennte Wirtschaftswelten – die eine auf den Weltmarkt ausgerichtet, die andere nach Paqués Auffassung von ihm völlig isoliert. Das zweite Kapitel ist den wichtigsten Transformationsmaßnahmen zwischen 1990 und 1994 gewidmet: Die Wirtschafts- und Währungsunion, die die ostdeutschen Betriebe schlagartig mit dem Weltmarkt konfrontierte, die Treuhandanstalt, die die Staatsbetriebe ganz überwiegend an westdeutsche Eigner privatisierte und die vor allem im privaten Bereich vollzogenen Eigentumsumverteilungen entsprechend dem Grundsatz „Rückgabe vor Entschädigung“. Das dritte Kapitel ist den Methoden der Wirtschaftsförderung gewidmet und ihrem offensichtlichsten, aber nur mittelfristig wirksamen positiven Ergebnis: dem Bauboom. Aus der ansonsten aber zögerlichen Wirtschaftsentwicklung ergab sich die Notwendigkeit eines besonderen Ausmaßes des sozialen Engagements des Staates im Osten. Kapitel vier, „Industrieller Neubeginn“ betitelt, enthält die Kernthese von Paqués Buch: Nur wenn in der ehemaligen DDR der Aufbau einer modernen Industrie gelingt, haben die neuen Bundesländer eine Chance, das Niveau der alten zu erreichen. Paqué nennt die Bewältigung dieses Problems eine „nationale Aufgabe“.
Aus der Tatsache, dass diese auch zwei Jahrzehnte nach der Einheit noch nicht gelöst ist, könnte der Leser den Schluss ziehen, dass der seit 1990 betriebene wirtschaftliche „Aufbau Ost“ nicht gerade ein Ruhmesblatt in der neuesten deutschen Wirtschaftsgeschichte gewesen ist.
Dem widerspricht Paqué doch vehement und immer wieder. Man dürfe, argumentiert er, teilweise unter Ignorierung der Tatsachen – nicht unterschätzen, wie marode und vor allem isoliert von allem ökonomischen Fortschritt die ostdeutsche Industrie war, charakterisiert durch „gigantische Ineffizienz“: „Es wurden die falschen Güter in den falschen Mengen an den falschen Orten produziert“. Viele Kritiker übersähen, welchen beachtlichen Aufschwung es seitdem gegeben habe, gemessen am Tiefpunkt 1991. Man vergesse, dass fast jede Maßnahme der Bundesregierung zur Gestaltung der ostdeutschen Wirtschaft, ob mehr oder weniger gelungen, alternativlos gewesen sei.
Der Leser könnte geneigt sein, Paqués Buch als eines der immer wieder mal erscheinenden Rechtfertigungstraktate bei Seite zu legen, wenn er nicht – gerade in der Auseinandersetzung mit Kritikern des „Aufbau Ost“ – vor allem im vierten Kapitel auf Entwicklungen in den neuen Ländern aufmerksam macht, die für das Verständnis der heutigen ostdeutschen Wirtschaft von Bedeutung sind, die aber bisher viel zu wenig Gegenstand der Analyse der Wirtschaftsentwicklung im Bereich zwischen Elbe/Saale und Oder waren. Das betrifft z. B. Paqués Kritik an der Art Wirtschaftsförderung durch den Westen, die bis heute am Kernproblem vorbeigeht: dem Fehlen einer modernen und innovativen Industrie. Bei aller relativen Zurückgebliebenheit der DDR – in dieser Hinsicht, die Paqué beschreibt: Erst mit der Privatisierung der ostdeutschen Betriebe verschwand die betriebliche Forschung und Entwicklung fast völlig aus Ostdeutschland, wurden aus Kombinatsverbänden, die von der Forschung und Entwicklung bis zur Montage und zum Absatz im In- und Ausland für ihre Erzeugnisgruppe zuständig waren, verlängerte Werkbänke westdeutscher bzw. internationaler Konzerne. Die ostdeutschen Forscher und Entwickler fanden Beschäftigung in der Produktion oder wurden arbeitslos. „Die Innovationskraft der Industrie vor Ort war damit auf ein Minimum reduziert.“ Gegen den Einwand, dass doch z. B. in den Filialen von Volkswagen, von Opel oder Mercedes-Benz in Zwickau, Eisenach und Leipzig Fahrzeuge mit neuester Technologie gefertigt werden und häufig eine höhere Arbeitsproduktivität aufweisen, als die entsprechenden Produktionsstätten im Westen, lautet Paqués eindeutiges Urteil: „Eine gut ausgebaute verlängerte Werkbank verlagert Wissen, aber noch lange nicht die Brutstätten des Wissens“, die bleiben in den Headquarters im Westen.
Wohl als erster denkt Paqué über die „Autobahnindustrien“ nach, die unabhängig von den alten, meist städtischen Industriezentren in der Ex-DDR entlang der Transportwege von und nach Westdeutschland entstanden und deren Dichte in dem Maße geringer wird, je mehr sich die Verkehrswege der Grenze Deutschlands nach Osten nähern. Anregend ist auch Paqués Auseinandersetzung mit der seit einigen Jahren reformierten Förderstrategie für den Osten, die „Leuchttürme“ stärken und Investitionsmittel nicht mehr „mit der Gießkanne“ verteilen will. Die Unterschiede im Produktivitätsniveau zwischen den fünf ostdeutschen Ländern, stellt Paqué fest, egal über wie viel oder über wie wenig „Leuchttürme“ sie verfügen, sind minimal verglichen mit den Differenzen des Industrialisierungsgrades zwischen einzelnen Bundesländern im Westen. Und die Produktivität in den „neuen Ländern“ liegt auch im 20. Jahr der Vereinigung deutlich unter der der alten. „Selbst Sachsen-Anhalt, das ostdeutsche Flächenland mit der höchsten Arbeitsproduktivität“, informiert Paqué, der zwischen 2002 und 2008 Wirtschaftsminister dieses Landes war, „liegt knapp 14 Prozent unter dem Niveau von Schleswig-Holstein, dem westdeutschen Flächenland mit der niedrigsten Wertschöpfung je Arbeitsstunde.“
Wegen dieser und anderer Einblicke, die Paqés ermöglicht, lohn es sich doch, sich mit seinem Buch intensiver zu beschäftigen. Dieser Rat gilt nicht nur Ökonomen. Der Band ist in einem allgemein verständlichen Stil geschrieben. Unvermeidliche Fachbegriffe werden in einem Glossar erläutert. Für den Fachmann relevante Details sind in einem spezifischen Anmerkungsapparat erläutert und einem ausführlichen Literaturverzeichnis untergebracht. Ein kombiniertes Sach-, Namens- und Ortsregister schließt das Buch ab.
Jörg Roesler