Die bei ver.di, der GEW und dem Deutschen Beamtenbund organisierten Erzieher_innen und Sozialarbeiter_innen haben sich im Mai 2015 mit überwältigender Mehrheit für einen unbefristeten Streik ausgesprochen. Sie wollen eine bessere Eingruppierung ihrer gesellschaftlich enorm wichtigen Arbeit erreichen. Jenseits des aktuellen Streiks setzen sich Erzieher_innen bereits seit langem für eine deutliche Erhöhung der Mindestbesetzung in den einzelnen Kita-Gruppen ein. Der Streik stößt in der Öffentlichkeit auf große und zunächst auch positive Resonanz.[1] Nach den ersten Streikwochen wurden die damit verbundenen Probleme der Eltern allerdings deutlicher artikuliert.[2] Überstunden sind aufgebraucht, Zwischenlösungen der Kinderbetreuung über Angehörige und Bekannte stellen keinen Dauerzustand dar, und auch Unternehmen akzeptieren die Anwesenheit von Kindern im Büro nur in Ausnahmefällen. So scheint es, als ob in diesem Streik zwei mit Kindererziehung stark belastete Gruppen sich gegenüberstehen, die sich dennoch um Solidarität miteinander bemühen. Wer darüber häufig aus dem Fokus gerät, sind die kommunalen Arbeitgeber, gegen die sich dieser Streik richtet.[3] Sie verschanzen sich in ihrer Argumentation hinter leeren öffentlichen Kassen und dies scheint die breite Öffentlichkeit noch immer hinzunehmen.
Wie ich im Folgenden zeigen werde, bringt der Streik der Sozialarbeiter_innen und Erzieher_innen in die Öffentlichkeit, was in Politik und Wissenschaft nur allzu oft in den Hintergrund gerät: Das neoliberale Credo, wonach alle erwerbsfähigen Personen ohne andere Reproduktionsquellen sich durch den Verkauf ihrer Arbeitskraft selbst zu ernähren haben, stößt an die Grenzen menschlicher Leistungsfähigkeit. Denn neben der Lohnarbeit sollen alle für die eigene Reproduktion genauso eigenverantwortlich sorgen wie für die Erziehung der Kinder und die Unterstützung hilfebedürftiger Angehöriger. Gleichzeitig werden sozialstaatliche Leistungen im Gesundheits- und Schulbereich reduziert und im Kita-Bereich nur unzureichend ausgebaut. Als Konsequenz sind Eltern mit ihren Aufgaben bei der Kindererziehung ebenso überfordert wie Erzieher_innen. Diese andauernde Überlastung ohne Erholungspausen führt zur Erschöpfung bis hin zu psychischen Erkrankungen, bei Erzieher_innen und Sozialarbeiter_innen wie bei Eltern. Ebenso bleiben wichtige Bedürfnisse von Kindern, die auf Zuwendung und Unterstützung in ihren Lernprozessen angewiesen sind, unerfüllt.
In den folgenden ersten drei Abschnitten verdeutliche ich, wie der soziale Wandel vom Ernährermodell zu neoliberalen Reproduktionsmodellen die familiär und beruflich Sorgearbeitenden belastet und wie eine neoliberale Familienpolitik, die sich explizit als Wirtschaftspolitik versteht, dies weiter zuspitzt. Deutlich wird, dass das neoliberale politisch-ökonomische System auch dauerhaft die Unterstützung der nachfolgenden Generation nicht stabil und entsprechend menschlicher Bedürfnisse realisieren kann und damit keine Zukunft hat. Als Handlungsperspektive skizziere ich deswegen abschließend die Transformationsstrategie der Care Revolution (Winker 2015), deren Notwendigkeit der derzeitige Kita-Streik deutlich aufzeigt.
Veränderte Familienkonstruktionen
Das Ernährermodell hatte in einer kurzen, ökonomisch verhältnismäßig stabilen Phase Anfang der 1960er bis Mitte der 1970er Jahre in der Bundesrepublik Deutschland seine Hochzeit. Der Lohn bzw. das Gehalt des meist männlichen Ernährers entsprach einem Familienlohn, der die Alimentation der Ehefrau und die finanzielle Versorgung von Kindern erlaubte. So konnte sich damals die Mehrzahl der männlichen Beschäftigten den freiwilligen oder erzwungenen Verzicht von Frauen auf Berufstätigkeit im wahrsten Sinne des Wortes leisten.[4] Soziale Risiken durch Krankheit, Berufsunfähigkeit und Erwerbslosigkeit sowie die Altersversorgung waren weitgehend abgesichert durch beitragsfinanzierte Sicherungssysteme und damit verbundene staatliche Sozialleistungen, die auf die Absicherung des jeweiligen Lebensstandards gerichtet waren. Mit zunehmenden ökonomischen Krisen wurde seit Mitte der 1970er Jahre deutlich, dass das Ernährermodell die Kapitalverwertung durch verhältnismäßig hohe Kosten – Familienlohn sowie hohe Sozialausgaben – belastet. Gleichzeitig geriet auch die ideologische Akzeptanz dieses Modells, das die Geschlechterhierarchie aufrechterhält, im Zusammenhang mit der zweiten Welle der Frauenbewegung ins Wanken. 2012 ist bei nur noch 29 Prozent aller Paare mit Kindern unter 18 Jahren allein der Vater erwerbstätig aktiv, 1996 war dies noch bei 40 Prozent der Fall (Keller/Haustein 2013: 870). Sinkende Reallöhne sowie erweiterte Reproduktionsaufgaben führten dazu, dass sich nicht nur Einkommensschwache, sondern auch viele Mitglieder der Mittelschichten dieses Modell des Alleinverdieners nicht mehr leisten können oder auch nicht wollen. So steigt auch die Erwerbsquote von Frauen kontinuierlich an: allein zwischen 1991 und 2013 von 60,7 Prozent auf 72,4 Prozent (Statistisches Bundesamt 2014: 129). Das bedeutet gleichzeitig, dass viele Frauen – zumal bei hoch flexiblen Arbeitszeitanforderungen – nicht mehr umfassend für die Reproduktionsarbeit[5] zur Verfügung stehen.
Gleichzeitig steigen die inhaltlichen und zeitlichen Anforderungen an die familiäre Sorgearbeit.[6] Familien werden zu Schaltstellen eines umfassenden und komplexen Managements. Wegen der nicht gesicherten Ganztagesbetreuung von Kindern ist es die Aufgabe von Eltern, primär von Müttern, mobil und flexibel zur Verfügung zu stehen für das warme Mittagessen oder Fahrdienste zu Sport- oder Musikaktivitäten. Gefordert sind auch in Familien vielfältige Ausprägungen von Sozialkompetenz sowie ein erhöhtes Wissen in Bezug auf Gesundheit oder Bildung. Dies hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass staatlich organisierte Leistungen in diesen Bereichen zunehmend inadäquat werden. Wenn durch ein kostensparendes Turbo-Abitur oder zu wenige Lehrer_innen die Betreuung in der Schule zu kurz kommt, muss dies durch nicht entlohnte familiäre Sorgearbeit bei der Hausaufgabenbetreuung ausgeglichen werden. Zwar ist als einer der wenigen Care-Bereiche die Kita-Betreuung der unter 3-Jährigen in den letzten Jahren ausgebaut worden, nur eben auch dort unter der Vorgabe, Ausgaben zu begrenzen. So werden derzeit nur ein Drittel aller unter Dreijährigen in einer Kindertageseinrichtung oder durch eine Tagespflegeperson betreut. Gleichzeitig erschwert ein ungenügender Personalschlüssel nicht nur die Arbeitsbedingungen der Erzieher_innen, sondern stresst auch manche Kinder, was wiederum in Familien ausgeglichen werden muss. Und auch die Sorgearbeit für sich selbst wird immer aufwändiger. Es gilt die eigene Qualifikation fortwährend zu verbessern sowie einen eigenverantwortlichen Umgang mit Überforderungen und Gesundheitsrisiken zu erlernen.
Familienpolitik als Wirtschaftspolitik
In dieser Situation wäre es erleichternd, wenn Eltern durch eine an den hohen Sorgeaufgaben orientierte Familienpolitik unterstützt würden. Dies ist allerdings nicht der Fall. Die bundesdeutsche Familienpolitik wird nur dort aktiv, wo es dem Wirtschaftswachstum zuträglich ist. So setzte sich das Bundesfamilienministerium als zentrale Aufgabe, die Geburtenrate zu erhöhen und die Frauenerwerbsbeteiligung zu steigern (Rürup/Gruescu 2003: 56).
Entsprechend wurde in der BRD zum 1. Januar 2007 das Elterngeld eingeführt, das für die Dauer von 12 bzw. 14 Monaten gewährt wird, um Anreize zu schaffen, mehr Kinder in die Welt zu setzen. Dabei wird sehr deutlich zwischen sogenannten Leistungsträger_innen und Leistungsempfänger_innen unterschieden. Während beispielsweise gut verdienende Eltern bis zu 1800 Euro pro Monat Elterngeld als Lohnersatzleistung beziehen können, werden bei Empfänger_innen von Hartz IV selbst die ihnen zustehenden 300 Euro mit dem Arbeitslosengeld II verrechnet. Das entspricht faktisch einer Streichung. Es geht also beim einkommensabhängig gezahlten Elterngeld explizit nicht um eine allgemeine finanzielle Unterstützung von familiärer Reproduktionsarbeit. Vielmehr werden hoch qualifizierte berufstätige Frauen unterstützt, die motiviert werden sollen, die neue Generation von Arbeitskräften auf die Welt zu bringen und entsprechend der erhöhten Bildungsanforderungen zu erziehen und die gleichzeitig nach einer möglichst kurzen Elternzeit wieder in den Beruf zurückkehren sollen.
Auch der schrittweise Ausbau der Kindertagesstätten ist primär für die Absicherung der Berufstätigkeit von Eltern gedacht. Bei der Vergabe von Kita-Plätzen haben trotz eines Rechtsanspruchs der Eltern auf öffentlich unterstützte Betreuung die Kinder nach § 24 SGB VIII von berufstätigen Eltern bei der Platzvergabe Vorrang. Da auch noch in den meisten Bundesländern Kita-Gebühren zu zahlen sind, erhalten Kinder, die in armen Haushalten aufwachsen, und damit häufig auch Kinder aus Migrationsfamilien deutlich seltener einen Kita-Platz als Kinder gut verdienender Eltern und Kinder aus Familien ohne Migrationshintergrund (BMFSFJ 2012: 109f., BMAS 2013: XIV). Das Kindeswohl bleibt damit als Politikziel zweitrangig. Auch fehlt es in den Kitas an Personal, zumal für zusätzliche Aufgaben wie Sprachförderung oder Elterngespräche. Häufig wird unzureichend ausgebildetes Betreuungspersonal eingesetzt und die qualifizierten Fachkräfte werden schlecht entlohnt. Diese grundlegende Unterversorgung in der frühkindlichen Bildung lässt sich auch an international vergleichenden Statistiken ablesen. Als Anteil am Bruttoinlandsprodukt ausgedrückt, liegen die öffentlichen Ausgaben für die Betreuung von Kindern unter 6 Jahren in der BRD mit circa 0,5 Prozent deutlich niedriger als im Durchschnitt von 33 OECD-Ländern (circa 0,7 Prozent). Die Länder an der Spitze geben dafür das Dreifache aus, etwa Island mit 1,7 Prozent oder Dänemark und Schweden mit je 1,4 Prozent (BMAS 2013: XIX).
Ebenso zielt die am 1. Januar 2008 in Kraft getretene Unterhaltsreform darauf, Erwerbstätigkeit von Kindererziehenden – in der Regel Frauen – zu forcieren. Alle Kinder unterhaltspflichtiger Partner und Partnerinnen erhalten Vorrang vor dem Unterhalt für geschiedene Frauen (oder auch Männer); deren Unterhalt wird entsprechend eingeschränkt oder entfällt ganz. Das zwingt Frauen nach der Scheidung, ihren Lebensunterhalt selbstständig zu bestreiten, auch wenn sie Kinder zu versorgen haben. Ausgenommen von der Erwerbspflicht sind Frauen mit Kindern unter drei Jahren. Da Frauen nach wie vor deutlich weniger verdienen als Männer und vor allem nach einer Familienphase schlechtere Einstiegsmöglichkeiten auf dem Arbeitsmarkt haben, werden sich mit dieser neuen Regelung viele Frauen, die Reproduktionsarbeit leisten, nach einer Scheidung in prekären Lebensverhältnissen wieder finden.
Das politische Ziel des eingeschlagenen Wegs ist klar: Frauen und Männer sollen möglichst umfassend erwerbstätig sein und insbesondere Frauen sich gleichzeitig um die nächste Generation kümmern. Die derzeitige neoliberal ausgerichtete Politik unterstützt Familien nur dort, wo ansonsten die Erwerbstätigkeit von Frauen gefährdet ist und das ökonomische Wachstum beeinträchtigt wird. Familienpolitik ist damit im Kern Wirtschaftspolitik.
Differenzierte familiäre Strategien
Da staatliche Politik kaum Unterstützung für alltäglich anfallende Reproduktionstätigkeiten bietet, bleibt es die Aufgabe aller, jeweils für sich den Balanceakt zwischen Lohn- und Reproduktionsarbeit zu meistern. Sie sollen bei verstärkten Flexibilitätsanforderungen, kontinuierlichem Leistungsdruck, verlängerten Arbeitszeiten und sinkenden Reallöhnen ihren eigenen Lebensunterhalt verdienen. Gleichzeitig sollen sie große Teile der weiter zunehmenden Reproduktionstätigkeiten bei der Kindererziehung, aber auch der Betreuung von unterstützungsbedürftigen älteren Menschen übernehmen. Familien sind allerdings, primär aufgrund ihrer finanziellen Ressourcen, höchst unterschiedlich in der Lage, mit diesem Dilemma umzugehen. Idealtypisch unterscheide ich deswegen zwischen vier Reproduktionsmodellen: dem ökonomisierten, dem paarzentrierten, dem prekären und dem subsistenzorientierten Reproduktionsmodell.[7]
Im ökonomisierten Modell verfolgen Eltern in Vollzeit konsequent ihre beruflichen Karrieren, was ihnen gleichzeitig finanziell ermöglicht, größere Teile der Reproduktionsarbeit an andere abzugeben. Im paarzentrierten Modell meistern die Menschen den Spagat zwischen Beruf und Familie meist durch eine Vollzeitarbeit des Manns in Verbindung mit einer Teilzeitarbeit der Frau und halten damit einen mittleren Lebensstandard aufrecht. Im prekären Modell setzen Menschen unter schwierigsten Bedingungen alles daran, nicht in die Armut abzugleiten. Dafür übernehmen sie auch Arbeit zu Niedriglöhnen mit langen und flexibilisierten Arbeitszeiten, um auf dieser Grundlage eigenständig für ihre Existenzsicherung und die ihrer Familie aufzukommen. Sie können ihre Reproduktionsarbeit nicht durch Ökonomisierung an andere abgeben. Auch im subsistenzorientierten Modell kümmern sich Personen trotz großer materieller Beschränkungen und trotz rigider Vorgaben der Agenturen für Arbeit oder der Ausländerbehörden um die Aufrechterhaltung ihrer familiären Strukturen.
In allen Reproduktionsmodellen erledigen weiterhin vor allem Frauen die anfallende Reproduktionsarbeit (BMFSFJ 2012b: 76ff.). Die konkrete Arbeitsteilung ist jedoch in Abhängigkeit von den vorhandenen finanziellen Ressourcen unterschiedlich organisiert. Deswegen sind Reproduktionsmodelle nicht nur durch geschlechterhierarchische Arbeitsteilungen zu bestimmen, sondern intersektional damit verwoben auch durch unterschiedliche klassistische, rassistische oder körperbezogene Diskriminierungsmechanismen: Die Möglichkeit, die eigene Arbeitskraft zu einem existenzsichernden Lohn verkaufen zu können, ist je nach sozialer Herkunft, nach Bildungs- und Berufsabschlüssen sehr unterschiedlich ausgeprägt. Dieser ungleiche Zugang zur Erwerbssphäre führt zu unterschiedlichen familiären Arbeitsteilungen und Handlungsmöglichkeiten in Bezug auf notwendige Reproduktionstätigkeiten. So können Personen im ökonomisierten Modell Reproduktionsarbeit an sozial nicht abgesicherte Migrant_innen abtreten, die aufgrund mangelnder Alternativen gezwungen sind, ihre Sorgeverantwortung wiederum an meist weibliche Familienangehörige in ihren Heimatländern weiterzugeben. Auch körperbezogene („bodyistische“) Diskriminierungen sind wirksam: Chronisch kranke und weniger leistungsstarke Menschen oder Menschen mit erhöhtem Selbstsorgeaufwand werden schnell ausgegrenzt. Die Benachteiligung auf dem regulären Arbeitsmarkt ermöglicht ihnen häufig nur ein Leben im subsistenzorientierten Reproduktionsmodell.
Gleichzeitig hat das Ausmaß der Reproduktionsarbeit wiederum Auswirkungen auf die Chance, die eigene Arbeitskraft überhaupt verkaufen zu können. Eltern- und primär Mutterschaft wird zu einer wichtigen Kategorie sozialer Ungleichheit (Lenze 2008). Dies gilt gleichermaßen für die Pflege naher Menschen in der Familie. So führen nicht nur ungleiche Zugänge zur Erwerbsarbeit, unterschiedliche Erwerbsbeteiligung und Lohndifferenzen, sondern auch unterschiedlich hohe Reproduktionsaufgaben zu deutlich ungleichen Chancen, das eigene Leben zu gestalten. Es sind Zugangsbarrieren zu einer existenzsichernden Lohnarbeit ebenso wie umfangreiche Sorgeaufgaben, die viele Menschen – vor allem, aber nicht nur Frauen – in hoch belastende und prekäre Arbeitssituationen bringen. Die erhöhte Erwerbsbeteiligung von Frauen, durchaus auch ein Erfolg der zweiten Frauenbewegung, führt unter den dargestellten Rahmenbedingungen zu neuen großen Belastungen. Für viele Frauen wird die früher übliche Abhängigkeit vom Familienernährer ersetzt durch die Notwendigkeit, die eigene Arbeitskraft unter prekären Bedingungen zu vermarkten, oder durch ein Leben unter den rigiden Einschränkungen und Zwängen des SGB II.
So lässt sich festhalten: Es gibt nicht ein neoliberales Reproduktionsmodell, sondern die Anforderungen werden auf unterschiedliche Weise bearbeitet. Allerdings bieten alle vier Reproduktionsmodelle keine erstrebenswerte Zukunftsperspektive. Denn die Erfüllung grundlegender Bedürfnisse im Zusammenhang mit der Möglichkeit, selbstbestimmt Sorge zu geben und selbstbestimmt Sorge zu empfangen, wird in diesen Modellen blockiert. Dies führt zu Überlastung und sozialem Leid.
Care Revolution
Diese hier nur skizzierte Erfahrung von fehlender staatlicher Unterstützung, Überforderung und sozialem Leid ist Folge der Krise sozialer Reproduktion. Darunter verstehe ich die Zuspitzung des Widerspruchs zwischen Profitmaximierung einerseits und der Reproduktion der Arbeitskraft andererseits. Von allen Menschen im erwerbsfähigen Alter – unabhängig von Geschlecht, Familienstatus und Anzahl der zu betreuenden Kinder und Angehörigen – wird verlangt, durch den Verkauf ihrer Arbeitskraft für ihren eigenen Lebensunterhalt aufzukommen. Gleichzeitig wird die Aufgabe, sich beschäftigungsfähig zu halten, verstärkt an sie selbst und ihre Angehörigen zurückgegeben. Eine solche kostensenkende Verlagerung von Sorgearbeit ist nur möglich, weil ein wesentlicher Teil dieser gesellschaftlich notwendigen Arbeit unentlohnt und abgewertet von Frauen in Familien verrichtet wird. Allerdings ist das Gelingen dieser Politik längst nicht gesichert. So fehlen bereits heute in einzelnen Branchen qualifizierte und körperlich fitte Arbeitskräfte (vgl. Maier u.a. 2014).
Trotz dieser Auswirkungen der eigenen Strategie hält das Kapital grundlegend an der weiteren Reduktion der Reproduktionskosten fest und der Staat reagiert nur an wenigen Stellen wie etwa beim Ausbau der Kita-Betreuung von Kleinkindern. Dort stünden anderenfalls die benötigten Arbeitskräfte, in diesem Fall qualifizierte Frauen, schon kurzfristig nicht mehr in ausreichendem Maß zur Verfügung. Selbst dabei werden allerdings die Kosten so gedrückt, dass grundlegende Qualitätsansprüche nicht eingehalten werden, auch hinsichtlich der Arbeitsbedingungen von Erzieher_innen.
Diese Analyse zeigt die Notwendigkeit eines grundlegenden politisch-ökonomischen Wandels. An diesem Erfordernis setzt die Transformationsstrategie der Care Revolution an. Sie stellt anknüpfend an die Erkenntnisse feministischer Politik die grundlegende Bedeutung der Sorgearbeit im nicht entlohnten familiären Bereich ebenso wie im entlohnten Care-Bereich ins Zentrum sozialer Auseinandersetzungen und zielt darauf ab, das gesellschaftliche Zusammenleben ausgehend von menschlichen Bedürfnissen zu gestalten. Damit wird Sorgearbeit, die in den meisten politischen Strategien ebenso wie in den vorherrschenden ökonomischen Theorien keine Rolle spielt, als Bezugspunkt der Gesellschaftsveränderung gewählt. Das Ziel der Care Revolution ist eine an menschlichen Bedürfnissen, insbesondere an der Sorge füreinander orientierte, radikal demokratisch gestaltete solidarische Gesellschaft (vgl. ausführlicher Winker 2015: 139-178).
Zur Realisierung auch der kleinsten Schritte in diese Richtung bedarf es eines politischen Zusammenschlusses Aktiver über Care-Bereiche und über Positionen im Sorgeverhältnis hinweg. Dies ist derzeit beim Kita-Streik in Ansätzen sichtbar. Selbst wenn Erzieher_innen und Eltern in der Streiksituation selbst unterschiedliche Interessen haben, beziehen sie sich aus unterschiedlichen Positionen positiv und wertschätzend aufeinander. So kann es gelingen, die Sorgearbeit für Kinder insgesamt ins Zentrum von Politik zu stellen und sich gute Arbeitsbedingungen für berufliche und familiäre Sorgearbeitende zu erkämpfen. Und es ist ein wichtiger Schritt, dass der Vorstand der Bundeselternvertretung der Kinder in Kindertageseinrichtungen und Kindertagespflege bereits Anfang Mai zu Streikbeginn die Erzieher_innen mit einer Online-Petition unterstützte und Ende Mai 50.000 Unterschriften an die Verhandlungsführer der kommunalen Arbeitgeber übergeben konnte.
Gleichzeitig kann an den sozialen Auseinandersetzungen um bessere Entlohnung der Beschäftigten, bessere Personalausstattung, gebührenfreie Kita-Plätze und an vielen anderen Reformprojekten immer mehr Menschen deutlich werden, wie wichtig es ist, die Care-Bereiche grundlegend demokratisch zu gestalten. Denn gerade hier ist nachvollziehbar, wie unsinnig und kontraproduktiv es ist, Menschen nach dem Prinzip maximaler Profitabilität und Effizienz erziehen, unterstützen, bilden oder beraten zu wollen. Darüber hinaus ist gerade bei der Bildung und Unterstützung von Kindern und Jugendlichen sichtbar, dass das derzeitige System sozialer Infrastruktur nicht nur zu mangelhafter Qualität, sondern auch zu großen sozialen Ungleichheiten führt. Auch haben Menschen sehr unterschiedliche Wünsche an eine soziale Infrastruktur. Deswegen ist es sinnvoll, durch Mitsprache aller jeweils Betroffenen und durch gemeinschaftliche Abwägung von Prioritäten vielfältige Angebote zu entwickeln. Dies ist im Erziehungs- und Sozialdienst wie in vielen Care-Bereichen auf kommunaler Ebene und damit dezentral in Stadtteilen oder im Dorf gemeinsam plan- und umsetzbar.
So ist es durchaus vorstellbar, dass eine Demokratisierung und Vergesellschaftung aller Care-Bereiche zu einem weithin unterstützten Ziel werden kann. Dennoch ist sie schwierig zu realisieren, gerade weil es aus den verschiedenen Perspektiven, die Menschen beispielsweise als Eltern oder Erzieher_innen einnehmen, auch unterschiedliche Interessen gibt. Deshalb ist es so enorm wichtig, dass sich im Care-Bereich Aktive regelmäßig austauschen und die Verschiedenartigkeit menschlicher Bedürfnisse zu akzeptieren lernen, wie es in Ansätzen derzeit im Netzwerk Care Revolution beginnt.[8] Dies ist ein lang andauernder, aber unabdingbar notwendiger Prozess. Die Aktivitäten vieler Elterninitiativen, die trotz der Schwierigkeiten, die für Eltern bei ausfallender Kita-Betreuung entstehen, dennoch den Streik der Erzieher_innen und Sozialarbeiter_innen unterstützen, sind ein großer politischer Schritt in diese Richtung. Und auch die Erzieher_innen streiken nicht nur für ihre mehr als überfällige bessere Entlohnung, sondern auch für die Ausgestaltung einer sozialen Infrastruktur, die ihnen professionelles Arbeiten und den Kindern Lernprozesse ermöglicht. So zeigen die Streikenden in Kitas und weiteren sozialen Einrichtungen und die solidarischen Elterninitiativen einen Weg auf, wie sich der Care-Bereich revolutionieren lässt. Wenn es auf diese Weise gelingt, eine Kultur des offenen und solidarischen Miteinanders zu etablieren, dann können wir eine Gesellschaft entwickeln, in der sich Menschen nicht mehr als Konkurrent_innen gegenüberstehen, sondern deren zentrales Konstruktionsprinzip Solidarität ist.
Literatur
Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) (Hg.) (2013): Lebenslagen in Deutschland. Der Vierte Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung. https://www.bmas.de/SharedDocs/Downloads/DE/PDF-Publikationen-DinA4/a334-4-armuts-reichtumsbericht-2013.pdf?__blob=publicationFile
Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) (Hrsg.) (2012). Familienreport 2011. Leistungen, Wirkungen, Trends, Berlin. Zugriff am 23.03.2014 unter: http://www.bmfsfj.de/RedaktionBMFSFJ/Broschuerenstelle/Pdf-Anlagen/Familienreport-2011,property=pdf,bereich=bmfsfj,sprache=de,rwb=true.pdf
Keller, Matthias; Haustein, Thomas (2013): Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Ergebnisse des Mikrozensus 2012. In: Statistisches Bundesamt (Hrsg.): Wirtschaft und Statistik, Dezember 2013, 862-882.
Lenze, Anne (2008): In schlechter Verfassung. Die Familienpolitik in Deutschland. In: Vorgänge, 47(3), 47-60
Maier, Tobias; Zika, Gerd, Wolter, Marc Ingo; Kalinowski, Michael; Helmrich, Robert (2014): Engpässe im mittleren Qualifikationsbereich trotz erhöhter Zuwanderung. In: BIBB-Report, Heft 23
Rürup, Bert; Gruescu, Sandra (2003): Nachhaltige Familienpolitik im Interesse einer aktiven Bevölkerungsentwicklung. Gutachten im Auftrag des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Berlin
Statistisches Bundesamt (Hg.) (2014): Mikrozensus. Bevölkerung und Erwerbstätigkeit. Stand und Entwicklung der Erwerbstätigkeit in Deutschland, Fachserie 1, Reihe 4.1.1. https://www.destatis.de/DE/Publikationen/Thematisch/Arbeitsmarkt/Erwerbstaetige/StandEntwicklungErwerbstaetigkeit2010411137004.pdf?__blob=publicationFile
Winker, Gabriele (2015): Care Revolution. Schritte in eine solidarische Gesellschaft. Bielefeld
[1] Vgl. beispielsweise http://www.soziale-berufe-aufwerten.de/unterstuetzen/elternvertretungen
[2] Vgl. beispielsweise http://www.lebnrw.de/wp-content/uploads/2015/05/2.-Presseerklärung-zur-Zusammenkunft-der-Kommunalen-Arbeitgeber-vom-28.05.2015.pdf
[3] Nur durch den Tarifvertrag für den Öffentlichen Dienst (TVöD) gebundene Kita-Betriebe können bestreikt werden. Dies betrifft ca. ein Drittel aller Kitas. Die Mehrzahl der Kitas ist in der Hand freier Träger wie der Arbeiterwohlfahrt oder der Caritas. Diese lehnen allerdings in der Regel die Entlohnung ihrer Beschäftigten an den TVöD an.
[4] Bis 1977 war die Ehefrau zu einer Erwerbstätigkeit nur berechtigt, „soweit dies mit ihren Pflichten in Ehe und Familie vereinbar ist“ (1356 Abs. 1 BGB in der Fassung bis 1977).
[5] Unter Reproduktionsarbeit verstehe ich die unter den jeweiligen kapitalistischen Bedingungen zur Reproduktion der Arbeitskraft notwendigen Tätigkeiten, die nicht warenförmig, sondern ausschließlich am Gebrauchswert orientiert in familialen und zivilgesellschaftlichen Bereichen geleistet werden. Der Begriff der Reproduktionsarbeit stellt ein Pendant zur Lohnarbeit dar und fokussiert somit auf die Form und Funktion dieser Arbeit im Kapitalismus. Er macht deutlich, dass ein kapitalistisches System nur durch Lohnarbeit in Verbindung mit Reproduktionsarbeit in familiären und nachbarschaftlichen, nicht entlohnten Zusammenhängen funktioniert.
[6] Beim Begriff Sorgearbeit bzw. Care-Arbeit geht es um die Stofflichkeit der Arbeit, um den Arbeitsinhalt des sich umeinander Kümmerns. Sorgearbeit bezeichnet die konkreten Tätigkeiten, also das Erziehen, das Pflegen, das Betreuen, das Lehren, das Beraten. Diese Sorgearbeit kann unentlohnt in Familien oder auch in Vereinen oder Initiativen erbracht werden. Sie kann aber auch entlohnt in staatlichen Institutionen, in Einrichtungen von so genannten Wohlfahrtsverbänden oder in privatwirtschaftlichen Unternehmen stattfinden.
[7] Details zu den vier Reproduktionsmodellen sind in Winker (2015: 56-71) zu finden.
[8] Weitere Informationen unter http://care-revolution.org