Fritz Behrens, „Man kann nicht Marxist sein, ohne Utopist zu sein...“ Texte von und über Fritz Behrens, herausgegeben von Günter Krause und Dieter Janke, VSA-Verlag, Hamburg 2010, 247 S., 18,80 Euro
Das ist ein merkwürdig disparates Buch, kommt doch der auf dem Titelblatt stehende Autor selbst erst auf den letzten 100 Seiten zu Wort, nachdem schon zehn andere über ihn geschrieben haben. Gewiss, der vor 30 Jahren verstorbene Fritz Behrens, dessen 100. Geburtstag im Vorjahr zu begehen war, ist kein Ökonom, dessen Texte heute ohne einleitende Vorbemerkungen zu Person und Werk publiziert werden können, aber nach diesen zehn (von den Herausgebern verfassten) Seiten hätte dem Autor – ihm zu Ehren, den Leserinnen und Lesern zum Nutzen – das Wort gebührt. Von den neun Texten aus seiner Feder sind überdies nur vier Neudrucke, das andere Nachdrucke, vor allem aus dem seit Jahren vergriffenen und antiquarisch, wenn überhaupt, dann nur zu unerschwinglichen Preisen erhältlichen Band „Abschied von der sozialen Utopie“. Es ist wahrlich an der Zeit, das dieser (grundfalsch betitelten) Sammlung zugrunde liegende Manuskript „Zur Kritik des staatsmonopolistischen Sozialismus“ und die übrigen nach 1968 zu dieser Thematik geschriebenen Notizen und Bemerkungen endlich vollständig zu publizieren.1
Nach Prag 1968 hatte Behrens den Glauben an eine Reformierbarkeit des „Realsozialismus“ verloren. Aber im Unterschied zu jenen Ökonomen, die in den Westen emigrierten, wie z. B. Ota Šik und Włodzimierz Brus, ging Behrens in die innere Emigration und rieb sich weiterhin an den im eigenen Land herrschenden Verhältnissen. Diese Konstellation war der tragische Ausgangspunkt, seine Auseinandersetzung damit jedoch die konstruktive Basis für weit über die bedrückende Gegenwart hinausreichende Betrachtungen.2 Dabei kritisierte er mit klarem Blick nicht nur die bestehenden Verhältnisse, sondern auch einige ihrer Kritiker wie Rudolf Bahro oder die Vertreter des „Prager Frühlings“, die „sogenannten Dissidenten und Systemkritiker, die nur systemimmanente Revisionisten sind, die soziale Reformen statt soziale Revolutionen wollen“ (242). Seines Erachtens waren die „Ideale des Prager Frühlings“ bloß die reformistischen Ideale eines demokratischen Sozialismus und nicht die revolutionären einer sozialistischen Demokratie (245).
Wer an „Einordnungen“ interessiert ist, wird Behrens am ehesten den rätekommunistischen Traditionen zuordnen können, antietatistisch und auf ein revolutionäres Proletariat orientiert, eine sich selbst verwaltende Assoziation freier Produzenten vor Augen, kurzum das glatte Gegenteil von solchen technokratischen Konstrukten wie Manager- oder Computersozialismus und – nicht zuletzt – durchaus mit einem Schuss Anarchismus versehen (237).
Die zehn Beiträge „Über Fritz Behrens“ sind sehr unterschiedlicher Natur und reichen von persönlichen Erinnerungen (Peter Thal) und stärker biografisch akzentuierten Betrachtungen (Helmut Steiner; Dieter Janke) bis zu theoriehistorischen Einordnungen (Joachim Tesch über Behrens, Šik und die Debatte über den Sozialismus im 21. Jahrhundert) und Nachnutzungsversuchen aus reformsozialistischer Sicht (Christa Luft; Klaus Steinitz). Dazwischen befinden sich Analysen zu spezielleren Aspekten der Behrens'schen Utopie wie dessen Rätekonzept (Stefan Bollinger) und seinen antileninistischen Antijakobinismus (Christoph Lieber) sowie die (nicht nur) launigen Reminiszenzen des „Alt-68ers“ Manfred Lauermann. Ganz auf der Höhe des Geehrten befindet sich sein tief schürfender Kritiker Frieder Otto Wolf mit dem Nachweis, was Behrens letztlich „daran gehindert (hat), den theoretischen Durchbruch, dem er sich mehrfach annähert, auch wirklich zu vollziehen“ (66/67). Diesen Beitrag hätte der also Kritisierte sicherlich nicht nur zustimmend, aber eben deshalb mit großer Freude gelesen.
Thomas Kuczynski
1 So die schon vor zehn Jahren formulierte Forderung des Rezensenten in seiner Besprechung des Bandes „Ich habe einige Dogmen angetastet ...“ Werk und Wirken von Fritz Behrens (Leipzig 1999). Siehe Sitzungsberichte der Leibniz-Sozietät, Jg. 2000, Bd. 36, H. 1, S. 136 ff. Dort auch der Hinweis auf das im Wolfgang-Heise-Archiv der Humboldt-Universität Berlin liegende Typoskript gleichen Titels.
2 Übrigens schufen auch in der Literatur gerade die in der DDR Verbliebenen (wie etwa Heiner Müller, Christa Wolf und Karl Mickel) Werke, die die Zeiten überdauern werden, wohingegen die meisten von denen, die weggegangen waren, damit ihre „Reibefläche“ verloren und demzufolge nur noch Dinge schrieben, die zwar schön, aber unbedeutend blieben.