Berichte

Zur geistigen Situation nach der Befreiung vom Faschismus/Alle Berichte

von Rainer Holze
September 2015

Zur geistigen Situation nach der Befreiung vom Faschismus

Kolloquium des Förderkreises Archive und Bibliotheken zur Geschichte der Arbeiterbewegung e.V. und des Berlin-Brandenburgischen Bildungswerkes e.V., 30. April 2015, Berlin

Überhaupt nicht thematisiert wurde in den offiziellen Gedenkveranstaltungen zum 8. Mai 1945 – aber auch wenig in Veranstaltungen des linken Spektrums – die „geistige Situation“ nach der Befreiung vom Faschismus. Neben vielen unbelehrbaren Nationalsozialisten, die in den westlichen Besatzungszonen nach und nach wieder an die Schalthebel der Macht gebracht wurden, neben zahlreichen Deutschen, die aufgrund ihrer Erfahrungen im NS-Staat von Politik nichts mehr wissen wollten, gab es auch eine Aufbruchstimmung. Sie war anzutreffen bei jungen Menschen, bei ehemaligen Mitgliedern der Arbeiterparteien und Gewerkschaften, die entweder antifaschistischen Widerstand geleistet oder sich während der Zeit der faschistischen Diktatur „unauffällig“ verhalten hatten. Diese Aufbruchstimmung wirkte bis in die damaligen Parteiprogramme hinein und prägte den Zeitgeist. Was die Intelligenz 1945 anbelangt, hatte sich aufgrund der politisch-historischen Erfahrungen der Weimarer Republik, der faschistischen Diktatur und des Zweiten Weltkrieges die Erkenntnis durchgesetzt, dass eine kulturelle Erneuerung nur im Zusammenhang mit umfassenden politisch-gesellschaftlichen Umwälzungen möglich war.

Das Berlin-Brandenburgische Bildungswerk und der Förderkreis Archive und Bibliotheken zur Geschichte der Arbeiterbewegung führten zu diesem bislang sehr vernachlässigten Problemkreis Ende April im KulturGut in Berlin-Marzahn ein wissenschaftliches Kolloquium mit über 80 TeilnehmerInnen durch. Günter Benser (Berlin) eröffnete mit einem Vortrag „1945 – eine historische Zäsur“. Er und die folgenden Redner setzten sich prononciert mit der Metapher der Stunde „Null“ auseinander. Sie sei allenfalls geeignet, die subjektive Verfasstheit deutscher Zeitgenossen zu umschreiben und suggeriere zudem die Vorstellung, dass sich am Ende des Zweiten Weltkrieges und angesichts der katastrophalen Niederlage alle Deutschen als eine Schicksalsgemeinschaft verarmter, hungernder, notleidender und orientierungsloser Menschen empfunden hätten, für die – zumindest vorübergehend – die Klassentrennungen und die politischen Lager keine oder nur eine nebensächliche Rolle gespielt hätten. Benser schilderte die historisch-politische Brisanz dieser Thematik, die Dimension der historischen Zäsur des Jahres 1945, das veränderte internationale Kräfteverhältnis und die neue internationale Architektur, den „allgemeinen sozialistischen Zug der Zeit“. Er erinnerte an den alliierten Konsens zur Abrechnung mit dem Faschismus und zur Bestrafung der Schuldigen und dann an das Ende dieser Kooperation sowie an den Übergang zum Kalten Krieg. Ein solcher sei bereits auch in der heutigen Welt im Gange, diesmal nicht zwischen zwei widerstrebenden Gesellschaftssystemen, sondern zwischen kapitaldominierten Staaten. Es stelle sich die Frage, wieso die im antifaschistischen Widerstand und in der Antihitlerkoalition gewonnenen Einsichten, Konzepte und Programme so rasch wieder in der Versenkung verschwunden oder zumindest als Grundlage praktischen Handels aufgegeben worden seien, und welchen Preis wir für die Dominanz von Profitmaximierung, egoistischen Klassen- und nationalen Sonderinteressen, politischen und religiösen Fanatismus zu bezahlen haben.

Jörg Wollenberg (Bremen) stellte weitgehend in Vergessenheit geratene konzeptionelle Vorstellungen deutscher Sozialisten zum politischen, gesellschaftlichen und ökonomischen Neuaufbau Nachkriegsdeutschlands vor und ging den Gründen des Scheiterns ihrer Nachkriegspolitik nach. Vor allem von ihm zitierte Überlegungen von Willy Brandt von Anfang 1945, die auf eine sozialistische Transformation Nachkriegsdeutschlands und ein enges politisches Verhältnis zur Sowjetunion ausgerichtet waren, fanden Beachtung. Auch Peter Brandt (Hagen) erinnerte in seinem Vortrag „Zwischen Grotewohl und Schumacher. Sozialdemokratische Sozialismuskonzeptionen 1945/46“ an heutzutage in Vergessenheit geratene Sozialdemokraten und deren politische Vorstellungen. Leider war unter den Vortragenden mit Gisela Notz (Berlin) nur eine Frau. Sie sprach über die überparteilichen Frauenausschüsse nach dem Zweiten Weltkrieg und verdeutlichte die mannigfaltigen Schwierigkeiten, welche die sozialdemokratischen Frauen in ihrem Engagement nach 1945 zu überwinden hatten. Jürgen Hofmann (Berlin) arbeitete detailliert heraus, wie sich die KPD 1945/46 mit der ideologischen Hinterlassenschaft des deutschen Faschismus auseinandergesetzt hat. Bereits im Prozess der Diskussionen um ihre Nachkriegsplanung habe sich die KPD-Führung – vornehmlich ab 1944 im Moskauer Exil – darauf vorbereitet. Siegfried Prokop (Bernau) vermittelte ein differenziertes Bild über die Lage der Intelligenz in der sowjetischen Besatzungszone im Jahre 1945. Er zeigte, wie stark die Intelligenz vom deutschen Faschismus beeinflusst worden war. Der beginnende politisch-soziale Wandel der Intelligenz müsse im engen Zusammenhang mit den gesellschaftlichen Umbrüchen – der Entnazifizierung, der Boden- und Justizrereform sowie der Enteignung der Nazi- und Kriegsverbrecher – gesehen werden. Jörg Roesler (Berlin) befasste sich mit dem Umgang mit Flüchtlingen in jener Zeit. Er verdeutlichte, wie die Flüchtlinge die „Stunde Null“ erlebten und welche Perspektive man den Deutschen aus dem Osten – konkret den Flüchtlingen, die aus dem Raum zwischen Oder und Neiße emigriert waren – in der sowjetischen bzw. in der britischen Besatzungszone bot. Die auf die Integration der Migranten gerichteten Bemühungen der Politik in der sowjetischen Besatzungszone seien durch die dort stattfindenden gesellschaftlichen Veränderungen auf den Gebieten der Politik und Ökonomie – wie zum Beispiel durch die demokratische Bodenreform, durch die eine ganze Reihe Flüchtlinge ehemaliges Junkerland erhalten hatten – begünstigt worden. Im abschließenden Vortrag erörterte Heinz Engelstädter (Berlin) das Thema „Geschichtsverständnis – Anspruch und Wirklichkeit“. Eine Lesung über die bildende Kunst im Jahre 1945 trug ebenfalls zum Gelingen des Kolloquiums bei. Über dessen Ertrag wird – ergänzt durch weitere Beiträge – ein Sammelband erscheinen.

Rainer Holze

Umbruch im kapitalistischen Weltsystem

23. isw-forum, München, 16. Mai 2015

Die Tagung des Münchener Instituts für sozial-ökologische Wirtschaftsforschung fand kurz vor der Zusammenkunft der G7 in Elmau statt, was der Konferenz mit dem Titel „Der Aufstieg des Südens. Umbruch in der globalen Machtverteilung?“ besondere Aktualität verlieh. Inhaltlich war die Veranstaltung durch den ISW-Report Nr. 100/101 „Umbruch im globalen Kapitalismus. Abstieg der G7-Metropolen – Aufstieg der Schwellenländer“ von Leo Mayer, Fred Schmid und Conrad Schuhler gut vorbereitet: Die Veröffentlichung skizziert Grundzüge des gegenwärtigen Umbruchs und enthält umfangreiches empirisches Material.

Eingeleitet wurde der Tag durch Jörg Goldberg, entwicklungspolitischer Gutachter und langjähriger Politikberater in Afrika, der zum Thema „Die Emanzipation des Südens – Neuerfindung des Kapitalismus“ sprach. Er skizzierte die ökonomischen Verschiebungen zwischen den alten kapitalistischen Mächten des Westens einerseits und den aufstrebenden Ländern des Südens andererseits, ein Prozess, der unter kapitalistischen Vorzeichen abläuft. Seine Kernthese, die er in seinem Buch „Die Emanzipation des Südens“ begründet, besagt, dass die neuen kapitalistischen Wirtschaftsmächte des Südens auf der Grundlage historisch gewachsener Gesellschaftsstrukturen eigene Institutionen herausbilden, die sich von den kapitalistischen Gesellschaften des Westens in wichtigen Punkten unterscheiden.

Der folgende Vortrag von Anna Ochkina, stellvertretene Direktorin des Instituts für Globale Forschung und Soziale Bewegungen aus Moskau, beschäftigte sich mit der Frage, ob die BRICS-Staaten Kern einer alternativen, d.h. nicht-neoliberalen Weltordnung werden könnten. Dabei berührte sie auch die von Goldberg angesprochene Problematik der kulturellen Vielfalt, allerdings aus einem anderen Blickwinkel. Vor dem Hintergrund der russischen Entwicklung – die ökonomische und soziale Basis des heutigen Russland sei die Ausbeutung der Errungenschaften des sowjetischen Systems (die sie keinesfalls nur positiv sieht), ohne dass bislang eine lebensfähige Alternative geschaffen werden konnte – stellte sie die These auf, dass die BRICS-Länder durch ein vielfältiges, historisch gewachsenes soziales und kulturelles Potenzial gekennzeichnet seien, das sie zu mächtigen globalen ‚playern‘ machen könnte. Jedoch seien Teile der Eliten dabei, dieses Potenzial durch kritiklose Übernahme neoliberaler Muster zu zerstören. Trotzdem beantwortete sie die im Titel ihres Vortrags gestellte Frage positiv: Die unterschiedlichen BRICS-Staaten seien unter dem Druck der hegemonialen Bestrebungen des Westens gezwungen, Allianzen zu bilden und die durch die neoliberalen Tendenzen bewirkten sozialen Zerfallserscheinungen durch den Aufbau von modernen Sozialstaaten zu beantworten.

Die Vorträge – besonders interessant die Charakterisierung Russlands als einer in der Tradition des Sowjetsozialismus passiven, wenig zu Widerstand fähigen Gesellschaft – wurden nur kurz diskutiert, was u.a. an Sprach- und Übersetzungsproblem beim russischen Vortrag lag. Gegen Goldberg richtete sich der Einwand, die konstatierten institutionellen Abweichungen vom westlichen ‚Kapitalismusmodell‘ seien nur Übergangserscheinungen. Dem wurde entgegen gehalten, dass der europäische Kapitalismus im Kern durch Institutionen des europäischen Feudalismus geprägt sei. Der Kapitalismus des Südens würde sich – wie in Europa – mit vorkapitalistischen Institutionen verbinden und müsse daher andere gesellschaftliche Verhältnisse als im Westen hervorbringen.

Noch prononcierter als Ochkina vertrat Valter Pomar, Professor für Internationale Ökonomie an der Universität ABC aus Sao Paulo, in seinem Papier „Lateinamerika: Gegenentwürfe zur neoliberalen Globalisierung?“ die Ansicht, dass die BRICS-Länder ein relativ geschlossener Block seien, der die US-Hegemonie herausfordern könnte. Da er persönlich absagen musste, wurde sein Vortrag verlesen.

Walter Baier, Koordinator des Netzwerks transform aus Wien, setzte sich mit „Europas Rolle bei der globalen Neugestaltung“ auseinander. Er schilderte die inneren Probleme der EU, die ihre Handlungsfähigkeit als eigenständiger Block beeinträchtigen. Entscheidend seien die sozialen Kräfteverhältnisse innerhalb Europas, d.h. die Frage, ob es gelingen kann, die Interessen der abhängigen Klassen im Integrationsprozess zur Geltung zu bringen.

In seinem Abschlussvortrag „G7 und der Umbruch der Weltordnung – vor neuen Weltordnungskriegen?“ ging Conrad Schuhler, Vorsitzender des ISW, auf die friedenspolitischen Aspekte der globalen Machtverschiebungen ein. Er wies darauf hin, dass insbesondere das hartnäckige Festhalten der USA an einer Führungsrolle, die das Land wirtschaftlich nicht mehr ausfüllen kann, die Gefahr militärischer Auseinandersetzungen verschärft.

Auch wenn die gut besuchte Tagung die angerissenen Probleme nicht ausdiskutieren konnte: Das ISW hat unter Beweis gestellt, dass man auch mit geringen finanziellen und logistischen Mitteln intellektuell anspruchsvolle Debatten organisieren kann. Innerhalb der linken Bewegungen ist das ISW eine in seiner Kontinuität und Innovativität bemerkenswerte Erscheinung.

David Schuster

„Literatur (in) der Krise“

Workshop von „Z“ in Verbindung mit der Heinz-Jung-Stiftung, Frankfurt am Main, 23. Mai 2015

Wie ist es um die zeitgenössische Literatur und Kulturproduktion bestellt? Wie werden die vielschichtigen Krisenprozesse, die seit 2007/2008 tiefgreifende Auswirkungen gezeitigt und ein intensives Nebeneinander von Krisenprozessen und Krisendiskursen beschert haben, literarisch gefasst? Wer schreibt über was, wie verhält sich die Gegenwartsliteratur im Spannungsfeld von Eskapismus und Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Missständen? Diese und ähnliche Frgen des in Z 101 gesetzte Themenschwerpunkt „Literatur (in) der Krise“ sind auf verstärktes Interesse gestoßen, es wurde ein Thema ausgewählt, das in ähnlicher Form zuletzt in verschiedenen Debattenzusammenhängen diskutiert wurde, von sich politisch verstehenden Literaten und Kulturschaffender, auf wissenschaftlichen Tagungen, in den Feuilletons bedeutender Tageszeitungen.1

Ausgewählte Beiträge aus dem Themenheft zu Krise und Literatur standen bei zwei Veranstaltungen2 zur Diskussion. Die erste, über die hier berichtet wird, fand im Rahmen eines Workshops am 23. Mai in Frankfurt/M. statt. Dort wurden mit Autorinnen und Autoren des Heftes in drei Blöcken thematische Schwerpunkte vertieft. Der grundlegenden Auseinandersetzung mit Problemen politischer Ästhetik heute am Vormittag folgten am Nachmittag die beiden Blöcke zu Krisenkunst? Gesellschaftskritik in der Gegenwartskunst und eine Abschlussdiskussion. David Salomon (Frankfurt) eröffnete den ersten Block mit einem Definitionsversuch des Begriffs der Politischen Ästhetik und warf die grundsätzliche Frage nach dem Beitrag, den Literatur zur politischen und gesellschaftlichen Zeitdiagnose liefern kann, auf. Salomon sprach sich für ein Verständnis von Literatur als „Art und Weise der Weltaneignung“ aus und wies darauf hin, dass möglicherweise geführte Debatten über den Realismus sich stets um präzise gefasste Realismusbegriffe zu drehen hätten und auch die beliebte, oftmals vereinfachend verwendete Spiegel-Metapher kritisch zu reflektieren sei.

Carolin Amlinger (Frankfurt/Darmstadt) stellte ihre Untersuchung über die Veränderungen der Produktionsbedingungen des Schreibens in der Gegenwart vor. Kunst drohe immer mehr Mittel zum Zweck der Kapitalakkumulation zu werden. Damit bestimme die ökonomische Logik die Literaturproduktion tiefgreifend. Die ohnehin prekäre Situation der ‚schreibenden Arbeiter’ verschlechtere sich, wobei durchaus eine starke Ungleichheit und Ausdifferenzierung der sozialen Lage und Honorierung der Autoren festzustellen sei. Übergreifend sei auf dem Buchmarkt die Tendenz zum pragmatischen Ausrichten des Schreibens auf das Kalkül des intendierten Markterfolges zu konstatieren. Der Tatbestand, dass der „Markt mitschreibt“, sorge dafür, dass ein kritischer Anspruch im Schreiben oder gar markt-kritisches Schreiben kaum mehr möglich seien.

Sven Gringmuth (Siegen) betonte die widerspiegelnde Kraft und Funktion von Literatur, gesellschaftliche Entwicklungen zu antizipieren, zu kommentieren oder in Form des kritischen Rückblicks zu thematisieren. Literatur könne Zeugnis von der gesellschaftlichen Realität ablegen und über diese viel nachhaltiger aufklären als so manche soziologische Abhandlung. In der deutschsprachigen Literatur sei der Ausdruck einer neuen Sensibilität festzustellen, für die Enno Stahl und seine Thematisierung von prekären Lebenssituationen sowie der Arbeitswelt stehe. Gringmuth diskutierte an verschiedenen Beispielen die in der Gegenwartskultur dennoch vorherrschende Haltung der reflexhaften Abwehr jeglichen Engagements. Die Haltung des dis-engagement sei weiterhin chic, während die nach außen getragene radikale Haltung einiger Kulturschaffender oftmals wenig mehr als leere Geste sei.

Daniel Göcht (Köln) fragte in Auseinandersetzung mit dem Spätwerk Georg Lukács’ Die Eigenart des Ästhetischen danach, welchen Beitrag Lukács’ Werk zu den Problemen der politischen Ästhetik der Gegenwart liefern könnte. Im Anschluss an die Darlegung zentraler Theoreme des Spätwerks von Lukács (Kunst als Form des menschlichen Selbstbewusstseins und Medium der Selbstreflexion) erörterte Göcht die Frage der Parteilichkeit, die in jedem Werk schon enthalten sei, ohne dass diese sich als explizite Stellungnahme zeigen müsse. Den positiven Aspekten der Umstülpung der hegelschen Ästhetik sowie des Begriffs von Kunst als Medium der Selbstreflexion gesellschaftlicher Formen des Selbstbewusstseins stellte Göcht die Grenzen des Spätwerks gegenüber, die er in dem defizitären Begriff von Subjektivität sowie der Orientierung an dem Entfremdungs- und Gattungsbegriff, die die Einseitigkeiten der Philosophie Ludwig Feuerbachs wiederhole, ausmachte.

In der Diskussion wurde die Spannung zwischen der Lukács’schen Annahme, dass jede Kunst realistisch sei, und der in mehreren statements geäußerten Behauptung einer verstärkten Weltaneignung der Gegenwartsliteratur diskutiert. Was reflektiert sich in dieser jüngsten, vermeintlich ‚realistischeren’ Literatur? Welche Wahrnehmungen von Gesellschaft und Formen von Subjektivität drücken sich dort aus? Es wurde vorgeschlagen, das Kriterium der zeitdiagnostischen Qualität von Literatur zu entkoppeln von den Gegenüberstellungen zwischen gute/schlechte oder progressive/nicht-progressive Literatur. In der Diskussion der gesellschaftstheoretischen Frage nach der Darstellung und Aneignung von Wirklichkeit und der Definition von Literatur als Erkenntnismedium von Gesellschaft wurde auch die Frage aufgeworfen, ob und wie der Begriff des Realismus als inhaltliche, wohl definierte Kategorie aktualisiert und neu in die Diskussion eingeführt werden sollte.

Das zweite Podium widmete sich dem Thema der Krisenkunst und fragte nach der Rolle von Gesellschaftskritik in der Gegenwartskunst. Ingar Solty (Berlin) eröffnete die Runde und legte seine Überlegungen über die poetologischen Formen des Ausdrucks von Kritik in der Literatur dar. Kunst sei stets politisch, auch oder vor allem dann, wenn sie vorgibt, dies nicht zu sein. Solty zufolge ist ein neuer sozialer Realismus in der Gegenwartsliteratur zu beobachten. Dessen Auftreten hänge mit der Hegemoniekrise des Neoliberalismus zusammen, und er adressiere die kaum sichtbaren, aber dennoch systematisch bedingten Phänomene der strukturellen Gewalt der gegenwärtigen politischen Verhältnisse. Solty sieht in der multiperspektivischen Darstellungsweise, in der sich verschiedene Klassensubjekte wechselseitig bespiegeln sowie im Großstadtroman interessante und innovative Entwicklungen im Hinblick auf einen neuen sozialen Realismus. Am Schluss stand die Frage, wie revolutionäres Schreiben in gegenrevolutionären Zeiten möglich sein könne, ohne kitschig oder peinlich zu werden. Mit Enno Stahls Konzept des ‚analytischen Realismus’ warf Solty das Problem auf, dass die Gegenwartsliteratur sehr wohl unkritisch sein könne, selbst wenn sie sich ‚realistischer’ Darstellungsmodi bediene.

Kai Köhler (Berlin) hob am Beispiel der Anschläge von 09/11 in der deutschen Gegenwartsliteratur die Besonderheit der literarischen Formen und ästhetischen Gestaltung dieses punktuellen historischen Ereignisses hervor, das einen plötzlichen Einbruch und Wendepunkt markierte: einen Wendepunkt, mit dem der Glaube, dass die Geschichte an ihr Ende gelangt sei, ins Wanken geriet. Köhler stellt fest, Formfragen seien in den Vordergrund gerückt und das Fehlen politischer Akteure müsse als weiterer konstitutiver Zug dieser neueren Literatur verstanden werden, die sich primär um die Krisenbewältigung auf privater, subjektiver Ebene drehe.

Artur Rümmler (Darmstadt) stellte die Arbeit des Werkkreis Literatur der Arbeitswelt sowie sein eigenes poetologisches Selbstverständnis vor. Ausgehend von einer historischen Skizze des Wirkens und der regen Publikationstätigkeit des Werkkreises, der Literatur als politische Waffe zur Kritik des Kapitalismus verstand, legte Rümmler den Schwerpunkt auf die Frage der Aktualität einer dezidiert sich sozialistisch verstehenden Literatur. Der Werkkreis, der in seiner Blütezeit in den 1970er und 1980er Jahren insgesamt ca. 60 Bände im Fischer-Verlag veröffentlichte, leide gegenwärtig an Mitgliederschwund und Überalterung. In dieser Situation sei die Aktualität der sozialistischen Literatur neu auszuloten. Als hilfreich hierfür sieht Rümmler einen Realismusbegriff, der keinen spezifischen Stil, sondern eine Haltung zur Realität bezeichnet, eine Haltung, die sich die Aufgabe stellt, zu analysieren, darzustellen und miterleben zu lassen. Die zentralen Fragen eines solchen Programms lauteten: Wie ist die gesellschaftliche Wirklichkeit beschaffen, warum ist sie so, wie können wir sie überwinden?

In der Diskussion wurde ein Verständnis von Kunst und Literatur kritisiert, das diese rein instrumentell betrachtet und auf ihren politischen Gehalt bzw. das Kriterium einer soziale Missstände thematisierenden Darstellungsweise als Qualitätskriterium hin abklopft, ohne die Autonomie der Kunstproduktion anzuerkennen. Dem wurde entgegengehalten, Kunst sei zwar als autonomer aber keinesfalls als autarker Diskurs zu verstehen, da sie ihr Material notwendigerweise aus der „Welt“ und der Gesellschaft nehme. Das die Debatten bestimmende Thema war damit die Auslotung der politischen Funktion von Literatur. Die Gestaltung der menschlichen Subjektivität sei von der Literatur mit den ihr eigenen Darstellungsmodi viel komplexer und präziser zu fassen als mit sozialwissenschaftlichen Ansätzen. Gegen soziologisch-reduktionistische Zugänge zur Literatur wurde betont, dass neben den reinen Inhalten auch die ästhetische Form von Literatur zu berücksichtigen sei.

In der Abschlussdiskussion wurden zuvor schon ausgeführte Positionen zur politischen Funktion von Literatur wieder aufgegriffen. Der in der Literatur ausgedrückten „Haltung“ sei besonderes Augenmerk beizumessen wie auch ihrer Funktion als Erkenntnismedium der Weltaneignung, das dennoch zugleich relativ autonom von der gesellschaftlichen Wirklichkeit sei. Die kritische Analyse der gesellschaftlichen Realität bedürfe der komplexen Beschreibungs- und Modellierungstechniken der fiktionalen Literatur, die als „in Geschichten erzählte Zeit“ konzipiert werden könne und somit ein zentrales Erkenntnismedium zur Durchdringung der komplexen Logiken nicht zuletzt der kapitalistischen Vergesellschaftung konstituiere. Zur Illustration wurde das Bonmot Friedrich Engels zitiert, demzufolge durch die Lektüre von Balzac – z. B. dessen Roman L’argent (Das Geld) – ein komplexeres Verständnis des Börsen-, Banken- und Spekulationsgeschehens gewonnen werden könne als „von allen berufsmäßigen Historikern, Ökonomen und Statistikern dieser Zeit zusammengenommen“3. Dementgegen wurde wiederum betont, dass Literatur stets mehr sei als reines Erkenntnismedium des Sozialen und die poetische Spezifik niemals subsumierbar sei oder aufgehe in der Darstellung des Sozialen und dort lokalisierter Unrechtserfahrungen.

Der Anspruch, die Spannung zwischen letzteren beiden Positionen auflösen zu können, wäre freilich vermessen und kann als produktive Anregung für künftige Debatten, an denen sich ein Großteil der Anwesenden interessiert zeigte, festgehalten werden.

Patrick Eser

Herausforderungen der Friedensbewegung

Seminar des Bundesausschusses Friedensratschlag, Kassel, 30. Mai 2015

Auf dem Programm der Tagung mit rd. 40 TeilnehmerInnen standen zwei Konfliktregionen, die die mediale Berichterstattung der letzten Zeit maßgeblich mitbestimmten: die Ukraine und der Nahe Osten. Es ging, wie Lühr Henken (Berlin, Sprecher des Bundesausschusses Friedensratschlag), einleitend betonte, darum, die hinter den Auseinandersetzungen liegenden Fragestellungen zuzuspitzen, Kampagnen zu entwickeln und so (Hintergrund-)Informationen in die Öffentlichkeit und in die Bewegungen zu tragen.

Zum Konflikt in der Ukraine referierte Kai Ehlers (Hamburg). Der Journalist und Schriftsteller stellte in seinem Beitrag „drei große Transformationsströme“ heraus: 1) Die nachsowjetische Transformation, 2) die nachholende Nationsbildung und 3) das Ende der unipolaren Weltordnung. Gegenwärtig befänden wir uns noch immer mitten in der Phase der nachsowjetischen Transformation, womit die generelle Frage nach der Lebensweise gestellt sei. Ehlers sprach von einem radikalen Sturz aus der idealistischen Höhe des Sozialismus in einen „platten Kapitalismus“, der auch Ursache für die Wut der Rebellierenden sei. Die nachholende Nationsbildung und der Kampf darum wären nicht ohne Blut verlaufen. Lange Zeit sei die Ukraine keine Nation, sondern lediglich ein territoriales Gebilde gewesen. Aktuell ginge es um den Versuch dieses Gebiet zu organisieren. Geopolitisch betrachtet sei die Zeit einer unipolaren Welt vorbei, doch die amerikanische Politik sei durch eine Verhinderungsstrategie mit dem Ziel, keine Kontrahenten zu zulassen, gekennzeichnet. Nachlesen könne man dies u.a. bei Zbigniew Brzezinski: „Wer die Welt beherrschen will, muss Eurasien beherrschen. Wer Eurasien beherrschen will, muss das eurasische Herzland, Russland beherrschen. Wer Russland beherrschen will, muss die Ukraine aus dem Einflussbereich Russlands lösen“1. Russland tritt laut Ehlers für eine multipolare Welt ein und sei im Falle der Krim „offensiv aus der Defensive“ getreten. Letztlich müsse man den Konflikt in der Ukraine aus Sicht beider Großmächte betrachten.

In der Diskussion wurde herausgestellt, dass sich die NATO als „Öl-NATO“ definiert habe, die eine wirtschaftliche Präventionsagenda betreibe, wobei wirtschaftliche Maßnahmen auch direkte militärische Eingriffe umfassten. Von Werner Ruf kam die zugespitzte These, der Ukraine-Konflikt sei ein verdeckter Konflikt zwischen den USA und der EU. Es gehe um den Versuch der USA, mittels der NATO die Energiezufuhr in die EU zu kontrollieren. Ehlers widersprach dem und stellte nochmals die Bedeutung Eurasiens heraus, über dessen Kontrolle die Welt zu beherrschen sei.

Werner Ruf (Kassel) ging in seinen Ausführungen vom Problem der Komplexität der Region aus – alleine schon sichtbar am Spektrum der religiösen Gruppen. Der Politologe und Friedensforscher warf die Frage auf, warum es in letzter Zeit zu Konflikten gekommen sei, obwohl diese (religiösen) Gruppen längere Zeit friedlich zusammengelebt hätten. Er machte zwei wesentliche Ursachen aus. Zum einen spiele der Niedergang der USA als globale Weltmacht eine Rolle. Beispielhaft nannte er hier die mangelnde eigene Kriegsbereitschaft: Viele Konflikte würden mittlerweile durch Stellvertreter geführt. Zum anderen sei der Djihadismus zu einem regelrechten Unternehmen geworden2 – in Syrien kämpfen insgesamt 13 große Privatakteure, deren Grundlage die gleiche Religion und der gleich Gott sei. Die Milizen versuchten immer stärker, sich von ihren ursprünglichen Geldgebern (u.a. aus Washington/Riad/Doha) unabhängig zu machen. Eine Ausnahme bilde der IS (Islamische Staat), der bereits über eine sehr gute ökonomische Basis verfüge. Die Entstehung des IS hat, so Ruf, ihren Ursprung im „Modelfall Irak“. Huntingtons Paradigma „Clash of Civilisations“ sei zur Grundlage politischen Handelns und der Kriegsführung der USA im Nahen Osten geworden. An ihm orientiert führten die USA nach einem rein konfessionellen Muster u.a. im Irak die „Entbaathifizierung“ durch. Im Nahen Osten trete insgesamt eine schwierige und komplexe Gemengelage auf. Es sei absolut undurchsichtig, wer wann von wem finanziert werde, da dies schnell wechseln könne. Hinter der Finanzierung der islamischen Banden ständen auf jeden Fall nicht (primär) religiöse Motive, sondern machtpolitische Interessen.

Diskutiert wurde anschließend unter anderem die innenpolitische Lage in Saudi-Arabien. Das Land habe keine eigenständige Ökonomie und sei nicht ansatzweise industrialisiert, das Volk lebe von der Staatsrente, die verteilt würde. Werner Ruf nahm das auf und betonte die Bedeutung der sozialen Frage im Kontext der arabischen Konflikte. Die These, dass die USA Staatsverfall als ausdrückliches Ziel verfolgten, wurde von ihm – mit dem Hinweis auf bereits erfolgte Versuche neuer Regierungsbildungen – eher zurückgewiesen.

In der Abschlussdiskussion wurde die Ebene der Staaten (UNO) mit der Perspektive der Etablierung eines kollektiven Sicherheitssystems eher pessimistisch bewertet. Wichtig sei es, den Menschen in Deutschland die Verbindung Kapitalismus – Krieg – soziale Frage aufzuzeigen. Frieden sei mehr als die bloße Abwesenheit von Krieg (negativer Friedensbegriff), es gehe auch um soziale und ökologische Konflikte. Was die Ukraine betrifft, so war der Tenor ein Grundverständnis der NATO als aggressives Bündnis, während sich Russland in der Defensive befände. Eine Kampagne müsse auf die NATO ausgerichtet sein und ein Austritt wurde als Forderung diskutiert. Auf jeden Fall dürfe es eine keine weitere NATO- bzw. EU-Osterweiterung geben. Darüber hinaus müsse man sich verbinden und solidarisieren: Bewegung gegen TTIP, Blockupy, Antifa, Gewerkschaften und Arbeiterbewegung. Viele der anwesenden TeilnehmerInnen brachten Erfahrungen ihrer örtlichen Friedensinitiativen ein. Am folgenden Tag schloss sich in Kassel ein Treffen des Bundesausschusses Friedenratschlag an, bei dem die Ergebnisse des Tagesseminars direkt in Handlungsorientierungen einfließen sollten.

Patrick Ölkrug

Vier Jahrzehnte Alternative Wirtschaftspolitik

Jubiläumstagung der MEMORANDUM-Gruppe, Berlin, 20. Juni 2015, Verdi-Hauptverwaltung

Am 20. Juni trafen sich ca. 120 ÖkonomInnen, GewerkschafterInnen und Aktive aus Sozialen Bewegungen und Verbänden zur Jubiläumstagung der MEMORANDUM-Gruppe1 in der ver.di Hauptverwaltung.

Wie kommt man dazu, ein solches Jubiläum zu feiern? Um dies zu begreifen sollte man die Ausgangssituation reflektieren. Rudolf Hickel, neben Jörg Huffschmid und Herbert Schui einer der Initiatoren der Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik, kennzeichnete in seiner Festrede die damalige wirtschaftliche Lage (ausführlicher nachzulesen im Memorandum 1975, erneut abgedruckt im Memorandum 2015): 1975 endete aus späterer Sicht (so z.B. Eric Hobsbawm) das „goldene Zeitalter des Nachkriegskapitalismus“. Nach dem Boom Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre brach nicht nur eine schwere Überproduktionskrise aus und fand nicht nur das Internationale Währungssystem von Bretton Woods sein Ende (was einen enormen Deregulierungsschub des internationalen Handels-, Finanz- und Bankensystems einleitete); es spielte sich nicht nur die erste Preisrevolution für Erdöl und Erdgas ab, sondern führende Industrieländer wandten sich vom mehr oder weniger konsequent betriebenen Keynesianismus ab und begannen, den Sozialstaat Schritt für Schritt zu demontieren. Die Helmut Schmidt-Formel GIB (die Gewinne von heute sind die Investitionen von morgen und die Beschäftigung von übermorgen) wurde zum dürftigen theoretischen Unterbau der beginnenden neoliberalen Ära, die besonders durch Thatcher und Reagan vorangetrieben wurde.

Die Gründung der Memo-Gruppe war der Versuch einer theoretischen Kampfansage an diesen aufkommenden neoliberalen Mainstream, dessen „wissenschaftlicher“ Protagonist in der Bundesrepublik der „Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung“ (SVR) geworden war. Die neue Gruppe aus Alternativ-ProfessorInnen, wissenschaftlichen MitarbeiterInnen und Doktoranden sowie Ökonomen aus den gewerkschaftlichen Instituten und Apparaten dagegen verständigte sich pragmatisch auf (links)keynesianische, marxistische und andere heterogene Positionen. Schwerpunkte waren das Ringen um mehr Wirtschaftsdemokratie, die Verteidigung und der Ausbau des Sozialstaates, die Arbeitszeit- und Arbeitsmarktpolitik und eine gerechte Steuer-, Finanz- und Regionalpolitik sowie zunehmend die Auseinandersetzung um die wichtiger werdende Umweltpolitik.

Rudolf Hickel und so gut wie alle anderen ReferentInnen beschäftigten sich intensiv mit der Frage der relativen politischen Wirkungslosigkeit der Ideen alternativer Wirtschaftspolitik sowie dem Redundanzvorwurf. Zum Glück (H.B.) kann man den Einfluss alternativer Ideen nicht wirklich messen. Aber wie hätten sich die Gewerkschaften, die Umweltbewegung und die aus ihr hervorgehenden Parteien ohne eine in der linken Szene verankerte alternative qualifizierte Wirtschaftswissenschaft entwickelt? Wäre die Arbeitszeitverkürzungspolitik, hinter der ja ein umfassendes theoretisches und empirisches Konzept stand, in den 80er Jahren ohne die theoretische und empirische Arbeit der Memogruppe und ihre oft mühsame Verbreitung so wirksam geworden?

Als sichtbare Erfolge werden das 1980er-Memo mit seinem Umwelt- und Regionalteil, das Sondermemorandum zu Vergesellschaftungsformen der Stahlindustrie, die Analyse zur 35 Std.-Woche (1984), das Sondermemorandum Mai 1990 zu den Risiken der politischen und ökonomischen Blitzvereinigung (Memo-Forum Nr. 16, Mai 1990), das Memo 1990 mit seinen umfangreichen umweltökonomischen Teilen, die Kritik des Maastricht-Vertrags (Memoranden 1992 [Kap. 7]; 1996 [Kap. 8], 1997 [Kap. 7]), an dem im Wesentlichen kritisiert wurde, dass er nur auf der Geldpolitik und einer äußerst verengten Haushaltsregulierung beruhte und der Industrie-, Regional- und Finanzausgleichspolitik sowie der Beschäftigungs- und Sozialpolitik nicht das notwendige Gewicht einräumte und sie neoliberal ausrichtete. Zur Analyse der Finanzmarkt- und New Economy-Krise 1999 und zur großen Krise ab 2008 mit dem Schwerpunkt der Finanzmarktkrise (Jörg Huffschmid) wurden umfassende und zumeist zutreffende Einschätzungen vorgelegt. In diesem Zusammenhang sind die von der „Süddeutschen Zeitung“ mit dem „Verein für Sozialpolitik“, dem mitgliederstärksten deutschen Ökonomenverband, organisierten Studien zur Wirkung der großen Finanzkrise auf das theoretische und wirtschaftspolitische Denken der deutschen Ökonomen interessant. Die Autoren glauben, eine allmähliche Erosion des neoklassischen und neoliberalen Monopols erkennen zu können (SZ v. 24. 06. 2015, S. HF3).

Als vom MEMO scharf kritisierten finanzkapitalistischen Durchbruch bezeichnet Rudolf Hickel die steuerliche Befreiung des Verkaufs von Unternehmensanteilen an Großkonzernen und Großbetrieben zum Jahresende 1999, die Bundeskanzler Schröder gegen den Widerstand des SPD-Vorsitzenden und Finanzministers Lafontaine durchgesetzt und die dann von Hans Eichel als neuem Finanzminister exekutiert wurde. Lafontaines Rücktritt sei daher unvermeidlich gewesen.

Im ersten Themenblock „Aktuelle Herausforderungen“ referierte Heinz Bontrup, Professor an der Hochschule Westfalen in Gelsenkirchen und ehemals Arbeitsdirektor in einem Stahlunternehmen, zum Thema „Die Wirtschaftskrise ist nicht beendet – zur Überwindung der Massenarbeitslosigkeit“. Man müsse nicht nur die Sekundärverteilung im Blick haben, sondern insbesondere die Primärverteilung zwischen Löhnen und Gewinnen, und diese könne man nur dann wirklich zugunsten der Löhne verändern, wenn die Paritätische Mitbestimmung auf die gesamte Wirtschaft übertragen werde. Nur so könne man die notwendige Machtverschiebung zugunsten der Arbeit durchsetzen und die weitere primäre Umverteilung von Unten nach Oben begrenzen. Diese primäre Umverteilung müsse durch die sekundäre (steuerliche und sozialstaatsfinanzierte) Umverteilung zugunsten der Niedrigeinkommen ergänzt werden. Dies sei ein unantastbares Memo-Prinzip. Der Verteilungskampf müsse zudem weiter ganz wesentlich über die Arbeitszeitschiene geführt werden. Bontrup zeigte zudem eine strategische Veränderung des heutigen Finanzkapitalismus auf, die Resultat einer dramatischen Konzentration und Zentralisation der Großunternehmen ist: Der Gewinn der Konzerne wird nicht mehr als Restgröße, als Differenz zwischen Erlösen und Kosten, sondern als „Plangröße“ behandelt, Löhne und Gehälter werden zu Restgrößen degradiert. DB-Chef Ackermanns 25-Prozent-Diktat für die Verzinsung des Eigenkapitals sei kein Zufall und habe die Verteilungsrelationen und damit auch die Anti-Krisen Stabilität weiter verschlechtert.

Mechthild Schrooten, Professorin an der Hochschule Bremen, Spezialistin für Geld- und Bankenpolitik, betonte einerseits, dass der Staat ein wesentlicher Mitspieler auf den Finanzmärkten sei, aber im Gegensatz zur eindimensionalen Profitorientierung derzeit über keine klare Zielfunktion für seine Aktivitäten verfüge, dass er aber in der großen Krise alles für die Rettung der Banken, auch der nutzlosen, getan und damit die Staatsverschuldung unnötig in die Höhe geschraubt habe. In einem zweiten Schritt habe er dann mit der in der Verfassung verankerten Schuldenbremse und dem EU-Fiskalpakt die Last „auf ewig“ auf den Sozialstaat und die Investitionen abgewälzt.

Stefan Körzell, Mitglied des geschäftsführenden Vorstands des DGB, begann mit einer beißenden Kritik an der Politik der „Schwarzen Null“, die die Mentalität des „jeder ist seines eigenen Glückes Schmied“ forciere und damit ein unsolidarisches Gesellschaftskonzept zur gesellschaftlichen Norm erhebe. Die Diskussion um die öffentliche Investitionskrise, die bereits weitgehend als existent akzeptiert werde, konzentriere sich nun auf die Finanzierungsfrage. Public-Private-Partnership, das Ringen um öffentlich-private Projekte (z.B. in der Fratscher-Kommission), die Interessen der großen Kapitalsammelstellen wie der Allianz, die Auflage von Infrastrukturfonds, denen der Staat eine Mindestrendite garantieren müsse, so die Forderung der potentiellen Finanzierer, waren Stichworte seines Beitrags. Öffentliche Investitionen müssten stattdessen im Wesentlichen aus Steuermitteln finanziert werden, und dazu seien der Abbau der Steuerprivilegien und eine gerechte Steuerpolitik erforderlich.

Mit großem Interesse wurde auch der Beitrag von Herbert Schui, einem der Gründer der Memorandum-Gruppe, Professor an der HWP in Hamburg und zuletzt MdB für Die Linke, erwartet. Sein Thema: „Woran ist das „Goldene Zeitalter“ des Kapitalismus der Nachkriegszeit gescheitert? Ist es erneut möglich?“ Ökonomisch abstrakt lautete die Antwort: S>I. Die volkswirtschaftlichen Ersparnisse hauptsächlich der Unternehmen wuchsen ab Beginn der 70er Jahre schneller als die Investitionen. Dies löste einen verstärkten gesamtwirtschaftlichen Profitratenverfall aus, der Gewinnanteil am Volkseinkommen sei deutlich gefallen. Lösungsansätze wären höhere Löhne, Verkürzung der Arbeitszeit, höhere kreditfinanzierte Staatsausgaben zur Fortsetzung der Infrastrukturerneuerung gewesen, oder aber eine deutliche Gewinn- und Einkommenssteuererhöhung zwecks Ausweitung der öffentlichen Investitionen und Sozialausgaben. Die Frage nach der Wiederholbarkeit des „goldenen Zeitalters“ wurde leider zu knapp behandelt. Schuis Antwort aber war dennoch wegweisend: Es müssten Unternehmen mit niedrigen Renditeansprüchen eine viel größere Rolle spielen: gemeinnützige und öffentliche Unternehmen, Genossenschaften usw.

Klaus Steinitz, Doyen der wesentlich in der DDR beruflich tätig gewesenen WissenschaftlerInnen der Memo-Gruppe, rekapitulierte nüchtern, dass die Anfang der 90er Jahre gemachten Vorschläge der Memorandum-Gruppe zwar nicht von der Bundesregierung übernommen wurden, aber für die oppositionellen Kräfte in den neuen Bundesländern und auch in Westdeutschland eine wichtige Orientierung boten. In der Sache sei die Ende der 1990er Jahre erreichte Disproportion zwischen West- und Ostdeutschland (eine pauschal um ein Drittel weniger leistungsfähige Regionalwirtschaft) so gut wie zementiert. Allmählich habe sich ein Perspektivenwechsel eingestellt: die Widersprüche zwischen West- und Ostdeutschland seien in den Hintergrund getreten, die gesamtdeutschen Positionen innerhalb Europas und der Weltwirtschaft dagegen in den Vordergrund. Die radikale Zerschlagung der Kombinate habe zur heutigen faktischen Nichtexistenz von Groß- und Größtunternehmen in Ostdeutschland geführt (eine klassisch undialektische Negation, H.B.), was zur Dominanz der Klein- und Kleinstunternehmen führte und damit auch den hohen Anteil der nicht tarifgebundenen Unternehmen erkläre. Der zweite Fundamentalfehler war, so Steinitz, die brutale Zerschlagung der öffentlichen und betrieblichen Forschungslandschaft, wo innerhalb weniger Jahre mehr als 50 Prozent der Beschäftigten entlassen wurden. Der Zusammenbruch der DDR-Industrie in Kombination mit den genannten Faktoren führte zu Massenabwanderung nach Westdeutschland und zementierte damit die radikalen Disproportionen zwischen Ost- und Westdeutschland, ohne die jeweiligen innerregionalen Widersprüche zu ignorieren.

Cornelia Heintze, Spezialistin für die die verschiedenen Entwicklungsvarianten der Dienstleistungsarbeit und des Dienstleistungssektors, insbesondere des Vergleichs zwischen den (staatsbasierten) nordischen und den (familienbasierten) kontinentaleuropäischen Ländern, referierte zum Thema „Vermarktung und Fiskalisierung als Prekarisierungshebel: Professionelle Carearbeit im deutsch-skandinavischen Vergleich“. In beeindruckender empirischer Dichte konnte sie am Beispiel des Pflegesektors und der Carearbeit zeigen, dass in Skandinavien die Pflegearbeit als öffentliche Aufgabe und mit Orientierung auf die High Road der Qualitätsentwicklung sowohl das Ausbildungssystem für Pflegeberufe radikal anspruchsvoller gestaltet, die Gehaltssysteme viel besser implementiert und nicht mehr dem industriellen Entlohnungssystem unterordnet. Selbst der seit vielen Jahren wachsende neoliberale Druck der Politik in den skandinavischen Länder könne an dieser strukturellen Überlegenheit nur wenig ändern, weil dieser Sektor eine viel höhere gesellschaftliche Anerkennung genieße und die Care-Beschäftigten hochgradig gewerkschaftlich organisiert seien.

Steffen Lehndorff aus dem IAQ (Institut für Arbeit und Qualifikation an der Universität Duisburg-Essen), referierte zum Thema „Spaltende Integration – Griechenland, Deutschland und die europäische Krise“. In seinem Referat am 20.06. also vor der alles entscheidenden Woche vom 22. 6. bis 30.6., bezeichnete er den derzeitigen Zustand der EU als die größte Zuspitzung und Krise des europäischen Integrationsprozesses seit Ende des Zweiten Weltkrieges. Die Hegemonie Deutschlands und weniger kleiner Mitgliedsländer (wie NL, Österreich, Belgien und Luxemburg) entmündige mit ihren Regeldiktaten, z.B. dem Fiskalpakt und der Schuldenbremse, die Südländer, aber zunehmend auch die Gründungsländer Italien und Frankreich. Im Vergleich zu den USA hätten sich die EU und der Europäische Währungsraum seit 2008 viel schlechter entwickelt, nicht zuletzt, weil die Führungsmächte, insbes. Deutschland, aus nationalen Gründen und fatalen theoretischen Grundlagen (z.B. das „schwäbische Hausfrauensyndrom“ sowie die Zählebigkeit des deutschen Monetarismus) die vermeintlich eigenen Interessen über die Entwicklung des EU-Raums insgesamt gestellt hätten.

Lehndorffs Vermutung, dass aus strategischen Gründen (Migrationspolitik, Sicherheitspolitik, Nato-Mitgliedschaft) letztlich an der Mitgliedschaft Griechenlands in der EU und EWU festgehalten und dafür auch größere Zugeständnisse an dieses kleine und wirtschaftlich schwache Land gemacht würden, wurde zwar wohl mehrheitlich geteilt, aber auch mit Skepsis aufgenommen.

Im letzten Referatsblock „Zukunft der alternativen Wirtschaftspolitik“ referierte zunächst Franziska Wietholt, ehemals Mitglied des Ver.di-Bundesvorstand, zum Thema „Lebensentwürfe im Wandel – Herausforderungen für die Politik“. Die derzeitige Beschäftigungs- und Arbeitszeitstruktur verlange eine intelligente und komplexe Forderungsstruktur der gewerkschaftlichen Arbeitszeitpolitik. Mit der generellen Orientierung auf Arbeitszeitverkürzung (30 Stunden-Woche) müssten aber für Teilzeitbeschäftigte, Alleinerziehende und derzeit prekär Verdienende die Aufstockung und Entfristung von Verträgen, Vertragsverlängerungen, Entpräkarisierungsinitiativen usw. durchgesetzt werden.

Norbert Reuter, Mitglied der Abt. Wirtschaftspolitik bei Verdi, sprach zum Thema „Die Arbeitszeitfrage im Kontext von Wachstum, Ökologie und Wohlstand“. Man könne die teilweise unnötige Konfrontation zwischen Forderungen nach Lohnerhöhung und Arbeitszeitverkürzung als Möglichkeiten der Nutzung der gesamtwirtschaftlichen Produktivitätserhöhung unter dem Paradigma Wohlstandserhöhung und Zeitwohlstand entschärfen. In jedem Fall sei eine Langzeitbetrachtung erforderlich. Auch Linkskeynesianer könnte die Arbeitszeitfrage und Umweltfrage unterschätzen. Bei Keynes (1930 und 1943) oder auch K.G. Zinn (ebenfalls einer der Gründer der Memo-Gruppe) sei dieses Thema von der langfristigen Sättigungstendenz des hochentwickelten Kapitalismus prominent bearbeitet. Die Menschen müssten zwischen Arbeitszeitverkürzung und Einkommenssteigerung, familiären Verfügungszeiten usw. entscheiden können. Die Debatte über den gesellschaftlichen Wohlstand im Dreieck Ökologie, Zeit- und Einkommenswohlstand müsse intensiviert werden.

Werner Raza aus Wien, Mitglied des Steering-Komitees der Euro-Memorandum-Gruppe, referierte abschließend zur „Zukunft der Europäischen Union: Stagnation und Polarisierung oder eine grundlegende Neuausrichtung?“ sowie zum Stand der Arbeit dieser mehrheitlich aus Ökonomen, aber auch Soziologen und Politologen bestehenden Gruppe. Im letzten Jahr fand in London deren 20. Jahrestagung statt, 2015 wird sie sich in Roskilde (bei Kopenhagen) treffen; alle Dokumente finden sich unter www.euromemo.eu. Die sehr intensive Forschungsorientierung dieses Netzwerkes, die aber aufgrund neuer Finanzierungsmodalitäten der Kommission für Forschungsanträge auf große Finanzprobleme stoße, sei ein Hauptproblem. Man versuche, die Kontakte zu den europäischen sozialen Bewegungen zu intensivieren, eine inhaltliche Verbreitung ihrer Analysen vornehmlich um ökologische Themen zu erreichen sowie neue Verbreitungs- und Vernetzungswege zu gehen.

Insgesamt waren nicht wenige TeilnehmerInnen der Tagung überrascht und erfreut, dass diese Wissenschaftlergruppe 40 Jahre lang in Zeiten größter gesellschaftlicher und politischer Umwälzungen ihren Diskurszusammenhang aufrechterhalten konnte. Allen war jedoch auch klar, dass die Gruppe sich nachhaltig verjüngen und viel mehr Wissenschaftlerinnen als Mitglieder gewinnen muss. Die hierfür größte Hürde ist die Immunität der wirtschaftswissenschaftlichen und gesellschaftswissenschaftlichen Fakultäten der deutschen Hochschulen gegenüber heterodoxen Positionen und die Berufung entsprechender ProfessorInnen.

Vor diesem Hintergrund war das zu Beginn dieser Tagung verlesene Grußwort von Verdi-Chef Frank Bsirske umso erfreulicher, in dem er feststellte, dass die AG Alternative Wirtschaftspolitik im gesellschafts- und wirtschaftswissenschaftlichen Diskurs der Bundesrepublik und der Gewerkschaften unverzichtbar sei. Eine große Anerkennung für die Arbeit der Gruppe.

Hermann Bömer

„Aktualität der Faschismustheorie“

Historische Forschung und aktuelle Entwicklungen der politischen Rechten. Symposium zu Ehren von Prof. Dr. Reinhard Kühnl (1936 - 2014), Marburg, 10. Juli 2015

Am 8. Mai 2015 jährte sich zum siebzigsten Mal die Befreiung vom deutschen Faschismus. Dieses Jubiläum nahm der Bund demokratischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler (BdWi) zum Anlass, um gemeinsam mit verschiedenen KooperationspartnerInnen ein Symposium zur Erinnerung an den 2014 verstorbenen BdWi-Mitbegründer Reinhard Kühnl durchzuführen.

Inhaltlich griff das Symposium einerseits faschismustheoretische Ansätze in der deutschen Geschichtswissenschaft auf und untersuchte die ambivalente Beziehung zwischen Faschismus und Populismus. Zum anderen wandte sich die Veranstaltung aktuellen Formationen am rechten Rand zu, u.a. der Kultur des Faschismus in Ungarn, der Identitären Bewegung und rassistischen Phänomenen in Deutschland wie der „Alternative für Deutschland“ und Pegida.

Am Symposium nahmen über 100 Menschen aller Altersgruppen teil, neben zahlreichen WeggefährtInnen Kühnls auch eine ganze Reihe junger Studierender. Die bisweilen äußerst kontroversen Diskussionsbeiträge wurden freilich in ganz überwiegendem Maß von älteren TeilnehmerInnen eingebracht.

Den inhaltlichen Auftakt bildete eine Laudatio des Historikers Kurt Pätzold, der an seine persönlichen Begegnungen und Diskussionen mit Reinhard Kühnl seit Anfang der 1970er Jahre erinnerte und dabei auch Meinungsverschiedenheiten, etwa über die Rolle der Volksmassen im Faschismus, herausstellte. Pätzolds Würdigung endete mit dem Hinweis darauf, dass noch Meriten zu erwerben seien mit der Publikation einer qualifizierten Kühnl-Biographie.

Den zentralen Eingangsvortrag hielt der Historiker Axel Schildt von der Uni Hamburg. Schildt, der einst bei Kühnl studierte, referierte über „faschismustheoretische Ansätze in der deutschen Geschichtswissenschaft“ und lieferte einen informativen Abriss über die Entwicklung der Faschismusforschung in beiden deutschen Staaten und zeichnete den Umgang mit Begrifflichkeiten ebenso nach wie die Herausbildung verschiedener Faschismustheorien. Er hob die Begrenzung der Faschismusdiskussion durch die Rahmenbedingungen des Kalten Krieges hervor. Dies habe dazu beigetragen, dass die Forschung in der DDR dogmatisch verengt worden sei, während in der BRD der Begriff „Faschismus“ als belastet interpretiert und damit nach Möglichkeit vermieden worden sei. Reinhard Kühnl schrieb er das Bemühen zu, die damit verbundenen Abgrenzungen zu überwinden und zu einer fruchtbaren Diskussion verschiedener Ansätze beizutragen, auch über die innerdeutsche Grenze hinweg. Als Kern der faschistischen Herrschaft habe Kühnl deren undemokratischen Charakter identifiziert. Damit habe er sich von der dogmatischen Interpretation des Faschismus in der DDR abgehoben, die im Wesentlichen bei Dimitroffs Definition von 1935 geblieben sei, nach der der Faschismus vor allem als Agent der reaktionärsten Kräfte des Kapitals (Finanzkapital) zu betrachten sei. Als herausragenden Vertreter dieser Position stellte Schildt Reinhard Opitz heraus. Mit der Gegenüberstellung von Kühnl und Opitz schuf Axel Schildt die Grundlage für eine kontroverse Diskussion. Seine provokativen Anmerkungen zu Opitz, dem er primär politische Loyalität zur DKP unterstellte, während seine wissenschaftliche Qualität fraglich sei, trugen zu einer emotional angeregten Debatte mit deutlichem Widerspruch bei.

Auch der zweite Vortrag des theorieorientierten Vormittags rief kontroverse Statements hervor. Karin Priester, emeritierte Hochschullehrerin aus Münster, die über „Faschismus und Populismus – Zur Morphologie einer ambivalenten Beziehung“ referierte, stellte ihre Forschungen am Beispiel des italienischen Faschismus vor. Sie hob den Prozesscharakter des Faschismus hervor („Faschismus wird ..., nicht Faschismus ist“) und stellte den Bündnischarakter des italienischen Faschismus heraus, in dem es auch eine „linke“ populistische Strömung gegeben habe, die aufgrund ihrer antikapitalistischen Orientierung nach 1943/45 in Teilen zur Kommunistischen Partei übergegangen sei. Dies interpretierte sie als gefährliche Nähe populistisch konnotierter antikapitalistischer Ansätze von links und rechts. Diese extremismustheoretisch inspirierten Äußerungen motivierten zahlreiche kritische Nachfragen in der Diskussion, ohne dass die Frage geklärt wurde, ob es tatsächlich keine inhaltlichen Unterschiede zwischen einem rechten und einem linken Antikapitalismus gab.

Die Vorträge des Nachmittags bildeten Beschreibungen aktueller Phänomene, beginnend mit Magdalena Marsovszky, Kulturwissenschaftlerin an der Hochschule Fulda, die über die „Kultur des Faschismus in Ungarn“ berichtete. In der ungarischen Forschung gebe es begriffliche Schwierigkeiten mit dem Faschismus, die offene Diskussionen, aber auch Erkenntnisgewinne zu spezifischen Fragen wie der massiven Ausbreitung eines völkischen Rassismus erschweren. Das darauf beruhende Magyarentum sei nicht nur zentrale Regierungsideologie, sondern werde von 80 Prozent der ungarischen Politik geteilt. Ihre Schilderung der ungarischen Situation war hochinformativ, analytisch blieben freilich einige Fragen offen. Warum etwa soll es kontraproduktiv sein, wenn antifaschistisches Engagement sich auch antikapitalistisch versteht?

Ausgesprochen informativ war der Beitrag von Julian Bruns, Kathrin Glösel und Natascha Strobl, SozialwissenschaftlerInnen aus Wien, die den TeilnehmerInnen ihre Analysen zur Bewegung der Identitären vorstellten. Diese neue Strömung (erst seit 2012 öffentlich wahrnehmbar) der Neuen Rechten ist international aktiv, hebt ihre Jugendlichkeit hervor und gewinnt mit Anleihen aus der Popkultur gewisse Attraktivität. In ihrer Rhetorik behaupten sie, weder rechts noch links zu sein und stellen die national definierte kulturelle Identität in den Mittelpunkt. Auffällig ist freilich ihre Beteiligung an rassistischen Mobilisierungen gegen Flüchtlinge auch in Deutschland.

Den Abschlussvortrag gestalteten Gudrun Hentges, Hochschullehrerin an der Hochschule Fulda und langjährige Mitarbeiterin von Reinhard Kühnl, über die Hintergründe von Pegida und Gerd Wiegel, früherer Mitarbeiter von Reinhard Kühnl und jetzt wissenschaftlicher Referent der Linksfraktion im Bundestag, über die Entwicklung der AfD. Hentges stellte als Markenzeichen der populistischen Pegida-Bewegung ihre schwache und in Teilen äußerst widersprüchliche programmatische Fundierung heraus. Als gemeinsamer Nenner erscheine vor allem der Kampf gegen Globalisierung und die Abwehr von Flüchtlingen. Interessant sei das Bemühen um die Integration altbekannter Neu-Rechter Personen wie Götz Kubitschek oder Geert Wilders.

Wenige Tage nach dem Sturz Bernd Luckes als Parteivorsitzender der AfD hatte Wiegels Beitrag besondere Aktualität. Die Erfolge der AfD erklärte er mit einer Repräsentationslücke, die insbesondere bestimmte Kapitalfraktionen der Mittelschicht und vom sozialen Abstieg bedrohte Teile dieser Mittelschicht empfänden und die von der AfD ausgefüllt werde. Hinzu kämen die neoliberale Wendung der Sozialdemokratie sowie die Funktion als parteipolitisches Sprachrohr der „rohen Bürgerlichkeit“ und das Andocken antiemanzipatorischer Bewegungen an die Partei.

In der abschließenden Diskussion stand die Frage nach Handlungsoptionen im Vordergrund. Mehrfach kam der Wunsch nach einer Fortsetzungsveranstaltung zum Ausdruck. Und immer wieder stellte sich die Frage: Was würde Reinhard Kühnl dazu sagen?

Steffen Käthner

1 „Literatur (in) der Krise“. Z 101 (März 2015). Vgl. auch Das Argument 309, 2014, „Kritisch-literarische Praxis“. Am 17./18. April fand im Literaturforum im Brecht-Haus, Berlin, eine Debatte „Richtige Literatur im Falschen? Schriftsteller - Kapitalismus - Kritik“ statt (Einleitung Ingar Solty). Berichte dazu u.a. in SZ, ND, Die Welt, Tagesspiegel, taz, junge Welt, jungle world, Freitag.

2 Eine weitere Diskussionsveranstaltung zu Z 101 fand in der Ladengalerie der „jungen Welt“, Berlin, 26. Mai 2015, statt mit Einleitungsbeiträgen von Ingar Solty und Kai Köhler.

3 Engels an Margaret Harkness in London (Entwurf), Anfang April 1888, in: MEW Bd. 37, S. 44.

1 Kai Ehlers (2015): Der umgestülpte Brzezinski – Betrachtungen zu einem historischen Irrtum, http://www.nachdenkseiten.de/?p=25474#foot_1, (08.07.2015).

2 Vgl. Werner Ruf, Djihadismus – Religiöser Fanatismus oder Business? Der Fluch des Samuel P. Huntington, in: Z 102 (Juni 2015), S. 83-90.

1 Vgl. AG Alternative Wirtschaftspolitik, Memorandum-Archiv 1975-2014, alle Kurz- und Langfassungen komplett auf DVD. Zu beziehen unter www.alternative-wirtschaftspolitik.de; Kurtzke, Wilfried/Quaißer, Gunter (Hg.), Alternative Wirtschaftspolitik - Tro(o)st in Theorie und Praxis. Axel Troost zum 60. Geburtstag, Sammelband mit 18 Beiträgen, Marburg, BdWi-Verlag.

Downloads