Buchbesprechungen

"Mut zum Genuss"

von David Salomon zu Manfred Wekwerth
September 2010

Manfred Wekwerth, Mut zum Genuss – Ein Brecht-Handbuch für Spieler, Zuschauer, Mitstreiter und Streiter, Kai Homilius Verlag, Berlin 2009, 232 S., 14,80 Euro

Über Bertolt Brecht und sein Theater gibt es zahllose sich oftmals widersprechende Vorurteile. So schreibt der Karlsruher Brechtforscher Jan Knopf: „Der angeblich so politische Brecht, der Künstler der kommunistischen Unterminierung, war zeitlebens mehr an seinen künstlerischen Werken und ihrer öffentlichen Durchsetzung interessiert als an Politik. Er war politisch zwar stets gut informiert; für politische Betätigung aber fehlte ihm einfach die Muße. Allein der gewaltige Umfang seines Werks ist dafür Beweis genug, die sonstigen zeitraubenden Arbeiten bei Bühne, Film und Radio gar nicht gerechnet.“1 Scheinbar eine schroffe Gegenposition formuliert hingegen Wendula Dahle: „Als dichterisch gestaltetes Wort ist für Brecht ein Text oder ein Argument etwas anderes als nur ein Pamphlet. Wie alle anderen Dichter geht auch er davon aus, daß durch die künstlerische Gestaltung etwas ‚Höheres’ entsteht, das über den reinen Wortgehalt hinaus Wirkung haben könnte; die Gedanken sollen damit quasi einen Garantieschein erhalten, auch wichtig und revolutionär zu sein.“2 Mit Brecht haben beide Beschreibung nicht viel zu tun. Viel eher verweisen sie auf den miserablen Zustand einer Literaturwissenschaft, die sehnlich darum bemüht ist, sich zu blamieren. Im Grunde variieren Knopf und Dahle – mit unterschiedlichen Wertungen – die zentrale Prämisse einer Formulierung, die sich prägnant in einem Flugblatt der Frankfurter CDU aus dem Jahr 1961 findet, die – nach dem Mauerbau – mit teilweise militanten Aktionen und einem Magistratsantrag gegen ein Gastspiel des Berliner Ensembles in der Mainmetropole protestierte: „Die CDU hat mit diesem Antrag keine Stellung genommen gegen den Dichter, gegen den Dramatiker und gegen den Moralisten Bert Brecht. Sie hat diesen Antrag lediglich aus einem politischen Grund gestellt.“3 Was alle diese Positionen miteinander gemeinsam haben, ist die These, Ästhetik und Politik seien Gegensätze, zumindest aber zwei völlig verschiedene Dinge, die in einem äußerlichen Verhältnis zueinander stehen und beliebig kombiniert werden können.

Manfred Wekwerth, von 1951 bis 1956 Mitarbeiter Brechts, setzt mit seinem neuen Buch „Mut zum Genuss“ einen deutlichen Gegenakzent. Der Band enthält sowohl Aufsätze, die bereits zuvor publiziert wurden (u.a. „Brecht-Theater – Eine Chance für unsere Zukunft?“, „Brechts Einfachheit“ und „Linke Schwierigkeiten mit der Kultur oder Vom praktischen Nutzen Brechtscher Slogans“), als auch bislang unveröffentlichte und neugeschriebene Texte. Das Herzstück des Bandes ist die überarbeitete Fassung von sieben Vorlesungen am Schwedischen Institut für Film und Theater in Stockholm aus dem Jahr 19784. Ähnlich wie Brechts „Kleines Organon für das Theater“ – wenn auch in gänzlich anderer Form – sind die Wekwerthschen Vorlesungen ein Grundlagentext, nicht nur über das vielbeschworene „Brecht-Theater“, sondern über Theater überhaupt: „Brecht-Theater ist, bevor es etwas anderes ist, Theater. Nicht nur ein bestimmtes Theater, das Stücke nur von Brecht spielt, sondern – wie es sich für ‚richtiges’ Theater gehört – ein Theater, das sein Publikum mit allem zu unterhalten trachtet, was die Weltliteratur zu bieten hat.“ (11) „Es ging Brecht also – allen Gerüchten zum Trotz – nicht um Verwissenschaftlichung oder Politisierung des Theaters, sondern um mehr Theater. Und zwar um die Rückgewinnung großen Theaters, unter Zuhilfenahme von Wissenschaft und Politik. Es ging ihm um die Zurückgewinnung von Genuss.“ (13) Für Wekwerth ist Brecht-Theater somit kein „Stil“, sondern ein Weg, das Theater selbst als eine vergnügliche Sache wiederzuentdecken, die in der Lage ist, auf adäquate Weise zu unterhalten.

Die Beantwortung der Frage, welche Weise der Unterhaltung adäquat ist, freilich macht es nötig, nach dem Verhältnis der heutigen Menschen zu ihrer Welt zu fragen, deren Imperative ihnen oftmals als übermächtige Gesetze im Heiligenschein der Alternativlosigkeit erscheinen mögen. Wie Wekwerth hervorhebt, kommt man nicht um Marx herum, wenn man nach einer adäquaten Unterhaltung fragt. In Anknüpfung an Marxens Analyse des Kapitalverwertungsprinzips als Fetischismus und Ernst Blochs Formulierung eines „Vorscheins des Menschseins“ arbeitet Wekwerth heraus, dass Kunst helfen kann, „der Entfremdung den Schein des Natur- und Gottgewollten zu nehmen und auch sie als Werk des Menschen aufzudecken und damit kritisierbar zu machen, also änderbar“ (19): „Denken heißt Überschreiten, heißt es bei Bloch. Und ‚genießen’ heißt eben, dies zu erkennen und, sich als Mensch betätigend, sich das ‚Menschsein’ anzueignen.“ (20) Hier wird greifbar warum es „Mut“ braucht, will man adäquat genießen können.

Die „Überschreitung“, die ein so verstandener, erfüllter Genuss zu leisten hat, führt auf einen zentralen Begriff Brechts: „‚Historisieren’ ist ein Schlüssel zum ‚Brecht-Theater’. Brecht ‚historisierte’ keineswegs nur historische Stücke, sondern auch Stücke der Gegenwart, da sich gegenwärtiges besonders leicht durch tägliche Gewöhnung der Geschichtlichkeit entzieht.“ (44) Gerade solche Gewöhnung gilt es daher zu durchbrechen, den Schein von Ewigem – oder wie Brecht es formuliert hat „Immerigem“ – zu zerstören. Vom Theater, also von einer auf Genuss gerichteten Ästhetik, her bedeutet dies, sich Widersprüchen zu öffnen und mit unerwarteten Wendungen zu überraschen. Nicht in der Zerstörung von Spannung und Gefühl liegt Wekwerth zufolge das Ziel des berühmten Brechtschen „Verfremdungseffekts“. Es geht im Gegenteil gerade darum, den Spaß am Widerspruch, das Vergnügen am Unerwarteten, die Lust an der Veränderung zurückzugewinnen. Wekwerth zitiert Brecht, wenn er schreibt, dass Dialektik auch Gefühlssache sei.

Verfremdung erscheint somit nicht „bloß“ als Theatertechnik, sondern als Haltung, die lustvolles Verstehen und Verändern möglich machen soll: „Für Brecht aber ist ‚Verfremdung’ nicht bloß Erkenntnishilfe, sondern Möglichkeit gesellschaftlichen Eingriffs. ‚Brecht-Theater’ ist eigentlich direkt angewandte materialistische Dialektik.“ (51) – Also eines Materialismus, der, wie Marx es in den Feuerbachthesen fordert, das Subjekt nicht außen vor lässt. Die kritische Haltung, die Brecht nicht müde wird, vom Schauspieler wie vom Zuschauer zu fordern, ist das Bewusstwerden dieser Involviertheit des „subjektiven Faktors“ (lat. facere = machen, factor = der Machende). „Verfremdung“ zielt daher nicht zuletzt darauf, Haltungen als Haltungen sichtbar zu machen. Diese konkreten und widersprüchlichen Haltungen, die ein Schauspieler, ein Stück, eine Szene, eine Inszenierung, selbst ein Bühnenbild und eine Musik einnehmen, zu der sie einladen und die die Lust an Erkenntnis und Veränderung wecken (oder eben nicht wecken) nennt Brecht, wie Wekwerth herausarbeitet, „Gestus“. Kaum ein Begriff Brechts wurde stärker missverstanden, über- und unterinterpretiert als dieser, der eben nicht mit „Geste“ verwechselt werden darf. Wekwerth zitiert den Komponisten Hanns Eisler, wenn er schreibt, dass Brecht den Gestus nicht erfunden, sondern entdeckt habe – wie „Einstein die berühmte Formel“. Die Entdeckung freilich macht es erst möglich, ihn so herauszustellen, dass Haltungen einsichtig, kritisierbar und veränderbar werden.

Zahlreichen Brechtklischees zuwider läuft auch die Bedeutung, die Wekwerth dem Brechtschen Begriff der „Naivität“ zuspricht. Hier geht es freilich nicht um eine plumpe Naivität aus Unwissenheit, sondern um die Fähigkeit, die Dinge neu zu betrachten und sich über sie und die Verhältnisse, in denen sie geworden sind, zu wundern. Ganz dem altgriechischen Begriff des Wunderns (taumazein) entsprechend, wird in dieser „gehobenen“ Naivität die Haltung ausgemacht, sich der Welt zu öffnen und gewohnheitsmäßig als alternativlos geglaubte Pfade zu verlassen. Das Wundern – wie die Verfremdung – dienen jedoch nicht allein der Negation: „Gewohnheiten werden nicht der Zerstörung willen zerstört, die Zerstörung von Gewohnheiten soll zugleich neue Gewohnheiten schaffen.“ (56) Nicht zufällig verweist Wekwerth in diesem Zusammenhang auf Brechts Stück „Die Tage der Commune“, in dem die neuen Gewohnheiten der Revolutionäre in ihrem Alltag gezeigt und sinnlich erfahrbar gemacht werden. Diese Sinnlichkeit ist nur künstlerisch erfahrbar zu machen, oder, wie es bei Brecht heißt: „Es ist Kunst nötig, damit das politisch Richtige zum menschlich Exemplarischen wird.“ (60) Aus diesen Bestimmungen lassen sich ganz konkrete Schlüsse für ein Theater ziehen, das im Sinne Brechts adäquate Unterhaltung bietet. Ein wichtiger Schlüssel ist das Verhältnis zum Publikum, das endlich in seiner Rolle als Produzent wahr- und ernstgenommen werden soll: „Der Zuschauer erwartet [...] Vorgänge. Er sucht auf der Bühne immer eine Geschichte. Alles, was der Schauspieler auf der Bühne tut, ja, auch wenn er nichts tut, wird vom Zuschauer als Vorgang gewertet. [...] Diese ‚generelle Verabredung’, die so alt ist wie das Theater selbst, hat Brecht im Auge, wenn er von Zuschaukunst spricht. Der Zuschauer soll verstehen, dass er im Theater nicht Zuschauer, sondern ‚Macher’ ist.“ (65)

Selbstverständlich ist Wekwerths Handbuch, das viele konkrete Theaterbeispiele enthält und „für Spieler, Zuschauer, Mitstreiter und Streiter“ geschrieben ist, ein politisches Buch – politischer vielleicht als so manches „nur“ politische Pamphlet. Theaterleuten mag es helfen zu verstehen, dass ein Theater, das sich um Politisches herumdrückt, schlechter – also weniger unterhaltsam – ist, als ein Theater, das aus dem Vollen schöpft (übrigens die vielleicht beste Übersetzung des Begriffs „Totalität“ in ästhetischen Theorien). Dem Publikum hilft Wekwerth, Ansprüche zu formulieren – an das Theater und an die Welt, die es bedeutet. Ohne solche Ansprüche ist eine Politik, die der „menschlich-sinnlichen Tätigkeit“ gerecht werden will, überhaupt nicht vorstellbar. Manfred Wekwerth zeigt, dass Genuss, Ästhetik und Politik „Quellen“ und „Bestandteile“ von Kultur sind und sein müssen, wenn dieser Begriff einen praktischen und universellen Sinn haben soll. Dass das Buch von der ersten bis zur letzten Zeile unterhaltsam und humorvoll ist, dass es Lust macht auf (gutes) Theater und auf die Welt, dass die Lektüre sinnlich und vergnüglich ist und gerade deshalb zum Eingreifen und Verändern ermuntert – all das macht es politisch. Oder – wie Manfred Wekwerth im Vorwort schreibt: „[D]er Mutlose hat nicht nur keine Zukunft, er hat auch keinen Spaß. Ohne Spaß aber, das zeigt die Geschichte, wurde auf dieser Welt noch nie ein ernstes Problem gelöst, jedenfalls nicht ernsthaft.“ (9)

David Salomon

1 Jan Knopf, Bertolt Brecht, Frankfurt/Main 2006, S.65.

2 Wendula Dahle(Hrsg.): Die Geschäfte mit dem armen B.B., Hamburg 2007, S. 171.

3 Ein Faksimile des Flugblattes befindet sich in: Heinz-Jung-Stiftung (Hrg.), Linke im Kalten Krieg. Autobiographische Berichte aus Frankfurt am Main 1945-1968, Köln 2007.

4 Die ursprüngliche Fassung erschien in Wolfgang Fritz Haug u.a. (Hrsg): Aktualisierung Brechts, Argument Sonderband Nr. 50, Berlin 1980.