Bevor ich über mein Erleben und meine Sichten auf den 8. Mai 1945 schreibe, gestehe ich ein persönliches Verhalten zur Geschichtsschreibung.
Anfang 1961 forderte mich Professor K.-H. Jahnke auf, über die Geschichte der FDJ in den Jahren 1956 bis 1958 eine Arbeit zu schreiben, die ich an der Universität Rostock verteidigen sollte. Bald zog ich meine Zusage zurück, weil zu erkennen war, dass die Betrachtungen über diese Zeit aus durchschaubaren Gründen weit auseinander liefen und später von Erich Honecker und Paul Verner gerade die Jugendpolitik Walter Ulbrichts missbraucht wurde, um ihn zu stürzen. Neuere Geschichte wird also als Mittel der Politik eingesetzt um Macht zu erreichen und Macht zu sichern. Ein Vorgang, der bezogen auf den 8. Mai 1945 viele Phasen durchlaufen hat und heute eine spezielle Ausprägung erfährt.
Wie viele Millionen Angehörige der Wehrmacht und des Volkssturms wurde ich im Mai 1945 noch Kriegsgefangener der Roten Armee. Das geschah, so meine Erinnerung, wohl am 9. Mai zwischen Stralsund und Greifswald in der Nähe von Miltzow. Als uns, eine Gruppe von Volkssturmleuten in Uniform, Rotarmisten gefangen nahmen und zum Gutshof führten, fielen dort Schüsse und uns wurde zugerufen: „Hitler kaputt!“ Ein Gefühl von Befreiung erfüllte uns nicht und wie das Leben weiter gehen sollte, war mehr als unklar.
Die Erzählungen über die Kriegsgefangenschaft sind so unterschiedlich wie die Menschen, die sie erlebt haben. Und die Bewertung des 8. Mai ist so gegensätzlich wie die Politik und die Überzeugungen der Träger von Politik bis heute sind. Wie konnte ich mich im Mai 1945 wohl als befreit fühlen, wenn nach vier Monaten Volkssturm Jahre sowjetischer Kriegsgefangenschaft beginnen sollten, die dann vier Jahre dauerten. Zunächst musste etwas losgelassen werden, ehe etwas Neues auch im Kopf beginnen konnte. Dieser Prozess begann bei mir im ganz persönlichen, menschlichen Bereich. Die schon länger Gedienten, z.B. Unteroffiziere, waren einige Jahre älter als ich mit meinen 17 Jahren und wollten weiter das Sagen haben. Aber diese Unterordnung war doch vorbei. Das Sagen hatten die Rotarmisten, die uns bewachten und zur Arbeit einsetzten. Ausgesprochene Schikane war damit nicht verbunden. Sie forderten, dass wir den Plan erfüllen. Bis Dezember 1945 befanden wir uns in Hinterpommern, um die Ernte zur Versorgung der Roten Armee mit einzubringen. Im Februar 46 ging es von Breslau aus, wohin wir im Dezember 45 gekommen waren, in das Moskauer Gebiet zur Waldarbeit und 1947 in einen Moskauer Vorort, um die Wohnungen der Moskauer zu beheizen. In den großen Lagern wie Breslau und Moskau gab es deutsche Antifaschisten, die sich bemühten, uns Kriegsgefangene über Antifa-Komitees zu erreichen. Das Thema ihrer Argumentationen war noch nicht „Befreiung“. Es ging vor allem um „Wiedergutmachung“ der Deutschen gegenüber der Sowjetunion. Wir sollten so für den Arbeitseinsatz motiviert werden. Der Erfolg hing auch davon ab, wie weit jeder Einzelne von uns bereit war, sich die ungeheuren Zerstörungen und das Leid bewusst zu machen, das dem Land und seinen Menschen angetan worden war. Von einem Potsdamer Abkommen hörten wir, aber der genaue Inhalt war noch nicht Gegenstand unseres Interesses.
Eine weit gespannte Brücke zum Gefühl von Befreiung hat für mich Professor Nikolai Jansen mit seinen Vorlesungen über marxistische Philosophie auf der Antifa-Schule gebaut, die ich in der letzten Phase meiner Gefangenschaft als Kursant und Assistent für jeweils sechs Monate besucht habe. Die Grundthesen seiner Vorlesungen waren natürlich in dieser Zeit an Aussagen im „Kurzen Lehrgang der KPdSU“ gebunden. Aber die Offenheit, mit der er seine Anliegen vortrug, erreichte uns. Wiedergutmachung – so war mein Empfinden – hast du mit deiner Arbeit geleistet; und nun wuchs auch das Gefühl und die Überzeugung: Der Sieg der Roten Armee und ihrer westlichen Verbündeten über den deutschen Faschismus war eine Befreiung der Völker Europas.
Im Januar 1949 kehrte ich nach Deutschland, in ein für mich fremdes Land, zurück. Eltern und Geschwister waren vom sowjetisch besetzten Oder-Haff nach Schwarzenbeck bei Hamburg übergesiedelt und ich hatte als Heimatanschrift die Adresse einer Tante in Körbiskrug bei Berlin. Mein erster Arbeitsplatz war im LEW in Hennigsdorf, wo alte Lokomotiven, die einst für den Krieg gerollt waren, repariert und neue Elektroloks gebaut wurden, die vor allem als Reparationsleistungen in die UdSSR gingen. Da gab es keine Parolen „Loks für den Frieden“ oder dergleichen, sondern viel Streit mit mir, der für einen größeren Teil in der Schlosserwerkstatt der „Russe“ war. Nicht über „Befreiung“ entbrannte der Streit, sondern über die Blockade West-Berlins durch die SU und die Luftbrücke, auch über die Währungsfrage sowie über die „verlorenen Ostgebiete“, die nun die Polen und die Russen haben. Die Haltung zum letztgenannten Thema steht für mich durchaus in einem Zusammenhang mit der Haltung zum 8. Mai 1945 als Tag der Befreiung.
Daher zunächst etwas über die Oder-Neiße-Grenze. Eine persönliche Beziehung erleichterte mein Eintreten für die Bezeichnung „Friedensgrenze“: Das Potsdamer Abkommen war eine völkerrechtliche Entscheidung zur Beendigung des 2. Weltkrieges in Europa und wer diese Grenze infrage stellt, kann sie nur mit militärischer Gewalt verändern. Da ich zu den Umsiedlern gehörte, aber die Grenze nicht infrage stellte, trat ich für den Frieden ein.
Was damals für mich mit Argumenten verbunden war, wurde 1989/90 zur Regierungsverantwortung. Die Bundesrepublik Deutschland wurde erst mit dem Zwei-plus-vier-Vertrag endgültig zur Anerkennung der Grenze an Oder und Neiße völkerrechtlich verpflichtet. Seit Adenauer und auch für Kohl blieb die Frage dieser Grenze offen. Das Niederknien von Willy Brandt in Warschau war ein persönliches Bekenntnis zur deutschen Schuld gegenüber dem polnischen Volk, aber kein Vertrag über die Grenze. Die DDR und Polen haben 1950 im Vertrag von Görlitz/Zgorzelec die Grenze völkerrechtlich gemäß Potsdamer Abkommen in einem Vertrag, den Otto Grotewohl und Josef Cyrankiewicz unterschrieben haben, anerkannt. Noch am 3. Februar 1990 spielte diese Frage auf einem Podium im Rahmen des Wirtschaftsforums in Davos eine Rolle. Teilnehmer waren W. Jaruzelski, damals Präsident Polens, Calfa, Ministerpräsident der CSR, Lukanov, Ministerpräsident Bulgariens, und ich als Ministerpräsident der DDR. Das Thema der Grenze und auch des Abzuges der Sowjetarmee aus den betreffenden Ländern kam zur Sprache. Ich erklärte die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze als verbindlich und für den Frieden in Europa als wesentliche Voraussetzung. Ganz persönlich betonte ich, dass dort schon einige polnische Generationen ihre Familien gegründet hätten und weder ich, der dort seine Kindheit und Jugend verbrachte, noch meine Kinder und Enkel Anspruch auf eine Veränderung der Grenze und Rückkehr haben könnten. Nach der öffentlichen Debatte meinte W. Jaruzelski zu mir, es sei gut gewesen, dass ich nicht nur als Politiker, sondern als einer, dessen persönliches Leben mit dem Problem verbunden sei, diese Haltung zum Ausdruck gebracht hätte. Es war nicht zuletzt den Bemühungen Jaruzelskis geschuldet, dass die alte Bundesrepublik mit dem Zwei-plus-vier-Vertrag zur Anerkennung der Grenze verpflichtet wurde.
Die Grenzfrage an Oder und Neiße hat mich in meinem politischen Leben ständig begleitet, ab 1975 in besonderem Maße. Es war seit 1950 Tradition, jedes Jahr die Bedeutung des Grenzvertrages mit einer feierlichen Veranstaltung zu würdigen. Ab 1975 trug ich Mitverantwortung für die Gestaltung des Ereignisses. Auf der polnischen Seite war es der Parteivorstand der PVAP in Wroclaw, später von Jelena Gora, und auf der Seite der DDR die Bezirksleitung der SED Dresden. Es begann mit einer Begegnung der Delegationen und kurzen Reden der Leiter. 1975 waren das die Ministerpräsidenten J. Cyrankiewicz und W. Stoph. Dann wurde der Gefallenen des 2. Weltkrieges gedacht und es wurden Kränze niedergelegt. Soldaten beider Armeen trugen die Kränze ihrer Regierungen. Als in den 1990er Jahren bei Besuchen von Vertretern der Bundesrepublik in Polen die Meldung verbreitet wurde, zum ersten Mal hätten deutsche Soldaten in Polen einen Kranz niedergelegt, stellte sich mir die Frage: Waren die Angehörigen der NVA keine deutschen Soldaten? Vielleicht ergibt sich die Antwort aus der Bezeichnung für Angehörige der NVA nach dem Beitritt der DDR zur BRD: „gedient in fremden Streitkräften“. (Im Grunde eine nachträgliche staatliche Anerkennung der DDR.)
Mit der Gründung der beiden deutschen Nachkriegsstaaten im Jahr 1949 war der Charakter unseres Staates zu bestimmen und ihr Bezug zur Geschichte festzuhalten. Die Deutsche Demokratische Republik verstand sich als Antifaschistisch-Demokratische Ordnung und die Bundesrepublik als Nachfolgerin des Deutschen Reiches. Im „Politischen Wörterbuch“ der DDR heißt es unter dem Stichwort „antifaschistisch-demokratische Ordnung“: „Die wichtigste Aufgabe nach der Zerschlagung des Hitlerstaates im Mai 1945 bestand darin, die Wurzeln des Faschismus und des Militarismus für immer zu beseitigen. Das entsprach auch dem Potsdamer Abkommen… Die entscheidende Voraussetzung schuf die Sowjetarmee durch die Befreiung des deutschen Volkes vom Faschismus. Der Sieg über den Faschismus veränderte das Kräfteverhältnis grundlegend.“[1]
Im „Wörterbuch zur Politik“ von Manfred G. Schmidt heißt es zur gleichen historischen Etappe unter dem Stichwort „Besatzungszeit“: „Im politischen Sprachgebrauch in Deutschland die Periode vom Tag der bedingungslosen Kapitulation der deutschen Wehrmacht am 8.5.1945 in Berlin bis zur Gründung der Bundesrepublik Deutschland und der DDR (1949), während der die Staatsgewalt nach innen und außen durch die Besatzungsmächte ausgeübt wurde.“[2]
Dieser politische Sprachgebrauch hat sich auch nach der Rede des Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker vor dem deutschen Bundestag im Jahr 1985 und nach dem Beitritt der DDR zur BRD am 3. Oktober 1990 nicht verändert. Das Wort von der Befreiung des deutschen Volkes vom Faschismus gehört auch im 70. Jahr des Sieges der alliierten Streitkräfte über den Faschismus nicht zum politischen Sprachgebrauch in Deutschland. Schmidt schreibt im „Wörterbuch zur Politik“ sehr ausführlich über den Bundespräsidenten und stellt schließlich fest: „Im Normalfall liegt die politische Bedeutung des Amtes des Bundespräsidenten jedoch hauptsächlich in stilgebenden und repräsentativen Funktionen des Amtsinhabers.“[3] Richard von Weizsäcker war über seine Amtszeit hinaus stilgebend für dieses Amt. Andere Bundespräsidenten sind bis heute daran zu messen. Meine erste Begegnung mit R. v. Weizsäcker fand bereits 1984 in Dresden statt. Er hatte sein Amt als Regierender Bürgermeister von West-Berlin beendet, stand vor der Wahl zum Bundespräsidenten und war mit seiner Frau mein Gast auf dem Weg einer Reise nach Prag. Als R. v. Weizsäcker 1985 von der Befreiung vom Faschismus sprach, war ihm gewiss bewusst, dass er für die Bundesrepublik etwas aussprach, was in der Deutschen Demokratischen Republik mit dem „Tag der Befreiung“ als Staatsfeiertag volle Anerkennung gefunden hatte. Es ging nicht einfach um den Stil, mit dem er das Amt prägte. Es ging um die historische und sehr persönliche Aussage. Er hatte am Ende des 2. Weltkrieges in der Deutschen Wehrmacht gedient und nach 1945 seinen Vater vor Gericht verteidigt, der während des Faschismus als Staatssekretär im Amt war. Er hatte Abstand und Einsicht gewonnen und daraus den Anspruch an sein Amt 40 Jahre nach der Befreiung vom Faschismus. Es wurde ihm zu Lebzeiten nicht in der Form gedankt, dass seine Formulierung in den politischen Sprachgebrauch oder gar als fester Bestandteil in den Schulunterricht einging. Nur für wenige Trauertage nach seinem Tod wurde in den Medien daran erinnert. Die Bundesregierung ist 30 Jahre nach seiner Rede weit davon entfernt, den 70. Jahrestag der Befreiung als ein wichtiges politisches Ereignis zu begehen. In der politischen Würdigung von Befreiung tritt der so genannte D-Day in den Vordergrund und verdrängt das Wissen darum, dass die Völker der Sowjetunion, die Rote Armee, den mit Abstand höchsten Blutzoll gezahlt haben.
Der gegenwärtige Mann im Amt des Bundespräsidenten, Joachim Gauck, pflegt einen anderen Stil und setzt gefährliche Zeichen. Die von Richard von Weizsäcker gesetzten Maßstäbe sind nicht die seinen. Als Erich Honecker 1987 als Staatsgast die Bundesrepublik besuchte, wurde er vom Bundespräsidenten mit allen Ehren empfangen und erfuhr vor allem große Achtung wegen seines Kampfes gegen den Faschismus. Dieser Stil gefiel zwar Bundeskanzler Kohl nicht, aber er musste die Eigenständigkeit der Amtsausübung respektieren. Im Jahr 2015, 70 Jahre nach der Befreiung, herrscht ein anderer präsidialer Stil. Und die Bundeskanzlerin, die diesen Präsidenten ursprünglich nicht wollte, rückt immer näher zu ihm. Im Dienstzimmer des Stadtjugendpfarrers von Rostock hingen zu DDR-Zeiten zwei Losungen: „Macht Schwerter zu Pflugscharen“ und „Stellt euch vor, es ist Krieg, und keiner geht hin“. Im Juli 2012 besuchte Gauck die Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg und es gab ganz andere Töne. „Manche vergessen allzu gern, dass eine funktionierende Demokratie auch Einsatz erfordert, Aufmerksamkeit, Mut und eben manchmal auch das Äußerste, was ein Mensch geben kann: das Leben, das eigene Leben. Diese Bereitschaft zur Hingabe ist selten geworden.“[4]
Bundeskanzlerin und Bundespräsident sind sich völlig einig im Anspruch an deutsche Verantwortung, die durch wirtschaftliche Kraft und militärische Stärke zu sichern sind. Aufmerksamkeit erfordern auch die Orte, an denen dieser Anspruch, 75 Jahre nach dem Beginn der faschistischen Aggression in Europa verkündet wird. Gauck äußert sich auf der Westernplatte in Danzig, wo der 2. Weltkrieg mit dem Angriff auf Polen begann, und Merkel positioniert sich in Riga, wo sie den Russen erklärt, dass die bundesdeutsche Flotte mit anderen Schiffen der NATO ein ständiges Flottenmanöver in der Ostsee fahren wird. Was sich 70 Jahre nach dem Ende des 2. Weltkrieges vollzieht, ist eine Zäsur deutscher Innen- und Außenpolitik.
Die wirtschaftliche Kraft der BRD wird durch Sozialabbau nach dem Muster Hartz IV, durch weiter wachsenden Reichtum für Wenige und größere Armut für viele Millionen in oder ohne Beschäftigung erhöht. Die militärische Stärke wird durch Protektion der Rüstungsindustrie, Modernisierung militärischer Ausbildung und Motivation für den Einsatz, allgemein begründet mit Verteidigung der Menschenrechte in der Welt, zum Ziel der Politik mit unabsehbaren Folgen.
Die deutsche LINKE ist herausgefordert mit dem Tag der Befreiung deutlicher und klarer denn je ihr Profil als Friedenspartei kenntlich zu machen.
[1] Politisches Wörterbuch, 3. Auflage, Berlin 1978, S. 43.
[2] Manfred G. Schmidt, Wörterbuch zur Politik, Stuttgart 1995, S. 112.
[3] Ebd., S. 155.
[4] Klaus Blessing/ManfredManteuffel, Joachim Gauck, Berlin 2013, S. 142.