Geldpolitik und Zentralbanken

Die Macht der Notenbanken

von Lucas Zeise
Juni 2015

Die Rolle, welche Notenbanken im heutigen Kapitalismus spielen, ist auch unter Linken umstritten. Marxisten neigen dazu, die Rolle des Geldes und der Finanzen im Gesamtgefüge des Kapitalismus als schlechthin zweitrangig einzuschätzen. Waren-, Wert- und Mehrwertproduktion und die Akkumulation treiben den Kapitalismus voran. Seine Dynamik und seine Widersprüche entstehen dort. Im Eifer dieser Erkenntnis werden die Bedeutung des Geldes und die des Kapitalmarktes gern unterbelichtet. Für Wirtschaftspolitik oder gar Geldpolitik ist da kein Platz. Der Zinszyklus folgt dem konjunkturellen Auf und Ab des Produktionszyklus. Wenn das so ist, spielen die Banken als Instanzen des Kapitalmarktes nur eine ausführende Rolle. Als Schöpfer des Kredits und des Geldes kommen sie in der Analyse nicht vor. Und wenn das so ist, exekutieren auch die Notenbanken nur das, was die Bewegungsgesetze des Kapitalismus ihnen vorschreiben. Wenn der Marktzins sinkt, senkt auch die Notenbank ihren ‘Leitzins’, der in Wirklichkeit kein Leitzins, sondern ein braver ‘Folgezins’ ist.

Zwar kann eine solche Darstellung des heutigen kapitalistischen Reproduktionsprozesses irreführend sein. Sie ist zugleich aber erfrischend und manchmal sogar aufklärerisch, wenn sie das alberne Gejammer deutscher Banker, der Assekuranz und der ihnen publizistischen Widerhall gebenden Journalisten aufspießt, die sich über das „von der EZB unnatürlich niedrig gehaltene“ Zinsniveau beklagen. In der Tat sind diese Klagen albern. Und in der Tat sind die niedrigen Zinsen die Folge des Überangebots an Anlage suchendem Geldkapital (fiktivem Kapital) und der kümmerlich niedrigen Nachfrage nach Krediten. Grundsätzlich ist der Zinszyklus Widerspiegelung des industriellen Konjunkturzyklus. Dennoch kann der Zinszyklus dem Auf und Ab der Realwirtschaft vorauslaufen, Bewegungen des Finanzkapitals können den konjunkturellen Trend umkehren und geradezu notorisch zum Auslöser von Krisen werden. Die Notenbank hat dabei oft eine steuernde Funktion. Die von Bankern und Notenbankern getroffenen politischen Entscheidungen sind wie die gewählter Regierungen von Bedeutung, sie entstehen aber wie alle Entscheidungen in einer konkreten wirtschaftlichen Situation.

Die aktuelle, acht Jahre nach Ausbruch der großen Finanzkrise im Sommer 2007 praktizierte Geldpolitik der Notenbanken mit Nullzinsen, praktisch bedingungsloser Liquidität für die Banken und Geldproduktion am Bankensystem vorbei ist Ausdruck einer anhaltenden Überproduktionskrise. Dennoch ist eine solche Notenbankpolitik auch in dieser Situation nicht zwangsläufig. Sie könnte noch schlechter sein, restriktiver etwa, wie von einem Teil der herrschenden Klasse in Deutschland offenbar gewünscht. Wenn eine Notenbank in dieser Situation ihre Leitzinsen erhöhen würde, wären lediglich mehr Banken- und Unternehmenspleiten das Resultat. Sie könnte theoretisch aber auch besser sein. Die EZB könnte beispielsweise den scherzhaft gemeinten Vorschlag des erzreaktionären Vaters des Monetarismus Milton Friedman aufgreifen, ein paar Hubschrauber mieten und frisch gedruckte Geldscheine über das Land verteilen, oder, wenn diese Methode nicht ordentlich genug erscheint, allen 337 Millionen gemeldeten Bürgern des Eurogebiets 1.000 Euro überweisen.

In der herrschenden neoliberalen Doktrin spielen die Notenbanken eine noch größere Rolle. Im Modell der gut funktionierenden Güter-, Arbeits- und Kapitalmärkte erscheinen sie als der entscheidende staatliche Akteur. Während Fiskalpolitik, Regional- und Strukturpolitik nur in Ausnahmefällen stattfinden und in Gestalt der berüchtigten Arbeitsmarktreformen nur Rahmenbedingungen setzen sollen, wird der Notenbank die zentrale Rolle in der Konjunkturpolitik zugewiesen. Die Notenbank, weil sie eine Staatsgewalt sui generis ist und nicht einmal der Form nach dem demokratischen Willensbildungsprozess unterliegt, ist die wichtigste mit staatlicher Macht ausgestattete Institution, die die Durchführung ‘sachlich gebotener Entscheidungen’ gewährleistet. Das ist die Doktrin. Diese entspricht weitgehend der Realität des weltweiten Finanzsystems. Nur mit der – ziemlich entscheidenden – Einschränkung, dass die Märkte nicht ganz so funktionieren, wie gedacht.

Die Notenbanken stehen tatsächlich im Zentrum des Finanzsystems, man kann sagen als Verbindungsglied zwischen Privatkapital und Staatsmacht. Dabei sind sie zwar Teil des Staatsapparats, jedoch dank ihrer mittlerweile fast überall gesetzlich oder sogar konstitutionell garantierten ‘Unabhängigkeit’ kein Instrument des demokratisch legitimierten Staates zur Kontrolle von Finanzmärkten. Im Gegenteil, die Notenbanken sind zum Hebel geworden, durch den die Finanzinstitutionen die Kontrolle über Regierungen und Parlamente ausüben. Solche (aus der Logik größtmöglicher Profitabilität) sachlich und eben nicht politisch getroffene Entscheidungen, die zu einer gut funktionierenden Ökonomie und einem gut funktionierenden Finanzsystem gehören, sind das, was man in neoliberalen Think-Tanks als ‘Good Governance’ bezeichnet. Good Governance ist dabei definiert als die möglichst reibungslos funktionierende Herrschaft der oberen Klassen über die niedrigeren. Es bedeutet gut funktionierende Herrschaft gegen die Mehrheit der Bevölkerung, die deshalb allen Grund hat, das System als ‘Bad Governance’ zu bezeichnen. Die Notenbanken sind in diesem Sinn der Kernbestandteil neoliberaler ‘Bad Governance’. Im Folgenden soll versucht werden zu zeigen, dass die Notenbanken in der großen Finanz- und Wirtschaftskrise seit 2007 ihre Herrschaftsposition noch ausgebaut haben.

Die Asymmetrie der Geldpolitik

Die Notenbanken verfügen über das Monopol der Geldschöpfung, treten es allerdings an die Geschäftsbanken ab. Dies geschieht dadurch, dass sie deren jederzeitige Liquidität garantieren. Nur so sind die Geschäftsbanken in der Lage, ein Vielfaches dessen an Kredit zu gewähren, was sie in Form von Kundeneinlagen von Unternehmen und Privatleuten erhalten. Allerdings haben die Notenbanken den Anspruch, die Geldschöpfung (Kreditschöpfung) der Menge nach makroökonomisch zu kontrollieren. Der Menge nach soll hier heißen, dass die Notenbanken in der Regel nicht die Qualität der Kredite kontrollieren. Vielmehr wird unterstellt, dass die einzelne Geschäftsbank im Rahmen des Wettbewerbs dies besser tun kann als die Notenbank. Jedoch auch auf eine direkte makroökonomische Steuerung der Geldmenge verzichten die Notenbanken. Dies gilt auch für diejenigen Notenbanken, die wie die Deutsche Bundesbank sich der von ihr so genannten ‘Geldmengensteuerung’ verschrieben hatten. In der Regel und grundsätzlich erfüllen die Notenbanken den Refinanzierungsbedarf der Geschäftsbanken, also den Bedarf an gerade fälliger Liquidität. Eine Ausweitung oder Verminderung der Kreditvergabe wird in der Regel durch die Veränderung der Leitzinsen angestrebt (und je nach konjunkturellem Umfeld auch erreicht). Die ebenfalls zur Beeinflussung der Kreditvergabe zur Verfügung stehenden Mittel wie eine Veränderung der Mindestreserve, die den Banken eine Mininumquote der Geldhaltung vorschreibt, wird dagegen kaum genutzt.

Ein paar Worte darüber, wie die Steuerung der Kreditgewährung und damit der Konjunktur funktioniert. Erhöht die Notenbank die Leitzinsen, wird es für die Banken teurer, sich Geld zu beschaffen. Die Zinsen steigen zunächst am Geldmarkt, danach in der gesamten Wirtschaft. Bei niedrigen Zinsen lohnen sich Investitionen rechnerisch schneller als bei hohen. Die Kreditnachfrage steigt, wenn die Zinsen niedrig sind, sie steigt weniger schnell oder schrumpft bei hohen Zinsen. Die Zinsveränderungen der Notenbank sind also eine indirekte Methode, die Menge des Kredits, oder, was in diesem Fall dasselbe ist, die Menge des im Umlauf befindlichen Geldes zu steuern. Wenn Notenbanken die Zinsen hochsetzen, um die Kreditvergabe und den Geldumlauf zu bremsen, bremsen sie natürlich auch das Wirtschaftswachstum. Bei höheren Zinsen rechnen sich weniger Investitionsprojekte. Die Investitionen der Unternehmen gehen zurück und damit auch die Nachfrage nach Investitionsgütern. Es werden weniger Arbeitskräfte eingestellt oder mehr entlassen. Die höheren Zinsen führen in der Regel einen Abschwung, gelegentlich auch eine Rezession herbei. In der westdeutschen Wirtschaft nach dem 2. Weltkrieg war es die Regel, dass die Deutsche Bundesbank mit heraufgesetzten Leitzinsen den konjunkturellen Abschwung verstärkt hat.

Zentralbanker wollen als unparteiische Steuerleute zwischen Rezession und Inflation erscheinen. Im Regelfall gelingt ihnen das auch. Ihre Steuerungsfunktion wird gesellschaftlich hoch geschätzt. Alan Greenspan wurde als Chef der Notenbank Fed an der Wall Street und weltweit in der an der Finanzspekulation interessierten Öffentlichkeit geradezu verehrt – zumindest bis zum Crash am Aktienmarkt im Jahr 2000 (Dotcom-Blase). In Deutschland galt die Bundesbank als die staatliche Institution, die höchstes Ansehen genoss. Das gilt sogar noch heute, obwohl sie nur noch als Teil des Eurosystems (das ist der von den Zentralbankern benutzte Ausdruck für die Gesamtheit der Notenbanken im Euro-Währungsgebiet) handeln kann. In Deutschland hat es die Bundesbank mithilfe der interessierten Presse verstanden, das im Bundesbankgesetz fehlende Weisungsrecht der Regierung als ein Prinzip unantastbarer Unabhängigkeit der ganzen Institution erscheinen zu lassen. Diesem Verständnis folgend wurde die Europäische Zentralbank durch den Staatsvertrag von Maastricht für ebenso unantastbar erklärt.

Die Bundesbank hat die ihr schon früh gewährten Vorrechte rigoros genutzt. Tatsächlich war die im Vergleich zu anderen Ländern noch rigorosere Politik der Bundesbank mit dafür verantwortlich, dass über mehrere Jahrzehnte hinweg beides, der Anstieg der Löhne und die Inflationsrate, in der BRD meist geringer waren als im Ausland. Das hat, neben der Größe der deutschen Wirtschaft, mit zur starken Stellung der D-Mark in Europa und zur deutschen Exportstärke beigetragen und dazu, dass die rigorose Bundesbankpolitik und ihre rechtlich starke Stellung im Staatsgefüge zum Vorbild wurden. Auch international haben die Notenbanker erstaunlich viel erreicht. Die Inflationsraten sind in allen Industrieländern seit einem Höhepunkt Ende der 70er/Anfang der 80er Jahre des vorigen Jahrhunderts in mehreren Wellen deutlich zurückgegangen.

Die Methode, die sie dabei angewendet haben, ist im Prinzip einfach. Jedes Mal, wenn die Löhne nach Einschätzung der Zentralbanker zu stark zu steigen drohen, wird die Konjunktur mittels höherer Zinsen gedämpft. Die resultierende höhere Arbeitslosigkeit schwächt die Stellung der Arbeitnehmer und ihrer Gewerkschaften, sodass sie keine höheren Löhne mehr durchsetzen können. Die bei ökonomischen Themen sich klarer ausdrückenden Amerikaner haben, um es auf den Punkt zu bringen, das Konzept der „natürlichen Arbeitslosenquote“ erdacht. Sie stellt eine Untergrenze der Arbeitslosigkeit dar, deren Unterschreiten dem Konzept zufolge zu höherer Inflation führen muss. Es machte den Erfindern dieses Konzepts nichts aus, dass es durchaus Phasen in der Wirtschaftsgeschichte gegeben hat (z. B. Westdeutschland zu Beginn der 60er Jahre), wo Arbeitslosigkeit von fast Null und Inflation von fast Null koexistierten. Auch der Zynismus des Konzepts stört sie nicht. Der Erfolg gab ihnen Recht. Die Gewerkschaften wurden mit jedem Konjunkturzyklus schwächer. Der Anteil der Löhne am Sozialprodukt sank.

Von der Entschlossenheit der Notenbanken, steigende Preise zu bekämpfen, war allerdings nichts zu spüren, als gegen Ende der 90er Jahre die Preise von Vermögenswerten, also von Aktien, sowie von anderen finanziellen Forderungen und Immobilien außergewöhnlich kräftig zu steigen begannen. Diese Art Inflation erschien den Notenbankern nicht bekämpfenswert. Im Gegenteil, Anleger, Fondsverwalter, Geschäftsbanker und Presse jubeln schließlich, wenn die Aktienkurse steigen. Ob und wie die Herausbildung von Spekulationsblasen im Finanzsektor festgestellt und dann bekämpft werden kann, ist unter den Notenbankern spätestens seit dem Platzen der Aktienmarktblase 2000 bis 2003 ein Thema, dem sie sich stellen müssen. Die Vertreter der US-Notenbank Fed haben diese Diskussion angesichts schärferer Kritik von Seiten der politischen Institutionen einigermaßen offensiv geführt. In der vom Geist schlichter Orthodoxie umwehten und öffentlicher Kritik kaum ausgesetzten Europäischen Zentralbank wurde zunächst so getan, als sei das Thema spezifisch amerikanisch.

Im Sommer 2002 formulierte der damals amtierende Chairman der Fed, Alan Greenspan, die Position der Institution in Kurzform wie folgt: Spekulationsblasen seien unvermeidbar. Sie als solche zu erkennen, sei nicht immer einfach. Sie mit den Mitteln der Notenbank, also mit deutlichen Zinsanhebungen zu bekämpfen, sei hochriskant. Die Folge sei möglicherweise genau die Rezession, die man als Folge des Platzens der Spekulationsblase ohnehin zu befürchten habe. Greenspan empfahl daher genau die Handlungsweise, der er und seine Kollegen gefolgt waren: Es gelte, nicht die Spekulationsexzesse zu bekämpfen, sondern die negativen Folgen für die Realwirtschaft, wenn die Spekulationsblase geplatzt sei.

Die Inflation bei den Vermögenspreisen nicht als Gefährdung der Stabilität des Finanzsystems zu begreifen und entsprechend zu handeln, das ist die systematisch unsymmetrische Grundlage der Notenbankpolitik. Besteht die Gefahr eines Booms bei den Arbeitseinkommen, wird rigoros durchgegriffen. Gibt es den Boom aber bei den Kapitaleinkommen und höheren Einkommensklassen, dann wird das toleriert. Die Geldpolitik der Notenbanken erscheint als klassenmäßig neutral, greift jedoch systematisch in die Verteilung des Reichtums zugunsten der oberen und zu Ungunsten der unteren Klassen ein.

Man kann zusammenfassend sagen, dass die neoliberale Wirtschaftspolitik ganz wesentlich von der Politik der Notenbanken getragen wurde. Das schließt ihre Erfolge mit ein. Als ‘Erfolg’ ist dabei zu werten, dass die kapitalistischen Kernländer trotz forcierten Umverteilung von Arm nach Reich, trotz verschärfter Ausbeutung in der Periode zwischen 1980 bis 2007 ein akzeptables Wirtschaftswachstum erzielt haben. Einen wesentlichen Beitrag dazu haben die Notenbanken geleistet, indem sie die Kreditausweitung (=Verschuldung) des Kapitals nicht nur nicht gebremst und kontrolliert, sondern aktiv gefördert haben. Dasselbe gilt für die Förderung der Spekulation, die zu einer Erhöhung der Vermögenspreise geführt hat. Beides hatte einen in Geldeinheiten gemessenen Reichtumszuwachs (der vermögenden Klassen) zur Folge, was wenigstens vorübergehend die globale Nachfrage belebt und somit die von der Überakkumulation ausgehenden Probleme überdeckt hat.

Die Finanzkrisen (1990 Japan, 1994 Mexiko, 1997/98 Ostasien, Russland und der LTCM-Hedgefonds, 2000/2003 Aktienmarkt und schließlich 2007 ff. die große internationale Kreditkrise) waren angesichts dieser Politik unvermeidbar. Vermögenspreisinflation und Kreditexpansion sind von der Natur der Sache her Prozesse, die irgendwann ihr Ende finden. Weder diese Spekulationsblasen, noch ihr Platzen, noch auch die wichtige Rolle, die Zentralbanken bei der Ermöglichung oder Förderung dieser Blasenbildung spielten, sind im Kapitalismus etwas Neues. Sie waren vor dem 1. Weltkrieg eine immer wiederkehrende Erscheinung; der sensationelle Boom am US-Aktienmarkt vor 1929 gehörte ebenfalls dazu.

Forcierte Geldschöpfung und „Quantitative Lockerung“

Seit Ausbruch der Finanzmarkt- und Kreditkrise 2007 funktioniert die oben wohlwollend beschriebene Steuerung der Realwirtschaft über die Geldpolitik und den Finanzmarkt noch weniger als zuvor. 2007 und 2008 war das internationale Finanzsystem in unmittelbarer Gefahr des Zusammenbruchs. Um die Zahlungssysteme, den Kreditgewährungsprozess, also die Banken am Leben zu halten, gewährten die Notenbanken den Geschäftsbanken praktisch unbegrenzt Kredit. Selbst Banken, die über keine anerkannten Sicherheiten (fast immer Staatsanleihen) verfügten, erhielten über Sonderregelungen doch noch Zugang zum Notenbankkredit. Diese wurden ihrer Rolle als ‘Kreditgeber letzter Instanz’ insofern gerecht, als sie den unbesicherten Geldmarkt zwischen den Banken (Interbankenmarkt) komplett unter ihre Fittiche nahmen. Die Banken deckten ihren Liquiditätsbedarf nicht mehr vorwiegend am Markt, also bei anderen Banken, sondern direkt bei der Notenbank. Außerdem gingen die Notenbanken dazu über, den Banken längerfristigen Kredit zu gewähren. Auch das war eine Reaktion auf den eingetrockneten Kreditmarkt, der laufend weitere Institute gefährdete.

Sehr schnell, beginnend schon 2007, senkte die US-Notenbank Fed ihre Leitzinsen. Die Europäische Zentralbank EZB folgte zögernd. Sie erhöhte sogar in völliger Verkennung des schon in Gang befindlichen tiefen Absturzes der Konjunktur im Frühsommer 2008 ihren Leitzins etwas, bevor sie sich nach dem Zusammenbruch der New Yorker Investmentbank Lehman Brothers dem Kurs der Fed auf Zinssenkung anschloss. Im Dezember 2008 begann die Fed damit, systematisch öffentliche Anleihen aufzukaufen. Im Zuge dieses Programms der ‘quantitativen Lockerung’ hat sie US-Staatsanleihen im Wert von 4,5 Billionen Dollar aufgekauft und damit die VR China als größten Gläubiger des US-Finanzministeriums abgelöst.

Erst Anfang 2015 hat auch die EZB mit dem systematischen Aufkauf von Staatsanleihen begonnen. Sporadisch hatte sie schon über einzelne nationale Notenbanken Staatsanleihen aufgekauft. Im Juli 2012 hatte EZB-Präsident Draghi die akute Finanzkrise der Eurostaaten dadurch entschärft, dass er den Kauf von Staatsanleihen in unbegrenztem Umfang in Aussicht stellte (‚whatever-it-takes Rede’). Dennoch dauerte es weitere zweieinhalb Jahre, bis der systematische Aufkauf von Staatsanleihen im Stil der US-Notenbank realisiert wurde. Nach dem angekündigten Programm sollen jeden Monat für 60 Mrd. Euro Staatsanleihen der Euro-Mitgliedsstaaten erworben werden. Das Programm ist zunächst auf 18 Monate ausgelegt, sodass bis dahin die Bilanz des Eurosystems um gut eine Billion Euro ausgeweitet sein wird.

Die EZB begründet diese Politik, ganz wie vor ihr die US-Notenbank und die Bank von Japan, mit der Gefahr der Deflation, also der Möglichkeit eines auf breiter Front sinkenden Preisniveaus. Tatsächlich ist in einer von Monopolen dominierten Wirtschaft ein stabiles oder gar sinkendes Preisniveau ein akutes Krisenzeichen. Besonders problematisch an der Deflation ist es, dass der Wert des Geldes und damit der Wert der aufgenommenen Schulden im Laufe der Zeit nicht abnimmt, wie im Fall der Inflation, sondern noch steigt. Kapitalisten und Bürger zögern daher noch stärker, neue Kredite aufzunehmen, und bemühen sich, bestehende Schulden zurückzuzahlen.

Der systematische Aufkauf von Staatsanleihen durch die Notenbank wird von den Zentralbankern zu Recht als ‘Quantitative Lockerung’ bezeichnet. Sie setzt die übliche geldpolitische Lockerung durch Senkung der Leitzinsen, was bei Leitzinsen von praktisch Null nicht mehr möglich ist, mit anderen, ‘quantitativen’ Mitteln fort. Anstatt darauf zu warten, dass die Geschäftsbanken das niedrige Einstandsniveau für Kredite bei der EZB nutzen und Geld schöpfen, indem sie ihrerseits Kredit gewähren, besorgt nun die EZB die Geldschöpfung selbst. Wenn sie z.B. einem Investmentfonds Staatsanleihen abkauft, erhält der Fonds neu geschaffenes Geld. Das schon überreichlich vorhandene fiktive Kapital wird noch reichlicher, die Preise für Vermögenswerte steigen. Es entsteht neuer (fiktiver) Reichtum, der sich auf die reicheren Schichten der Gesellschaft konzentriert. In Ländern wie Großbritannien und den USA, wo ziemlich breite Schichten der Gesellschaft über Wohneigentum verfügen, hat die Steigerung des (fiktiven) Reichtums positive Wirkungen auf die Gesamtnachfrage. Zusätzlich erhöht der Kauf von Staatsanleihen den finanziellen Druck auf die Staaten, ihre Budget zu beschränken. Beides gibt der Konjunktur kleine Impulse, was die Krise etwas mildert. Ob die quantitative Lockerung im Euroraum ähnlich segensreiche Wirkung entfaltet, ist offen, aber durchaus wahrscheinlich. Die Entlastungswirkung für die Finanzierung der Staatshaushalte ist (durch massive Senkung des Zinsen) bereits eingetreten.

Während in den USA, Japan und Großbritannien die quantitative Lockerung von der Kapitalistenklasse (und damit deren öffentlicher Meinung) akzeptiert wird, ist diese Politik vor allem in Deutschland auf massive Kritik gestoßen – interessanterweise vor allem von der rechten, marktradikalen Orthodoxie und – noch bemerkenswerter – aus den Kreisen der Zentralbanker selber, die Sitz und Stimme im obersten Entscheidungsgremium der EZB haben. Man interpretiert diese Kritik an der Politik massiver Anleihekäufe wohl richtig als Ausdruck der Furcht vor dem Verlust der spezifischen Vorteile, die deutsche Unternehmen gegenüber anderen Kapitalisten des Eurogebietes besitzen. Erstens besteht nicht nur die Gefahr, sondern der bereits eingetretene Effekt, dass die Zinsdifferenzen entlang nationaler Grenzen in Europa eingeebnet werden. Zweitens wird das Tabu der Staatsfinanzierung durch die Notenbank umgangen. Es kommt hinzu, dass die deutsche Kapitalistenklasse als größter Kapitalexporteur und damit größter Gläubiger in Europa eher hohe Zinsen bevorzugt. Die von Allianz & Co. betriebene Dauerkampagne gegen die niedrigen Zinsen erklärt sich so.

Zwar haben die Notenbanken seit 2007 sehr hohe Beträge ins Finanzsystem gepumpt, doch überließen sie die Rettung einzelner fallierender Banken den Regierungen. Die Unterscheidung zwischen fehlender Liquidität und Insolvenz spielt dabei die Hauptrolle. Die Unterscheidung ist in Krisenzeiten ausgesprochen unsauber. Eine Bank, die keinen Zugang zu Krediten mehr hat, ist zahlungsunfähig, also illiquide. Wenn der Geldmarkt nicht mehr funktioniert, sind alle Banken in diesem Zustand. Insolvent dagegen ist eine Bank, wenn der Verfall ihres Vermögens (das bei Banken überwiegend aus Krediten und Wertpapieren besteht) so weit fortgeschritten ist, dass ihr Eigenkapital verloren ist. Die alte Notenbankerregel lautet im Fall einer Bankenkrise, den lediglich illiquiden Banken unbegrenzt Kredit, also sofortige Liquidität, zur Verfügung zu stellen. Insolvente Institute dagegen müssen entweder von der Konkurrenz oder, wie im Fall einer allgemeinen Finanzkrise wie 2007/08, vom Staat übernommen werden. Staat heißt in diesem Fall nicht die Notenbank, sondern der Staatshaushalt. Im Großen und Ganzen lief die Rettung des Finanzsystems im Herbst 2008 nach folgendem Muster ab: Die kapitalistischen Staaten legten riesige Rettungsprogramme für die Banken auf. In Deutschland wurde der Rettungsfonds ‘Soffin’ mit 480 Mrd. Euro dotiert. Das US-Programm ‘Tarp’ umfasste 700 Mrd. Dollar. Zusammen machten die von den Staatshaushalten aufgebrachten Rettungsprogramme mehrere Billionen Euro aus.

Man wird sich erinnern, dass diese Rettungsaktionen für einzelne Banken und das Finanzsystem insgesamt in dieser Größenordnung als skandalös empfunden wurden. Noch heute garniert Kanzlerin Merkel neue Bankengesetze mit der Bemerkung, dass sich eine solche Aktion nicht wiederholen dürfe. Die Arbeitsteilung zwischen Notenbanken und Staatshaushalten, wobei letzteren die insolventen Banken zur teuren Rettung überlassen wurden, ist dabei nie wirklich diskutiert worden.

Weil einige Euro-Länder ohne Zugang zu Notenbankkredit nicht in der Lage waren, ‘ihre’ Banken ausreichend zu stützen, beschlossen die EU-Regierungschefs im Juni 2012, eine „Bankenunion“ zu schaffen. Danach sollte die Bankenstützung euroweit durch gemeinsame Institutionen erfolgen. Diese Bankenunion ist seit Ende 2014 in Kraft. Die Entscheidungsgewalt darüber, welche Bank zu retten oder zu schließen ist, wurde von den nationalen Bankenaufsichtsinstitutionen (bzw. den dahinter stehenden Finanzministerien) auf ein gemischtes europäisches Gremium übertragen. Die sachliche Vorentscheidung darüber, welche Bank überlebt, trifft die neue europäische Bankenoberaufsicht. Diese Aufgabe erhielt – oh Wunder – die EZB. Die EZB und das sie tragende System der europäischen Notenbanken sind damit zum alles überragenden Machtzentrum in Europa geworden.

Die Macht der EZB und das Tabu der Staatsfinanzierung

Die Macht der Notenbank findet in der Konstruktion der gemeinsamen Währung des Euro eines Teils der EU-Staaten noch eine ganz besondere Ausprägung. Anders als in nationalen Währungsräumen steht der EZB nicht eine Regierung, sondern eine Vielzahl von Regierungen gegenüber, deren Interessen sie gegeneinander ausspielen und sich als Schiedsrichter aufspielen kann. Ihr Handeln wird überdies, anders als etwa die EU-Kommission, die dem Willen des Europäischen Rates (dem Rat der Regierungschefs) unterworfen ist, nicht von einer anderen Institution kontrolliert. Ihre unmittelbaren Eigentümer sind die nationalen Notenbanken, die ihrerseits vom Willen der nationalen Regierungen und Parlamente unabhängig sind. Darüber hinaus ist die Unabhängigkeit der EZB (vom demokratischen Volkswillen) in den EU-Verträgen fixiert.

In der Krise hat sich der Handlungsspielraum der EZB als wirtschaftspolitische Instanz massiv ausgeweitet. Der Grund dafür ist, dass einzelne Nationalstaaten des Eurogebietes ohne die Hilfe einer eigenen Notenbank nicht in der Lage waren, die Refinanzierung ihres Staatshaushalts zu decken und, was damit im unmittelbaren Zusammenhang steht, die Rettung der in ihrem Hoheitsgebiet angesiedelten Banken zu finanzieren. Die meisten kapitalistischen Staaten haben ziemlich restriktive Regeln dafür, wie weit die Regierungen den Kredit ihrer Notenbank nutzen können. Die Beschränkung hat einen rationalen Kern. Wenn der Staatshaushalt sich allzu freizügig des Notenbankkredits bedient (mit diesem Kredit keine investiven Ausgaben, sondern zum Beispiel Rüstung finanziert), verlieren die Staatstitel, ebenso wie das Notenbankgeld, am Finanzmarkt an Renommee. Die Zinsen steigen, und die Währung fällt. (Man sollte nicht vergessen, dass die allzu üppige Kreditvermehrung des Privatsektors ähnliche Folgen haben kann.) Große, mächtige Staaten und ihre Notenbanken können sich über diese Beschränkung hinwegsetzen. So bleibt der Dollar trotz enormer Geld- und Kreditvermehrung einigermaßen stabil, und die US-Staatsanleihen relativ niedrig verzinst.

In Ausnahmefällen könnten Regierungen auf die Finanzierung durch die Notenbank zurückgreifen. Nicht so in der Eurozone. Nicht nur ist das Staatsfinanzierungsverbot der Notenbanken vertraglich festgelegt. Es wird auch durch den Umstand gewährleistet, dass keine Regierung unmittelbaren Zugriff auf die EZB hat. Denn es müsste geklärt werden, welcher Staat zu welchen Konditionen von der EZB refinanziert wird. In der aktuellen Lage entscheidet der Zentralbankrat nach Gutdünken. Er nutzt seine Finanzierungsmacht aus, um bei den Staaten, die er alimentiert, eine ihm genehme Wirtschafts- und Strukturpolitik durchzusetzen. So geschehen im Sommer 2012, als die Regierungschefs von Italien und Spanien, Berlusconi und Zapatero, von der EZB Briefe erhielten mit detaillierten Anweisungen darüber, welche ‘Reformen’ sie einzuleiten und umzusetzen hatten. Das Drohmittel war das Ausbleiben von Stützungskäufen der Staatsanleihen der beiden Länder, was gleichbedeutend mit einem kräftigen Zinsanstieg wäre. Die EZB nutzt also ihre Stellung als Emittentin der Währung Euro dazu, über die Geldpolitik hinaus, Wirtschafts- und Sozialpolitik zu betreiben. Durch ihre Teilnahme an der Troika, die den Schuldnerländern des Eurogebietes detaillierte Regierungsanweisungen gibt, greift die Notenbank ganz offen in Politikbereiche außerhalb der Geldpolitik ein, was eigentlich rechtswidrig ist.

Das Tabu der Staatsfinanzierung durch die Notenbank spielt generell eine zentrale Rolle im Verhältnis von Finanzkapital und Staat. Eigentlich ist es absurd, weil die Notenbank im Regelfall ein staatliches Institut ist. (In den USA gehört die Fed formell den Banken; in der Schweiz sind an der Nationalbank private Aktionäre beteiligt. Die Entscheidungsgremien werden aber von Regierung und Parlament bestimmt.) Der Zweck des Verbots ist es, den Staat vom Finanzkapital abhängig zu machen bzw. zu halten. Da der Staat eine ganze Menge Kredit in Anspruch nimmt, garantiert allein dieser Geschäftszweig einem Teil des Bankenkapitals die Existenz. In Euro-Europa hat das der EZB und den nationalen Notenbanken auferlegte Verbot, den Staatshaushalten und Kommunen Kredit zu gewähren, eine Binnenwirkung im einheitlichen Währungsraum. Durch das Staatsfinanzierungsverbot kann der Wettlauf der Staaten um die Gunst des Finanzkapitals aufrechterhalten werden. Die EZB gewährt den Banken zu gleichen Konditionen Kredit. Die Staaten müssen unterschiedliche Zinsen bieten, um sich zu refinanzieren. Das begünstigt die Starken und schwächt die Schwachen zusätzlich. Das erklärt, warum in der deutschen Öffentlichkeit das Tabu der Staatsfinanzierung besonders hoch gehalten wird. Zugleich nimmt sich die EZB das Recht, gegen das Tabu zu verstoßen. Das ist zwar rechtlich umstritten, jedoch mittlerweile Praxis. Die Zentralbank nutzt diese Praxis, um ihre Machtstellung noch auszuweiten.

Die Notenbanken tragen einen wesentlichen Anteil der Schuld an den Bedingungen, die zur Finanzkrise führten. Unter den Staatsinstitutionen sind sie diejenigen, die sich mit Geld und Finanzen befassen. Sie sind explizit für die ‘Stabilität’ der von ihnen emittierten Währung verantwortlich. Sie sind in den meisten Ländern, zum Beispiel in Deutschland, direkt mit der Bankenaufsicht befasst. Sie sind mittlerweile in fast allen Ländern als von Exekutive und Legislative unabhängige Institutionen etabliert. Sie erheben genaue Daten über die Finanzverhältnisse in ihren jeweiligen Ländern. Sie waren bestens im Bilde über das außerordentliche Wachstum des Kredit- und Geldvolumens. Sie haben fast durchweg für die Deregulierung des Finanzsektors plädiert und die Politik in diesem Sinne beraten. Sie waren dabei durchweg das Sprachrohr des Privatkapitals. All das ist in der Öffentlichkeit bekannt. Und dennoch hat keine bürgerliche politische Partei die Forderung nach einer Disziplinierung der Notenbank und ihre Unterordnung und Verantwortung gegenüber dem demokratisch gewählten Parlament erhoben. Eine Voraussetzung, keineswegs eine hinreichende Bedingung dafür, um den Finanzmarkt kontrollieren zu können, bestünde darin, die Notenbanken der staatlichen demokratischen Willensbildung zu unterwerfen, d. h. ihre Unabhängigkeit zu beseitigen. Denn diese ist in Wirklichkeit ein Instrument zur Verstärkung der Abhängigkeit von den Finanzmärkten.

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