Müller, Stefan (Hrsg.), Probleme der Dialektik heute, VS-Verlag, Wiesbaden 2009, Reihe: Frankfurter Beiträge zur Soziologie und Sozialpsychologie, 247 S., 24,90 Euro
Um es gleich vorwegzunehmen: Es geht in dem Sammelband „Probleme der Dialektik heute“ hauptsächlich um Anschlussmöglichkeiten an die kritische Theorie Adornos und dessen negative Dialektik. Wie ein solches Verfahren aussehen kann, arbeiten die elf AutorInnen anhand unterschiedlicher Modelle heraus. Die zuweilen ärgerliche Eigenschaft von Sammelbänden, sehr disparate Texte zusammenzubringen und gemeinsam zu veröffentlichen, erweist sich im vorliegenden Fall in unterschiedlicher Hinsicht als gut gelöst. Eine Auseinandersetzung mit dem Dialektikkonzept Gramscis verbindet zwar zunächst nicht viel mit Überlegungen zum Sozialcharakter im Postfordismus; Ästhetik und Kulturindustrie bei Adorno sind nicht notwendigerweise auf die Frage nach dialektischen Motiven in der Freudschen Psychoanalyse verwiesen. Doch in der Gesamtbetrachtung der Beiträge zeigt sich das verbindende Moment in der Darstellung und kritischen Diskussion grundlegender Probleme dialektischer Theoriebildung. Dazu heißt es in der Einleitung: „Dialektische Konzeptionen sind nicht nur ihrer historisch weit zurückreichenden Genesis wegen höchst ungleichnamig; zu vielfältig sind die im Namen der Dialektik erhobenen Modelle – die Antipoden einer idealistischen und einer materialistischen Perspektive geben reichlich davon Auskunft“ (7f.). Kann es dann überhaupt verbindliche Grundannahmen geben? Und: Wie lassen sich die Spezifika materialistischer Dialektikkonzeptionen bewahren und weiterentwickeln? Der von Stefan Müller herausgegebene Sammelband will auf diese Fragen Antworten geben.
Zunächst der Reihe nach: Heiko Knoll eröffnet den Band mit einer grundsätzlichen Diskussion zum Verhältnis von Dialektik und Widerspruch. Dieser Problembereich reicht in der Geschichte der Philosophie weit zurück. Knoll legt eine Analyse verschiedener Widerspruchskonstellationen vor, die im Bereich der strikten Antinomien den spezifisch dialektischen Widerspruchsbegriff verorten. Kennzeichnend für strikte Antinomien sind negativ-selbstbezügliche Strukturen, so die These von Knoll. Diesen komme innerhalb einer Dialektik besondere Bedeutung zu. Von dieser These ausgehend, gelingt es, zu dem umstrittenen und dennoch oft im Unklaren bleibenden Problem eines spezifisch dialektischen Widerspruchsbegriffs eine Lösungsmöglichkeit beizutragen, die Auskunft über den dialektischen Charakter einer jeweils vorliegenden Widerspruchskonstellation geben kann.
Anschließend gibt Jens Meisenheimer eine dicht gedrängte Einführung in Adornos kritische Theorie des Individuums. Vor allem in Rückgriff auf die Marxschen Aspekte innerhalb der Theorie Adornos zeigt er auf, inwiefern gängige Vorurteile gegenüber der älteren kritischen Theorie leicht entkräftet werden können. Die weit verbreitete Annahme eines ‚Kulturpessimismus‘, der bei Adorno zu finden sei, entkräftet er mit dem Hinweis auf die Spuren des Nicht-Identischen, die innerhalb der Totalität jederzeit aufzufinden seien. „Es gehört zu den anscheinend nicht zu beseitigenden Missverständnissen, den Totalitätsbegriff mit einer vollkommen widerspruchslosen Angelegenheit zu verwechseln […], während Totalität doch in erster Linie auf die Tatsache der Vermittlung abstellt, darauf, dass das Tauschprinzip alle Lebensbereiche durchdringt und zum Mittel der Wertverwertung macht, ohne jemals mit sich selbst ganz identisch zu werden“ (58) – ein Marxscher Gedanke in adornitischer Wendung, der zudem einem der Vorbehalte gegenüber der älteren kritischen Theorie angemessen begegnet.
Marc Grimm liefert eine schön zu lesende Einführung zu den Kulturindustriethesen und in die ästhetische Theorie Adornos. Es gelingt ihm, den Komplexitätsgrad beider Themenbereiche adäquat und vor allem gut nachvollziehbar darzustellen. Insbesondere Adornos Kritik der Schematisierung und Stereotypierung durch Kulturindustrie wird vorgestellt und deren Trifftigkeit am Modell gezeigt. Anhand des Films ‚Schindlers Liste‘ wird die „Integration von Auschwitz in die Kulturindustrie“ (76) nachgewiesen. Typisierung lässt als Merkmal der Kulturindustrie das Besondere, Einzelne in den Hintergrund treten. „Insoweit ist die Auswahl der Protagonisten aus Gründen kulturindustrieller Darstellung erforderlich, verhindert aber schon auf dieser Ebene die Darstellung der Dimension des Zivilisationsbruches, indem Ausnahmefälle zu Typen erklärt werden.“ (78)
In der Betrachtung der ‚Dialektik der flexiblen Subjektivität‘ wagt sich Lutz Eichler an eine idealtypische Bestimmung des Sozialcharakters im Postfordismus. Insbesondere dem Narzissmus-Konzept Adornos traut er zu, im Gegensatz zum vormals von der kritischen Theorie präferierten autoritätsfixierten Charakter, aktuell Gültiges zu einer genaueren Bestimmung (und das meint: Kritik) des heutigen Sozialcharakters beitragen zu können: „Während der Autoritäre hierarchische sadomasochistische Beziehungen suchte und seine Aggressionen gegen sozial Schwächere auslebte, könnte der Narzisst seinen Neid und seine Wut, die er gewissermaßen realitätstüchtig gegen alle richtet, die wirklich oder vermeintlich besser dastehen, in einen scharfen Gerechtigkeits- und Gleichheitssinn überführen.“ (108) Dass der narzisstischen Vorstellung von Gerechtigkeit und Gleichheit das Modell einer freien Assoziation frei Assoziierter diametral gegenübersteht, ergibt sich aus dem Zusammenhang.
Das allzu häufig strapazierte Konzept einer Gegenhegemonie steht erfreulicherweise nicht im Mittelpunkt der Gramsci-Kritik von Janne Mende. Sie weist anhand der Kategorien Ideologie, Basis-Überbau und Wahrheit nach, inwiefern Gramsci hinter den Möglichkeiten einer dialektisch vermittelten Konzeption dieser Kategorien zurückbleibt. Dass dies nicht allein den historischen Umständen geschuldet ist, unter denen Gramsci zweifelsohne zu leiden hatte, sondern auch mit einer spezifisch (verkürzten) Marx-Interpretation zusammenhängt, zeigt sie ebenso auf wie ein erweitertes dialektisches Verständnis dieser Kategorien, denen sie die Ausführungen Adornos zugrunde legt.
Der Beitrag von Stefan Müller betrachtet die „freudschen Begründungszusammenhänge […] im Hinblick auf dialektische Motive“ (139). Dieser viel versprechende Ansatz weist über die expliziten dialektischen Konzeptionen, die zuvor verhandelt werden, hinaus und eröffnet einen neuen Blick auf dialektische Verhältnisbestimmungen, die nicht unmittelbar aus ihrer eigenen Begründung heraus als dialektische klassifiziert werden. „Die Akzentverschiebung besteht […] darin, dass innerhalb der freudschen Argumentationsstrategien überprüft werden soll, inwiefern er [Freud] die ihm zur Verfügung stehende naturwissenschaftliche aristotelische Logik überschritt – in Richtung einer prozesshaft-vermittlungslogischen Verfahrensweise, die eine innere Vermittlung der Gegensätze in sich abbilden kann.“ (140) Gezeigt wird damit nicht zuletzt, dass der Dialektik auch in Bereichen, in denen naturwissenschaftlich-positivistische Maximen gelten, erhebliche Bedeutung zukommt.
Inhaltlich Aufschlussreiches legt auch Jürgen Ritsert vor. Mit einer Interpretation des von Hegel begründeten Verhältnisses von Zusehen und Zutat zeigt er auf, dass der (vor allem vom akademischen Marxismus gepflegte) Mythos einer nicht-normativen Kritik des Messens der Verhältnisse an ihrem Begriff selbst einer idealistischen Vorstellung entspringt. Ritsert beschreibt die Verkürzungen, die (implizit) mit dem Mythos einer immanenten Kritik einhergehen – ein ebenso lesenswerter wie aktueller Beitrag!
Anschließend wenden sich die Beiträge des Sammelbands Überlegungen zur Marxschen Theorie zu. Ingo Elbe kritisiert ‚emphatische‘ Dialektikkonzepte, die sich auf Marx berufen, und Giovanni Sgro’ erläutert, vor allem mit Bezug auf die ‚Grundrisse‘, elementare Merkmale Marxscher Dialektik. Der abschließende Beitrag von Josh Robinson beschäftigt sich mit dem Verhältnis von ‚Dialektik und Spekulation‘ auf recht eigenwillige und nicht immer eingängige Weise. Seiner These zufolge bleibt innerhalb der Dialektikkonzeption Adornos die Hegelsche Spekulation erhalten und so sind die metaphysischen Momente Hegelscher Theorie auch innerhalb des Adornoschen Materialismusverständnisses aufzufinden.
Aus der eingangs bemerkten Heterogenität der Beiträge sticht insgesamt die Produktivität und Vielfalt einer aktualisierten Dialektikdiskussion hervor. Analog zu Adornos ‚Denken in Konstellationen‘ wird im vorliegenden Sammelband davon ausgegangen, dass keinesfalls Ungleichnamiges schlicht zusammengezogen werden kann, es gilt zu differenzieren. Die Einheit der Beiträge erweist sich in der konsequenten Orientierung auf die heute zu diskutierenden Problembereiche dialektischen Denkens. Der Sammelband trägt in herausragender Weise zu ihrer Klärung bei; Lösungsmöglichkeiten werden auf (unterschiedlichen) Ebenen herausgearbeitet und diskutiert. Dass dialektische Motive auch in naturwissenschaftlich-positivistischen Konzeptionen erscheinen, weist Stefan Müller nach. Jürgen Ritsert überführt die Vorstellung einer immanenten Kritik, die von der herrschenden Moral glaubt abstrahieren zu können, ihrer Unwahrheit. Die Konzeption eines dialektischen Widerspruchsbegriffs wird von Heiko Knoll vorgestellt. Ingo Elbe arbeitet in aller Deutlichkeit die Probleme einer Dialektik im Anschluss an Marx heraus. Im Gesamten betrachtet stellen diese Themenbereiche in der Tat die Probleme der Dialektik heute dar.
Torsten Feltes