Djihadismus: Religiöser Fanatismus oder Business?

Der Fluch des Samuel P. Huntington

von Werner Ruf
Juni 2015

Als der Sozialismus sowjetischer Prägung real zusammenbrach und die Warschauer Vertragsorganisation sich auflöste, stand die NATO vor dem Problem der weiteren Legitimation ihrer Existenz. Beschworen wurden als mögliche Bedrohungen so genannte „neue Risiken“ wie ökologische Veränderungen, transnationale organisierte Kriminalität, Migration und Terrorismus. Nimmt man diese Bedrohungen ernst, so ist ihnen eher mit dem Spektrum polizeilicher Maßnahmen zu begegnen als mittels der von high-tech Waffen starrenden NATO. Dieses Vakuum bei der Suche nach einem neuen Feindbild wurde gefüllt durch den 1993 erschienen Aufsatz von Samuel P. Huntington The Clash of Civilizations,[1] in dem er behauptete, das Zeitalter der territorial fixierten Mächte und der zwischenstaatlichen Konflikte ginge zu Ende, die Kriege des 21. Jahrhunderts seien der Kampf oder die Kriege der Kulturen. Eine dieser Kulturen, der Islam, sei besonders gefährlich und aggressiv, denn: Islam has bloody borders.

Dieses neue Paradigma wurde geradezu gierig rezipiert. Der Aufsatz wurde zur Pflichtlektüre in den Außenämtern, in den militärischen Stäben, aber auch in der akademischen Debatte. Und er zeigte Wirkung: Schon knapp ein Jahr später war im französischen Verteidigungsweißbuch zu lesen: „Der islamistische Extremismus stellt ohne Frage die beunruhigendste Bedrohung dar. (...) Er nimmt oft den Platz ein, den der Kommunismus innehatte als Widerstandsform gegen die westliche Welt“[2], und der damalige NATO-Generalsekretär erklärte, dass der Islam möglicherweise eine größere Bedrohung sei als dies der Kommunismus je war.[3] In der Tat passt die von Huntington entworfene neue Weltsicht hervorragend in die globalisierten Gesellschaften des 21. Jahrhunderts: „Kulturen“, wenn man das so nennen will, haben sich transnational ausgebreitet, staatliche Grenzen werden zunehmend relativ – oder anders ausgedrückt: Dank der Migration steht der Feind jetzt hier, in unseren multikulturell durchmischten Städten.[4] Die „Gastarbeiter“, die einst als Türken kamen, sind jetzt Muslime. Gleiches gilt für die Menschen nordafrikanischen oder pakistanischen Ursprungs in Frankreich und England. Die Internationalisierung des Djihad in Syrien und Irak kann durchaus verstanden werden als eine Facette der Globalisierung.

Doch bliebe sie unverständlich, würde nicht mitbedacht, wie Huntingtons Paradigma zur Grundlage politischen Handelns und der Kriegführung der USA im Nahen Osten wurde: Nicht nur der Krieg gegen die Taliban im Gefolge von 9/11, sondern vor allem die „Neuordnung“ des Irak nach dem Krieg von 2003 erfolgte nach rein konfessionellen Mustern. Indem sich politisches Handeln an den Kategorien Huntingtons orientierte, wurde es zur self-fulfilling prophecy: Der säkulare Diktator Saddam Hussein wurde mitsamt der kompletten irakischen Armee und der in weiten Teilen hoch professionellen Verwaltung als sunnitisch identifiziert, die neue Herrschaft den Schiiten unter dem von den USA ausgesuchten Maliki übertragen. Die Konfessionszugehörigkeit, nicht die Kompetenz, wurde zum Kriterium der Übertragung von Ämtern und damit Vetternwirtschaft und Korruption.[5] Dies galt vor allem auch für die offiziell 350.000 Mann starke Armee, wo ganze „Geisterbataillone“ existierten, deren Sold in den Taschen der Generäle landete.[6] So ist es kein Wunder, dass während der ersten Angriffe des IS auf Mossul die beiden kommandierenden Generäle sich als erste absetzten, während die vorhandenen Einheiten ohne ausreichende Munition an die Front geschickt wurden.

Privates militärisches Unternehmertum – auf „islamisch“?

Gleichfalls nach dem Ende der Bipolarität schossen vor allem in den USA private militärische Unternehmen aus dem Boden, die spätestens in den Kriegen in Afghanistan und Irak, aber auch in den Balkankriegen oft die schmutzige Arbeit verrichteten und durchaus als eine moderne Form des Söldnertums angesehen werden können.[7] Als eine Frühform solcher Gewaltakteure können jene (muslimischen) Banden gesehen werden, die als „Freiheitskämpfer“, ausgebildet von der CIA und königlich finanziert von Saudi-Arabien, in den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts in Afghanistan gegen die (gottlose) Sowjetunion kämpften. Die Krieger rekrutierten sich aus nahezu allen arabischen Ländern und stellen dort heute – vom Sahel bis in den Nahen Osten – als so genannte „Afghanen“ die Anführer der schon nicht mehr zählbaren, sich auf den Islam berufenden Banden. Der einzige Unterschied zu den privaten westlichen Gewaltakteuren besteht darin, dass sie sich auf eine einigende Ideologie berufen, eine Variante des saudisch-wahabitischen Islam.

Zu zentralen Akteuren wurden solche Banden während des nun schon vier Jahre dauernden Krieges in Syrien. Bereits 2012 zählte die International Crisis Group[8] mindestens zehn verschiedene islamistische Gruppen, die, von unterschiedlichen ausländischen Akteuren unterstützt, je nach momentaner Konjunktur teilweise im Verbund, teilweise gegeneinander kämpften.[9] Auch der Kriegstourismus nach Syrien wird überwiegend finanziert von den Golfstaaten, allen voran Saudi-Arabien und Qatar.[10] Dabei spielen nicht nur die dortigen Regierungen eine wichtige Rolle, viel Geld fließt auch von reichen Familien in diesen reaktionären Staaten und zahlreichen in Saudi-Arabien angesiedelten religiösen Stiftungen zur Verbreitung des Wahabismus. Auch gibt es Hinweise, dass auch die USA über ihre Geheimdienste schon seit 2011 al qaeda nahestehende Gruppen finanzieren.[11]

Die meist jungen Männer, oft auch Kinder im Alter zwischen 14 und 18 Jahren, die beispielsweise aus Tunesien nach Syrien in den Krieg ziehen, erhalten ein Handgeld von bis zu 6.000 oder 8.000 Dollar,[12] manche Quellen sprechen von Summen bis zu 20.000 Dollar,[13] was aber übertrieben sein dürfte. Der tägliche Sold soll bei etwa 300 Dollar liegen.[14] Für die perspektivlosen Jugendlichen der Elendsviertel sind dies gewaltige Summen. Erstmalig können sie zum Familienunterhalt beitragen, ihrem Vater ein Auto kaufen … Die Zahl allein der tunesischen Kämpfer in Syrien wird inzwischen auf mindestens 5.000 geschätzt. Versprochen wird auch finanzielle Hilfe für die Bestattung, sollte ein Kämpfer den „Märtyrertod“ erleiden.

Ein besonders widerlicher Aspekt des Djihad-Tourismus nach Syrien ist der „sexuelle Djihad“: Junge Frauen und Mädchen (in der österreichischen Presse auch „Djihad-Bräute“ genannt) gehen freiwillig nach Syrien, um dort mit sexuellen Dienstleistungen die Moral der Kämpfer zu stärken. Dabei berufen sich die Djihadisten auf eine ominöse Fatwa eines bis dahin unbekannten Sheikhs.[15] Dass es sich bei diesem „sexuellen Djihad“ nicht um ein Einzelphänomen handelt, bestätigt der ehemalige Mufti der (theologischen) Zituna-Universität in Tunis, der von der islamistischen en-nahda-Partei abgesetzt worden war.[16]

Die Finanzierung dieser Gruppen entspringt nicht religiösen Motiven, sondern machtpolitischen Interessen. Saudi-Arabien betreibt mit der Unterstützung salafistischer Gruppen im ganzen Nahen Osten wie auch im Sahel eine Ausbreitung seiner reaktionären Staatsideologie des Wahabismus. Diese soll schon im geographischen Vorfeld dafür sorgen, dass „Instabilitäten“ wie etwa der „Arabische Frühling“ sich nicht mehr ereignen. Anschaulich wird diese Politik in der Unterstützung salafistischer Gruppen in Tunesien und Libyen wie auch der ägyptischen salafistischen an-Nur-Partei, aber auch in der brutalen Niederschlagung der als schiitisch gebrandmarkten Rebellion im Nachbarstaat Bahrein. Qatar seinerseits unterstützt die Muslim-Bruderschaft, eine im ganzen arabischen Raum mächtige Massenbewegung, die sich mit den Saudis schon im zweiten Golfkrieg (1990/91) durch ihre Parteinahme für Saddam Hussein überworfen hatte und von den Saudis wohl wegen ihrer zentralen Forderung nach sozialer Gerechtigkeit gefürchtet wird. Nicht zu vergessen sind aber die qatarischen geostrategischen Interessen: Seit Jahren versucht Qatar eine Pipeline zwecks Exports seiner gigantischen Erdgas-Vorräte zu bauen, die in der Türkei an die großen nach Europa führenden Pipelines angeschlossen werden soll. Ihr Weg kann nur durch Syrien führen. Schließlich gehört in den Kontext der regionalen hegemonialen Auseinandersetzungen die AKP-Regierung der Türkei, die primär den wichtigsten Partner des Assad-Regimes, den Iran, zu schwächen versucht und mit der Errichtung eines den Muslimbrüdern nahestehenden Systems in Syrien eine territoriale Ordnung verfolgt, die sich an den Grenzen des osmanischen Reiches orientiert. Vor diesem Hintergrund ist es kein Zufall, dass die syrisch-türkische Grenze zum Durchzugsgebiet von Djihadisten jeglicher Couleur geworden ist.

Nicht zuletzt aber sind auch die Großmächte selbst involviert: Russland besitzt in der syrischen Mittelmeerstadt Tartous seinen einzigen Kriegshafen außerhalb des russischen Territoriums, zu dem inzwischen auch die Krim gehört. Die USA (und Israel) arbeiten gemeinsam am Sturz oder zumindest an der entscheidenden Schwächung des Regimes in Teheran, das, gewissermaßen als schiitische Achse, in dieser Sicht der Dinge von der Hizbullah in Libanon über die alauitische (= schiitische) Assad-Familie bis Teheran reicht. Indem die salafistischen (sunnitischen) Gruppen die Schiiten zu Ungläubigen erklären, wird der „Kampf der Kulturen“ auch zu einer inner-islamischen Frontlinie.

Indem sie sich voll die konfessionelle Lektüre der Konflikte zu Eigen machen, fordern einflussreiche Kreise in den USA um der Durchsetzung tagespolitischer Interessen wegen abermals die Unterstützung von al qaeda. So schrieb beispielsweise der wichtige US-Think Tank Council on Foreign Relations schon am 6. August 2012:

„Die syrischen Rebellen wären heute ohne Al-Qaeda in ihren Reihen unermesslich schwächer. Die Einheiten der Freien Syrischen Armee sind weitgehend erschöpft, zerstritten, chaotisch und ineffektiv. (…) Al-Qaedas Kämpfer können jedoch helfen, die Moral zu steigern. Der Zustrom der Dschihadisten bringt Disziplin, religiöse Leidenschaft, Kampferfahrung aus dem Irak, Finanzmittel von sunnitischen Sympathisanten aus den Golfstaaten, und, am wichtigsten, tödliche Resultate mit sich. Kurz gesagt, die FSA braucht Al-Qaeda – jetzt.“[17]

Offenkundig ist, dass die USA, wenn sie schon nicht selbst Waffen liefern, die Unterstützung der Banden durch Saudi-Arabien und Qatar zumindest tolerieren.[18] Nicht enden wollen die Meldungen, wonach die USA neben ihrer Unterstützung für die „Freie Syrische Armee“, die inzwischen militärisch kaum mehr eine Rolle zu spielen scheint, immer wieder, vor allem in Jordanien und in der Türkei, aber wohl auch in Syrien selbst, die militärische Ausbildung „gemäßigter“ islamistischer Gruppen vorantreiben.[19] Was dann „gemäßigt“ ist, wird wohl nach Gutdünken und tagespolitischer Lage entschieden. Wenn es nützlich zu sein scheint, finanziert die CIA wohl auch mit al qaeda verbündete Gruppen.[20]

Vom Subunternehmer zum selbständigen transnationalen Akteur: Der „Islamische Staat“

So verdichtet sich die Annahme, dass es beim Krieg der Milizen und Banden in Syrien wenig um Religion, dafür umso mehr um Geld geht. ISIS oder ISIL (Islamischer Staat in Irak Syrien und der Levante), die sich heute kurz IS (Islamischer Staat) nennt, kämpfte – neben vielen anderen – unter wechselnden Namen zuvor in Syrien. In die Schlagzeilen unserer Medien geriet sie aber erst, als sie im Norden des Irak die Armee überrannte und mittlerweile bis vor die Tore von Bagdad vorstieß. Die Bande zeichnet sich (wie drei Jahre lang zuvor scheinbar unbemerkt in Syrien) durch ungeheure Grausamkeit und Brutalität gegen nicht-sunnitische Minderheiten, aber ebenso gegen säkulare Sunniten aus. Der Terror verfolgt das Ziel, durch die Verbreitung von Angst und Schrecken die Herrschaft ihres „islamischen“ Systems zu sichern. Zugleich aber nimmt IS staatliche Funktionen wahr: Erstmals seit Jahren funktioniert die Grundversorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln, Strom und Wasser wieder einigermaßen. IS kann dies, weil sie über gigantische Finanzmittel verfügt. Auch zahlt der IS offensichtlich mehr Sold als die anderen Terrorgruppen, was viele Kämpfer motiviert, zu ihm überzulaufen. Auch hier also: Es geht nicht um Religion, sondern um Geld. Die Schätzungen über die Truppenstärke des „Islamischen Staats“ überschlagen sich während der Fertigstellung dieses Manuskripts fast täglich, letzte von der CIA gelieferte Zahlen belaufen sich auf „bis zu 31.500 Kämpfer.“[21] Andere Schätzungen sprechen inzwischen von 50.000 Söldnern.

Die Einnahmen von IS werden auf weit über zwei Millionen US-Dollar/Tag geschätzt.[22] Wie jede andere dieser terroristischen Organisationen stammen die Gelder aus Erpressungen, die „Steuern“ genannt werden: Insbesondere Kopfsteuern von nicht sunnitischen Personen, „Wegezölle“ an Straßensperren, Schutzgelderpressungen. Hinzu kommen Entführungen oft von Kindern und abgepresste Lösegelder. Allein diese Einnahmen werden auf jährlich 10 Millionen US-Dollar geschätzt. Ferner verübt IS Banküberfälle in großem Stil und die Plünderung der archäologischen Schätze des Landes (Museen, Ausgrabungsstätten, Kirchen).[23]Als weitere Finanzquelle kommt der Verkauf von Öl aus Syrien und dem Nordirak hinzu: IS kontrolliert sieben Ölfelder und zwei Raffinerien im Nordirak und sechs der zehn Ölfelder in Ostsyrien. Über „türkische Mittelsmänner“ wird das Öl vermarktet, etwa zum halben Preis der Börsennotierungen. Bereits hier zeigt sich, dass diese Praktiken offensichtlich international toleriert werden: Die im Zusammenhang mit der Ukraine-Krise gegen Russland verhängten Sanktionen zeigen, wie präzise diese ausgesprochen und auch durchgesetzt werden können, wenn der politische Wille vorhanden ist. Doch das Gegenteil ist der Fall: EU-Länder sind selbst am Handel mit vom IS vermarktetem Öl beteiligt.[24] Allein der Öl-Export soll Einnahmen von zwei Millionen Dollar/Tag erbringen.[25]

Eine weitere Finanzierungsquelle soll der Organhandel sein. Dies zumindest behauptete der irakische UN-Botschafter vor dem UN-Sicherheitsrat. Seine Aussagen wurden gestützt vom UN-Sondergesandten für den Irak.[26] Demnach wurden in Massengräbern Leichen mit chirurgischen Einschnitten gefunden, denen die Nieren fehlten. Auch handelt der IS mit den Leichen gefallener (kurdischer) Kämpfer, die deren Angehörige für Beträge zwischen 10.000 und 20.000 US-Dollar zurückkaufen können, um sie in Würde zu bestatten.[27] In den Kontext der Finanzierung gehört eine weitere Praxis der Banden des IS: Quantitativ vielleicht weniger bedeutsam, in seiner Abartigkeit aber kaum zu überbieten ist der Verkauf von Frauen (bisher meist Jesidinnen) in die Sex-Sklaverei oder ihre Benutzung als Sex-Sklavinnen der Krieger.

Dank dieser Finanzierungsquellen konnte der IS sich von seinen ausländischen Geldgebern unabhängig machen: Er mordet, terrorisiert und erpresst inzwischen unabhängig von seinen einstigen Förderern auf eigene Rechnung und wendet sich teilweise gegen sie. Der von den Banden des IS praktizierte Terror hat nichts mit Religion zu tun. Die brutale, oft öffentliche, teils durch Videos zur Schau gestellte Ermordung von Menschen, ja von Kindern, hat System: Sie verbreitet wirksam Angst und Schrecken und demonstriert die Glaubwürdigkeit der von den Banditen angedrohten Maßnahmen, wodurch von jedem Widerstand abgeschreckt werden soll. Gleichzeitig spekuliert IS auch gezielt auf den Hass auf die USA, der seit Guantanamo, Abu Ghraib im Irak, Bagram in Afghanistan tief in der arabischen und islamischen Öffentlichkeit verwurzelt ist. Es kann kein Zufall sein, dass Gefangene von ihren Mördern in exakt jenen orangefarbenen Overalls zur Hinrichtung geführt werden, die die Insassen von Guantanamo tragen müssen.[28]

Ein – weiterer – islamischer Staat?

Sicherlich gibt es bereits die (schiitische) Islamische Republik Iran. Auch Mauretanien nennt sich Islamische Republik. Mit dem „Islamischen Staat“ tritt jedoch ein neuer, Staatlichkeit beanspruchender Akteur auf den Plan. Hier kämpft eine ungeheuer brutale, zugleich aber disziplinierte und hierarchisch aufgebaute Truppe, die eigenständig und unabhängig von fernen Auftraggebern effizient agiert. Mit der Proklamation eines Kalifats durch den selbsternannten Kalifen mit dem Kriegsnamen Abu Bakr al Bagdadi ist das Chaos im Mittleren Osten in eine qualitativ neue Phase getreten: Im Gegensatz zu al qaeda, die sich dem Kampf gegen „den Westen“ verschworen hat, erhebt „Kalif Ibrahim“ erstmals den Anspruch auf Territorialität und eine Staatlichkeit, die Syrien, den Libanon und wesentliche Gebiete des Irak umfassen soll,[29] mittlerweile aber auch in Libyen zu einer starken Macht geworden ist. Der IS bemüht in besonderer Weise Symbolik: Mit seinem Kriegsnamen Abubakr[30] knüpft der „Kalif“ an den ersten rechtgeleiteten Kalifen und direkten Nachfolger des Propheten an und beschwört symbolisch den Beginn des „goldenen Zeitalters“ arabischer Herrschaft. Mit „al Bagdadi“ verweist der nicht in Bagdad, sondern in Samarra geborene Djihadist auf das Abassidenreich, das 762 die Stadt Bagdad gegründet hatte.

In den von ihm kontrollierten Gebieten in Syrien und Irak hat sich IS eine territoriale Basis geschaffen, die erstmals konkret die bestehende territoriale Ordnung des Nahen und Mittleren Ostens infrage stellt. Dieses „Kalifat“ könnte 100 Jahre nach Beginn des 1. Weltkriegs der Ordnung von Sèvres, die auf dem britisch-französischen Sykes-Picot-Abkommen von 1916 basierte, endgültig den Todesstoß versetzen: Im Pariser Vorort Sèvres war 1920 das Osmanische Reich von den Siegermächten aufgeteilt worden. Die imperialistischen Großmächte hatten damals jene bis heute gültigen Grenzen gezogen und Regime installiert (oder gestürzt), wie dies ihren Interessen oder momentanen politischen Zielsetzungen entsprach; keinesfalls aber bilden die Grenzen von Sèvres die ethnischen oder religiös-kulturellen Gegebenheiten der Region ab. All dies und nicht nur die damals ungelöste Kurdenfrage und das Palästinaproblem kommen nun wieder auf die politische Tagesordnung. Der vollendete regimechange im Irak und der seit drei Jahren mittels bewaffneter Subunternehmer betriebene regimechange in Syrien erweisen sich als ein Sprengsatz, der nun unmittelbar die territoriale Ordnung der Region zu bedrohen scheint.

Es erscheint wie ein Fluch: Überall wo der Westen intervenierte, gelang es zwar, Diktatoren von der Macht zu vertreiben, die bestehende Staatlichkeit aber wurde zerstört. Die multikonfessionellen und multiethnischen Gesellschaften des Nahen Ostens versinken in Chaos und Barbarei – in Somalia, Afghanistan, Irak, Libyen, wo inzwischen Banden und Milizen stellvertretend oder auf eigene Rechnung kämpfen und Religionszugehörigkeit zum neuen identitären Konzept erheben. Der „Islamische Staat“ schreitet von Erfolg zu Erfolg: Trotz massiver Bombardements ist er weiter auf dem Vormarsch. Die Zahl seiner Kämpfer steigt weiter. In der arabischen Welt wächst die Unterstützung durch Terrorgruppen, die sich ihm in Algerien, Libyen, Jemen anschließen. Der vom Westen initiierte Zerfall von Staaten impliziert nicht nur das Ende der „Ordnung“ von Sèvres. Die Übertragung des fatalen Huntington’schen Paradigmas vom „Kampf der Kulturen“ auf die politische Landschaft des Nahen und Mittleren Ostens droht die gesamte Region in ein Chaos zu stürzen, in dem die Religion als neue staatsbildende Ideologie für Jahrzehnte zu blutigen Auseinandersetzungen, Vertreibungen, ja Völkermord führen kann. Dringend notwendige politische Lösungen werden durch die Politik des Westens und ihre sich fast täglich ändernde Unterstützung für wechselnde Milizen und Akteure verhindert, ja die Konfessionalisierung der Konflikte wird weiter angeheizt und dadurch noch unkontrollierbarer. Die weltlichen Konflikte um geostrategische Interessen und Ressourcensicherung werden in religiöse Gewänder gehüllt und entfalten so eine Eigendynamik, der mit rationaler Konfliktlösung kaum mehr beizukommen ist,[31] obwohl die terroristischen Gewaltakteure konsequent sehr irdische Interessen verfolgen.

[1] Samuel P. Huntington, The Clash of Civilizations? In: Foreign Affairs, Summer 1993, pp. 22 – 49. Den Aufsatz erweiterte er zu einem 1996 erschienen Buch: Der Kampf der Kulturen. Die Neugestaltung der Weltpolitik m 21. Jahrhundert, Wien/München. Dank der Verteilung durch die Bundeszentrale für politische Bildung erreichte das Buch eine Massenauflage.

[2] République Française: Livre blanc sur la Défense, Paris 1994, S. 18.

[3] Interview mit der britischen Tageszeitung „TheIndependent“ vom 08. Februar 1995.

[4] Seine durchaus rassistisch zu nennende Weltsicht illustrierte Huntington mit einem weiteren Bestseller: Who are We: The Challenges to Americas National Identity, New York 2004. Darin argumentiert er, durch die Immigration vor allem aus Lateinamerika ginge die (weiße) protestantische Identität der USA verloren.

[5] Toby Dodge, Can Irak be saved? In: Survival vol. 56, 5/2014, S. 7 – 19.

[6] Loretta Napoleoni, Der islamische Phönix. In: Blätter für deutsche und internationale Politik, Heft 3/2015, S. 45 – 55, hier S. 46.

[7] Werner Ruf, Private Militärische Unternehmen. In: Ders. (Hrsg.): Politische Ökonomie der Gewalt, Opladen 2003, S. 76 – 90.

[8] http://www.crisisgroup.org/en/regions/middle-east-north-africa/syria-lebanon/syria/131-tentative-jihad-syrias-fundamentalist-opposition.aspx [27-02-15].

[9] Ebenda.

[10] http://www.spiegel.de/politik/ausland/golfstaaten-sollen-millionen-an-syrische-aufstaendische-zahlen-a-825135.html [28-06-13].

[11] http://www.opinion-maker.org/2011/09/u-s-ambassador-to-syria-in-charge-of-recruiting-arabmuslim-death-squads/ [26-06-13].

[12] So die tunesische Tageszeitung „Achourouk“ vom 28. Mai 2013.

[13] So Balduin Winter unter Berufung auf die Wochenzeitung „Jeune Afrique“. Balduin Winter, Tunesien: Islamismus oder neuer Aufbruch. In: Blätter für deutsche und Internationale Politik, Heft 4/2013, S. 111 – 119, hier S. 114. In der tunesischen Presse finden sich Angaben, die zwischen 6.000 und 8.000 € schwanken.

[14] Jürgen Todenhöfer, Es gibt keine gemäßigten Rebellen mehr. In: FAZ vom 3. Mai 2013, S. 10.

[15] http://frontpagemag.com/2013/dgreenfield/islamists-rename-prostitution-for-terrorists-as-sexual-jihad/ [15-07-13].

[16] Tageszeitung Achourouk (Tunis), 7. Juli 2013, zit. n. Pressedienst der deutschen Botschaft Tunis, 7. Juli 2013.

[17] http://www.cfr.org/syria/al-qaedas-specter-syria/p28782 [12-06-13].

[18] So die „New York Times” vom 14. Oktober 2012. http://www.nytimes.com/2012/10/15/world/middleeast/jihadists-receiving-most-arms-sent-to-syrian-rebels.html?pagewanted=all [21-02-15].

[19] Siehe exemplarisch „Washingtons Schlachtpläne“ in: FAZ vom 21. Februar 2015, S. 2.

[20] http://www.opinion-maker.org/2011/09/u-s-ambassador-to-syria-in-charge-of-recruiting-arabmuslim-death-squads/ [26-06-13].

[21] http://www.handelsblatt.com/politik/international/cia-bericht-terrormiliz-is-hat-schon-mehr-als-30-000-kaempfer/10691272.html [13-09-14].

[22] Frankfurter Allgemeine Finanzen vom 29. August 2014 [29-08-14]. Die Daten stammen sowohl aus Geheimdienstquellen wie von einschlägigen Think Tanks.

[23] Karin Leukefeld, Unterwegs zum Kalifat. In: Neues Deutschland vom 12. September 2014, S. 2.

[24] http://www.bz-berlin.de/welt/eu-laender-finanzieren-isis-durch-oelimport-2 [22-02-15].

[25] The Wall Street Journal, 16.09. 2014, zit. n. Napoleoni, a. a. O., S. 48.

[26] Die Welt, 18-02-15. http://www.welt.de/politik/ausland/article137574184/Terrormiliz-IS-soll-an-Organhandel-beteiligt-sein.html [21-02-15].

[27] http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/naher-osten/islamischer-staat-extremisten-handeln-mit-leichen-kurdischer-gefallener-13441928.html [21-02-15]. In diesem Artikel der FAZ wird die These vom Organhandel in Zweifel gezogen.

[28] Dieses scheußliche Video dient hier als Beleg. https://www.youtube.com/watch?v=tzEn5cP1SXg [21-02-15].

[29] Napoleoni, a. a. O.

[30] Abubakr war einer der ersten Gefährten des Propheten und zugleich sein Schwiegervater.

[31] Georges Corm, Pour une lecture profane des Conflits. Sur le „retour du religieux” dans les conflits contemporains du Moyen-Orient, Paris 2012.